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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Neue Novellen

genauer Kenntnis der Volkszustände und der Naturen, die dem Gebirge ent¬
stammen und mit ihm verwachsen sind. Doch zwischen dieser Kenntnis und
ihrer poetisch ergreifenden Verwertung liegt noch eine weite Kluft. Das zeigen
die Sammlungen Grenzerleut von Arthur Achleitner (Berlin, Verein für
deutsches Schrifttum, 1896) und Dorffrieden und Alpenwildnis, Ge¬
schichten aus den Tiroler Bergen von Julius Syrutschek (Dresden, Leipzig
und Wien, Ed. Piersons Verlag, 1897), die beide durch starke Effekte auszu¬
gleichen versuchen, was ihnen an eigentlich poetischer Kraft und tieferer Cha¬
rakteristik abgeht. Achleitners Band enthält nur zwei größere Erzählungen
"Ein treues Leut" und "Achterdrusch und Puchlmusik." Die erste, nicht
ohne einzelne gute und anschauliche Schilderungen, aber in der Erfindung und
Durchführung grell und roh, weist eigentlich nur eine lebensvolle, gewinnende
Gestalt auf, die der treuen Häuserin Lisi. In "Achterdrnsch und Puchlmusik"
werden verschollne Gebirgssitten aus dem Schmiededorf Ebbs vorgeführt, aber
die Erfindung ist eben so robust und das Kolorit eben so grell wie in der ersten
Novelle, wenn auch einzelne Situationen und Züge vortrefflich sind. Alles
in allem erscheint Achleitners Talent, obwohl der innern Entwicklung bedürftig,
wie sein Stil der Reinigung von häßlichen Anstriazismen, doch entschiedner
und mehr versprechend als das Syrutscheks. In "Dorffrieden und Alpen¬
wildnis" sind sieben Geschichten: "Am Ziel," "Das Elend-Weibl," "Der
Waldfeind," "Überwunden," "In der Forststras" und "Der Herrgottsprediger"
vereinigt, die meisten tragischer Natur; in mehr als einer ist der Selbstmord
der letzte Ausweg, eine unerträglich gewordne Leidens- oder Sündenbürde ab¬
zuwerfen. Die Übertragung des neuern Pessimismus in die Dorfgeschichte
fordert ja natürlich mancherlei trostlose Lebensläufe und schlimme Schicksale
zu Tage, trübt aber den Blick und die Empfänglichkeit der Dichter für die
gesunden Erscheinungen des bäuerlichen Lebens.

Daher ist der Schritt vom Lande in das Elend und die Qual der Städte
längst nicht mehr so groß, als er einem frühern Darstellergeschlecht erschien und
etwa Nosegger noch erscheinen mag. Unter den auf städtischem Hintergrund
spielenden Erzählungen fallen zunächst die Kartäusergeschichten, Novellen
und Skizzen von Otto Ernst (Hamburg, Konrad Kloß, 1896), dadurch
auf, daß in ihnen neben ein paar von gutem Humor erfüllten Skizzen,
wenigstens eine tragische Novelle von schlichter Wahrheit und fesselnder Dar¬
stellung enthalten ist. Diese Novelle "Anna Menzel," die Geschichte eines
einfachen Dienstmädchens, dem sich nach langer, liebeleerer Öde eines ganz
einförmigen Pflichtdaseins ein trügerischer Hoffnungsschimmer aufthut, und das
die plötzliche Verdunklung dieses Scheins nicht überleben kann, gehört mit zu
dem Besten, was die jüngste Novellistik hervorgebracht hat.

Nicht ohne Eigentümlichkeit und Stimmung sind die Drei Novellen des
Prinzen Emil von Schvnaich-Carvlath (Leipzig, G. I. Goeschensche Ver-


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genauer Kenntnis der Volkszustände und der Naturen, die dem Gebirge ent¬
stammen und mit ihm verwachsen sind. Doch zwischen dieser Kenntnis und
ihrer poetisch ergreifenden Verwertung liegt noch eine weite Kluft. Das zeigen
die Sammlungen Grenzerleut von Arthur Achleitner (Berlin, Verein für
deutsches Schrifttum, 1896) und Dorffrieden und Alpenwildnis, Ge¬
schichten aus den Tiroler Bergen von Julius Syrutschek (Dresden, Leipzig
und Wien, Ed. Piersons Verlag, 1897), die beide durch starke Effekte auszu¬
gleichen versuchen, was ihnen an eigentlich poetischer Kraft und tieferer Cha¬
rakteristik abgeht. Achleitners Band enthält nur zwei größere Erzählungen
„Ein treues Leut" und „Achterdrusch und Puchlmusik." Die erste, nicht
ohne einzelne gute und anschauliche Schilderungen, aber in der Erfindung und
Durchführung grell und roh, weist eigentlich nur eine lebensvolle, gewinnende
Gestalt auf, die der treuen Häuserin Lisi. In „Achterdrnsch und Puchlmusik"
werden verschollne Gebirgssitten aus dem Schmiededorf Ebbs vorgeführt, aber
die Erfindung ist eben so robust und das Kolorit eben so grell wie in der ersten
Novelle, wenn auch einzelne Situationen und Züge vortrefflich sind. Alles
in allem erscheint Achleitners Talent, obwohl der innern Entwicklung bedürftig,
wie sein Stil der Reinigung von häßlichen Anstriazismen, doch entschiedner
und mehr versprechend als das Syrutscheks. In „Dorffrieden und Alpen¬
wildnis" sind sieben Geschichten: „Am Ziel," „Das Elend-Weibl," „Der
Waldfeind," „Überwunden," „In der Forststras" und „Der Herrgottsprediger"
vereinigt, die meisten tragischer Natur; in mehr als einer ist der Selbstmord
der letzte Ausweg, eine unerträglich gewordne Leidens- oder Sündenbürde ab¬
zuwerfen. Die Übertragung des neuern Pessimismus in die Dorfgeschichte
fordert ja natürlich mancherlei trostlose Lebensläufe und schlimme Schicksale
zu Tage, trübt aber den Blick und die Empfänglichkeit der Dichter für die
gesunden Erscheinungen des bäuerlichen Lebens.

Daher ist der Schritt vom Lande in das Elend und die Qual der Städte
längst nicht mehr so groß, als er einem frühern Darstellergeschlecht erschien und
etwa Nosegger noch erscheinen mag. Unter den auf städtischem Hintergrund
spielenden Erzählungen fallen zunächst die Kartäusergeschichten, Novellen
und Skizzen von Otto Ernst (Hamburg, Konrad Kloß, 1896), dadurch
auf, daß in ihnen neben ein paar von gutem Humor erfüllten Skizzen,
wenigstens eine tragische Novelle von schlichter Wahrheit und fesselnder Dar¬
stellung enthalten ist. Diese Novelle „Anna Menzel," die Geschichte eines
einfachen Dienstmädchens, dem sich nach langer, liebeleerer Öde eines ganz
einförmigen Pflichtdaseins ein trügerischer Hoffnungsschimmer aufthut, und das
die plötzliche Verdunklung dieses Scheins nicht überleben kann, gehört mit zu
dem Besten, was die jüngste Novellistik hervorgebracht hat.

Nicht ohne Eigentümlichkeit und Stimmung sind die Drei Novellen des
Prinzen Emil von Schvnaich-Carvlath (Leipzig, G. I. Goeschensche Ver-


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[0595] Neue Novellen genauer Kenntnis der Volkszustände und der Naturen, die dem Gebirge ent¬ stammen und mit ihm verwachsen sind. Doch zwischen dieser Kenntnis und ihrer poetisch ergreifenden Verwertung liegt noch eine weite Kluft. Das zeigen die Sammlungen Grenzerleut von Arthur Achleitner (Berlin, Verein für deutsches Schrifttum, 1896) und Dorffrieden und Alpenwildnis, Ge¬ schichten aus den Tiroler Bergen von Julius Syrutschek (Dresden, Leipzig und Wien, Ed. Piersons Verlag, 1897), die beide durch starke Effekte auszu¬ gleichen versuchen, was ihnen an eigentlich poetischer Kraft und tieferer Cha¬ rakteristik abgeht. Achleitners Band enthält nur zwei größere Erzählungen „Ein treues Leut" und „Achterdrusch und Puchlmusik." Die erste, nicht ohne einzelne gute und anschauliche Schilderungen, aber in der Erfindung und Durchführung grell und roh, weist eigentlich nur eine lebensvolle, gewinnende Gestalt auf, die der treuen Häuserin Lisi. In „Achterdrnsch und Puchlmusik" werden verschollne Gebirgssitten aus dem Schmiededorf Ebbs vorgeführt, aber die Erfindung ist eben so robust und das Kolorit eben so grell wie in der ersten Novelle, wenn auch einzelne Situationen und Züge vortrefflich sind. Alles in allem erscheint Achleitners Talent, obwohl der innern Entwicklung bedürftig, wie sein Stil der Reinigung von häßlichen Anstriazismen, doch entschiedner und mehr versprechend als das Syrutscheks. In „Dorffrieden und Alpen¬ wildnis" sind sieben Geschichten: „Am Ziel," „Das Elend-Weibl," „Der Waldfeind," „Überwunden," „In der Forststras" und „Der Herrgottsprediger" vereinigt, die meisten tragischer Natur; in mehr als einer ist der Selbstmord der letzte Ausweg, eine unerträglich gewordne Leidens- oder Sündenbürde ab¬ zuwerfen. Die Übertragung des neuern Pessimismus in die Dorfgeschichte fordert ja natürlich mancherlei trostlose Lebensläufe und schlimme Schicksale zu Tage, trübt aber den Blick und die Empfänglichkeit der Dichter für die gesunden Erscheinungen des bäuerlichen Lebens. Daher ist der Schritt vom Lande in das Elend und die Qual der Städte längst nicht mehr so groß, als er einem frühern Darstellergeschlecht erschien und etwa Nosegger noch erscheinen mag. Unter den auf städtischem Hintergrund spielenden Erzählungen fallen zunächst die Kartäusergeschichten, Novellen und Skizzen von Otto Ernst (Hamburg, Konrad Kloß, 1896), dadurch auf, daß in ihnen neben ein paar von gutem Humor erfüllten Skizzen, wenigstens eine tragische Novelle von schlichter Wahrheit und fesselnder Dar¬ stellung enthalten ist. Diese Novelle „Anna Menzel," die Geschichte eines einfachen Dienstmädchens, dem sich nach langer, liebeleerer Öde eines ganz einförmigen Pflichtdaseins ein trügerischer Hoffnungsschimmer aufthut, und das die plötzliche Verdunklung dieses Scheins nicht überleben kann, gehört mit zu dem Besten, was die jüngste Novellistik hervorgebracht hat. Nicht ohne Eigentümlichkeit und Stimmung sind die Drei Novellen des Prinzen Emil von Schvnaich-Carvlath (Leipzig, G. I. Goeschensche Ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/595>, abgerufen am 29.09.2024.