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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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zählt einfach die Legende von Johann Gualbert, dem Stifter von Vallombrosa,
wie sie im Brevier steht, Davidsohn weist nach, daß die Fabel von der wunder¬
baren Bekehrung des Jünglings aus Deutschland stammt und von begeisterten
Verehrern Johanns auf diesen übertragen worden ist, teilt eine von Fabeln
freie, bisher ungedruckte Vit.g. des Heiligen mit und macht den bedeutenden
Einfluß klar, den Gualbert auf seine Vaterstadt ausgeübt hat.

Cnpponi ist, wie später Perreus, von Thiers angeregt worden, der zu
sagen pflegte, da die moderne Entwicklung mehr und mehr der Demokratie
zuneige, so sei es notwendig, die Geschichte des am meisten demokratischen Ge¬
meinwesens zu studiren.^) Seit Thiers hat sich ans dem politischen wie auf
dem historischen und dem naturwissenschaftlichen Gebiete eine starke Reaktion
gegen die demokratische Strömung erhoben, und es ist ein heftiger Streit
darüber entstanden, ob die Weltgeschichte von den Völkern oder von den großen
Männern gemacht werde. Der Einsichtige muß nun zwar diese Fragestellung
für unsinnig erklären, hält es aber allerdings für eine der wichtigsten Aufgaben
der Geschichtschreibung, zu ermitteln, welcher Anteil den Massen, und welcher
den Führern an den geistigen und politischen Bewegungen, an der gesamten
Entwicklung gebührt, und wie beide gegenseitig von einander abhängen, und
für diesen Zweck sind ohne Zweifel vor allem die kleinen Gemeinwesen ins
Auge zu fassen, in und von denen die höhere Kultur geschaffen worden ist.
Unsre heutige Zeit verfährt exakt und behandelt den Menschen zunächst als
einen Gegenstand der Naturwissenschaften; sie erklärt jeden Einzelnen als das
Produkt seiner Vorfahren und seines "Milieu." Und es läßt sich nicht be¬
streikn, daß sich uns diesem Wege vieles erklären läßt, wofern man nur immer
festhält, daß all unser Erklären weiter nichts ist als ein Aufdecken von Ab¬
schnitten einzelner Kausalreihen, deren Anfänge uns ebenso verborgen bleiben
wie ihre Enden. Die Eltern, die ihrerseits das Produkt von zwei Eltern-
pnaren sind usw., liefern dem Kinde einen gewissen Knochenbau: "die Statur,"
wie es Goethe in der scherzhaften Wegerklärnng seiner Originalität nennt, eine
gewisse Beimischung, eine gewisse Größe und Form des Gehirns, was alles
das Temperament des neuen Wesens ausmacht und es zu gewissen Leistungen




-'-) Er habe seinem Feinde, der sich am Karfreitag mit wafferecht nilsgestreckten Armen,
also in Kreuzesform, vor ihm zur Erde geworfen, verziehen, und als er dann die Kirche be¬
treten habe, habe das Bild des Gekreuzigte" vor ihm grüßend das Haupt geneigt.
"-) Thiers erregte gleich bei seinein ersten Hervortreten den heftigsten Abscheu der feinen,
durch und durch aristokratischen Frau Emile Girard in (Delphine Gau); sie beschreibt ihn als
um polie Iwmmo mal n6, mal tun, um,.l ot in^I 6Isvü, Die Wichtigkeit der Geschichte von
Florenz hatte schon Gibbon bemerkt; er schwankte jahrelang, ob er die Geschichte dieser Republik
(allerdings nur in der Mediceerzeit) oder der schweizerischen schreiben solle; ein Schweizer Freund
gab für diese den Ausschlag. Das Manuskript wurde ungünstig beurteilt und deshalb vom Ver¬
fasser den Flammen übergeben.
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zählt einfach die Legende von Johann Gualbert, dem Stifter von Vallombrosa,
wie sie im Brevier steht, Davidsohn weist nach, daß die Fabel von der wunder¬
baren Bekehrung des Jünglings aus Deutschland stammt und von begeisterten
Verehrern Johanns auf diesen übertragen worden ist, teilt eine von Fabeln
freie, bisher ungedruckte Vit.g. des Heiligen mit und macht den bedeutenden
Einfluß klar, den Gualbert auf seine Vaterstadt ausgeübt hat.

Cnpponi ist, wie später Perreus, von Thiers angeregt worden, der zu
sagen pflegte, da die moderne Entwicklung mehr und mehr der Demokratie
zuneige, so sei es notwendig, die Geschichte des am meisten demokratischen Ge¬
meinwesens zu studiren.^) Seit Thiers hat sich ans dem politischen wie auf
dem historischen und dem naturwissenschaftlichen Gebiete eine starke Reaktion
gegen die demokratische Strömung erhoben, und es ist ein heftiger Streit
darüber entstanden, ob die Weltgeschichte von den Völkern oder von den großen
Männern gemacht werde. Der Einsichtige muß nun zwar diese Fragestellung
für unsinnig erklären, hält es aber allerdings für eine der wichtigsten Aufgaben
der Geschichtschreibung, zu ermitteln, welcher Anteil den Massen, und welcher
den Führern an den geistigen und politischen Bewegungen, an der gesamten
Entwicklung gebührt, und wie beide gegenseitig von einander abhängen, und
für diesen Zweck sind ohne Zweifel vor allem die kleinen Gemeinwesen ins
Auge zu fassen, in und von denen die höhere Kultur geschaffen worden ist.
Unsre heutige Zeit verfährt exakt und behandelt den Menschen zunächst als
einen Gegenstand der Naturwissenschaften; sie erklärt jeden Einzelnen als das
Produkt seiner Vorfahren und seines „Milieu." Und es läßt sich nicht be¬
streikn, daß sich uns diesem Wege vieles erklären läßt, wofern man nur immer
festhält, daß all unser Erklären weiter nichts ist als ein Aufdecken von Ab¬
schnitten einzelner Kausalreihen, deren Anfänge uns ebenso verborgen bleiben
wie ihre Enden. Die Eltern, die ihrerseits das Produkt von zwei Eltern-
pnaren sind usw., liefern dem Kinde einen gewissen Knochenbau: „die Statur,"
wie es Goethe in der scherzhaften Wegerklärnng seiner Originalität nennt, eine
gewisse Beimischung, eine gewisse Größe und Form des Gehirns, was alles
das Temperament des neuen Wesens ausmacht und es zu gewissen Leistungen




-'-) Er habe seinem Feinde, der sich am Karfreitag mit wafferecht nilsgestreckten Armen,
also in Kreuzesform, vor ihm zur Erde geworfen, verziehen, und als er dann die Kirche be¬
treten habe, habe das Bild des Gekreuzigte» vor ihm grüßend das Haupt geneigt.
«-) Thiers erregte gleich bei seinein ersten Hervortreten den heftigsten Abscheu der feinen,
durch und durch aristokratischen Frau Emile Girard in (Delphine Gau); sie beschreibt ihn als
um polie Iwmmo mal n6, mal tun, um,.l ot in^I 6Isvü, Die Wichtigkeit der Geschichte von
Florenz hatte schon Gibbon bemerkt; er schwankte jahrelang, ob er die Geschichte dieser Republik
(allerdings nur in der Mediceerzeit) oder der schweizerischen schreiben solle; ein Schweizer Freund
gab für diese den Ausschlag. Das Manuskript wurde ungünstig beurteilt und deshalb vom Ver¬
fasser den Flammen übergeben.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/585>, abgerufen am 29.09.2024.