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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Griechenland und die Großmächte

sie es für ihrer unwürdig erklärte, noch weiter in Athen zu verhandeln, daß
sie als Vorbedingung für jede neue Ordnung der Dinge auf Kreta die Wieder¬
herstellung des verletzten Rechtszustandes durch Zurückziehung der griechischen
Truppen und Schiffe verlangte, beiläufig, ohne die Mittel zu haben, damit
auch nur bei den andern Großmächten durchzudringen? War uns irgend
welche Ordnung auf Kreta wirklich so viel wert, um alles zu zerstören, was
an deutschen Sympathien in der griechischen Welt vorhanden war, und unser
Ansehen zu riskiren? Schon jetzt beginnen auch unsre Geschäftsleute die
Folgen einer so temperamentvollen Politik empfindlich zu fühlen.

Und wozu hat denn nun all dies Drohen und Höhnen geholfen, was
haben selbst die Geschütze und Matrosen der europäischen Flotten ausgerichtet?
Sie haben einige kretische Küstenstüdte besetzt, das ist alles; im Innern geht der
mörderische Bürgerkrieg fort. Von den Voraussetzungen unsrer scharfsichtigen
Diplomatie ist nicht eine zugetroffen. Die Kreter haben sich bis jetzt der ihnen
angebotenen Autonomie nicht unterworfen, sie wollen die Vereinigung mit dem
Königreich Griechenland; dies selbst hat das Ultimatum der Großmächte rund¬
weg abgelehnt und ruft unter Waffen, was es aufbieten kann. Wir stehen
also vermutlich an der Schwelle eines griechisch-türkischen Krieges. Dazu hat
es die grvßmächtliche Einmischung im Namen des "Weltfriedens" gebracht,
denn erst sie hat die Griechen zum äußersten getrieben.

Was soll denn nun geschehen? Es ist von einer Einschließung Kretas
die Rede, um durch Aushungerung die Unterwerfung zu erzwingen. Eine sonder¬
bare Politik, die den Kretern eine Freiheit, die sie schlechterdings nicht wollen,
durch das sanfte Mittel der Hungersnot aufzwingen will! Welche Summe
von Elend und Erbitterung, selbst wenn der Plan gelänge! Und ob er ge¬
lingt? Man hat schon berechnet, daß die bloße Einschließung der großen
Insel von zweihundertsechzig Kilometer Länge etwa vierzig Kriegsschiffe er¬
fordern würde (was bei einer Küstenlinie von mindestens sechshundert Kilo¬
metern Gesamtlänge auf fünfzehn Kilometer ein Schiff ergeben würde), und ob
diese Blockade wirksam sein wird, ja ob sich überhaupt eine völlige Absperrung
einer so buchtenreichen Küste kühnen Seeleuten gegenüber wird durchführen
lassen, das ist nach frühern Erfahrungen mindestens sehr zweifelhaft. Ge¬
waltige Kosten, die mit dem zu erreichenden Zwecke in gar keinem Verhältnis
stehen, wird die Maßregel den beteiligten Mächten jedenfalls verursachen. An
eine Unterwerfung der Insel mit Waffengewalt aber ist bei ihrem Hochgebirgs-
charakter und bei der zähen Ausdauer, die dies "verkommne" Volk den Türken
gegenüber stets bewiesen hat, gar nicht zu denken; sie würde eine ganze große
Armee und ungeheure Opfer an Menschen erfordern, die keine Großmacht
bringen wird und bringen kann, außer für ihre eignen Interessen. Ist die
Blockade Kretas schon schwierig, so wird die Blockade Griechenlands noch viel
schwieriger sein. Und ob sie etwas helfen wird? Ob sie auch nur den Aus-


Griechenland und die Großmächte

sie es für ihrer unwürdig erklärte, noch weiter in Athen zu verhandeln, daß
sie als Vorbedingung für jede neue Ordnung der Dinge auf Kreta die Wieder¬
herstellung des verletzten Rechtszustandes durch Zurückziehung der griechischen
Truppen und Schiffe verlangte, beiläufig, ohne die Mittel zu haben, damit
auch nur bei den andern Großmächten durchzudringen? War uns irgend
welche Ordnung auf Kreta wirklich so viel wert, um alles zu zerstören, was
an deutschen Sympathien in der griechischen Welt vorhanden war, und unser
Ansehen zu riskiren? Schon jetzt beginnen auch unsre Geschäftsleute die
Folgen einer so temperamentvollen Politik empfindlich zu fühlen.

Und wozu hat denn nun all dies Drohen und Höhnen geholfen, was
haben selbst die Geschütze und Matrosen der europäischen Flotten ausgerichtet?
Sie haben einige kretische Küstenstüdte besetzt, das ist alles; im Innern geht der
mörderische Bürgerkrieg fort. Von den Voraussetzungen unsrer scharfsichtigen
Diplomatie ist nicht eine zugetroffen. Die Kreter haben sich bis jetzt der ihnen
angebotenen Autonomie nicht unterworfen, sie wollen die Vereinigung mit dem
Königreich Griechenland; dies selbst hat das Ultimatum der Großmächte rund¬
weg abgelehnt und ruft unter Waffen, was es aufbieten kann. Wir stehen
also vermutlich an der Schwelle eines griechisch-türkischen Krieges. Dazu hat
es die grvßmächtliche Einmischung im Namen des „Weltfriedens" gebracht,
denn erst sie hat die Griechen zum äußersten getrieben.

Was soll denn nun geschehen? Es ist von einer Einschließung Kretas
die Rede, um durch Aushungerung die Unterwerfung zu erzwingen. Eine sonder¬
bare Politik, die den Kretern eine Freiheit, die sie schlechterdings nicht wollen,
durch das sanfte Mittel der Hungersnot aufzwingen will! Welche Summe
von Elend und Erbitterung, selbst wenn der Plan gelänge! Und ob er ge¬
lingt? Man hat schon berechnet, daß die bloße Einschließung der großen
Insel von zweihundertsechzig Kilometer Länge etwa vierzig Kriegsschiffe er¬
fordern würde (was bei einer Küstenlinie von mindestens sechshundert Kilo¬
metern Gesamtlänge auf fünfzehn Kilometer ein Schiff ergeben würde), und ob
diese Blockade wirksam sein wird, ja ob sich überhaupt eine völlige Absperrung
einer so buchtenreichen Küste kühnen Seeleuten gegenüber wird durchführen
lassen, das ist nach frühern Erfahrungen mindestens sehr zweifelhaft. Ge¬
waltige Kosten, die mit dem zu erreichenden Zwecke in gar keinem Verhältnis
stehen, wird die Maßregel den beteiligten Mächten jedenfalls verursachen. An
eine Unterwerfung der Insel mit Waffengewalt aber ist bei ihrem Hochgebirgs-
charakter und bei der zähen Ausdauer, die dies „verkommne" Volk den Türken
gegenüber stets bewiesen hat, gar nicht zu denken; sie würde eine ganze große
Armee und ungeheure Opfer an Menschen erfordern, die keine Großmacht
bringen wird und bringen kann, außer für ihre eignen Interessen. Ist die
Blockade Kretas schon schwierig, so wird die Blockade Griechenlands noch viel
schwieriger sein. Und ob sie etwas helfen wird? Ob sie auch nur den Aus-


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[0552] Griechenland und die Großmächte sie es für ihrer unwürdig erklärte, noch weiter in Athen zu verhandeln, daß sie als Vorbedingung für jede neue Ordnung der Dinge auf Kreta die Wieder¬ herstellung des verletzten Rechtszustandes durch Zurückziehung der griechischen Truppen und Schiffe verlangte, beiläufig, ohne die Mittel zu haben, damit auch nur bei den andern Großmächten durchzudringen? War uns irgend welche Ordnung auf Kreta wirklich so viel wert, um alles zu zerstören, was an deutschen Sympathien in der griechischen Welt vorhanden war, und unser Ansehen zu riskiren? Schon jetzt beginnen auch unsre Geschäftsleute die Folgen einer so temperamentvollen Politik empfindlich zu fühlen. Und wozu hat denn nun all dies Drohen und Höhnen geholfen, was haben selbst die Geschütze und Matrosen der europäischen Flotten ausgerichtet? Sie haben einige kretische Küstenstüdte besetzt, das ist alles; im Innern geht der mörderische Bürgerkrieg fort. Von den Voraussetzungen unsrer scharfsichtigen Diplomatie ist nicht eine zugetroffen. Die Kreter haben sich bis jetzt der ihnen angebotenen Autonomie nicht unterworfen, sie wollen die Vereinigung mit dem Königreich Griechenland; dies selbst hat das Ultimatum der Großmächte rund¬ weg abgelehnt und ruft unter Waffen, was es aufbieten kann. Wir stehen also vermutlich an der Schwelle eines griechisch-türkischen Krieges. Dazu hat es die grvßmächtliche Einmischung im Namen des „Weltfriedens" gebracht, denn erst sie hat die Griechen zum äußersten getrieben. Was soll denn nun geschehen? Es ist von einer Einschließung Kretas die Rede, um durch Aushungerung die Unterwerfung zu erzwingen. Eine sonder¬ bare Politik, die den Kretern eine Freiheit, die sie schlechterdings nicht wollen, durch das sanfte Mittel der Hungersnot aufzwingen will! Welche Summe von Elend und Erbitterung, selbst wenn der Plan gelänge! Und ob er ge¬ lingt? Man hat schon berechnet, daß die bloße Einschließung der großen Insel von zweihundertsechzig Kilometer Länge etwa vierzig Kriegsschiffe er¬ fordern würde (was bei einer Küstenlinie von mindestens sechshundert Kilo¬ metern Gesamtlänge auf fünfzehn Kilometer ein Schiff ergeben würde), und ob diese Blockade wirksam sein wird, ja ob sich überhaupt eine völlige Absperrung einer so buchtenreichen Küste kühnen Seeleuten gegenüber wird durchführen lassen, das ist nach frühern Erfahrungen mindestens sehr zweifelhaft. Ge¬ waltige Kosten, die mit dem zu erreichenden Zwecke in gar keinem Verhältnis stehen, wird die Maßregel den beteiligten Mächten jedenfalls verursachen. An eine Unterwerfung der Insel mit Waffengewalt aber ist bei ihrem Hochgebirgs- charakter und bei der zähen Ausdauer, die dies „verkommne" Volk den Türken gegenüber stets bewiesen hat, gar nicht zu denken; sie würde eine ganze große Armee und ungeheure Opfer an Menschen erfordern, die keine Großmacht bringen wird und bringen kann, außer für ihre eignen Interessen. Ist die Blockade Kretas schon schwierig, so wird die Blockade Griechenlands noch viel schwieriger sein. Und ob sie etwas helfen wird? Ob sie auch nur den Aus-

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

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Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/552>, abgerufen am 27.09.2024.