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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Gottfried Keller und seine Novellen

hätten, sie sähen jetzt schon aus wie andre Leute, es ereigne sich nichts mehr
unter ihnen, was der beschaulichen Aufzeichnung würdig wäre. Es sei daher
an der Zeit, in ihrer Vergangenheit und den guten lustigen Tagen der Stadt
noch eine kleine Nachernte zu halten.

Seine eigentlichen Absichten hatte die Vorrede zum ersten Bande enthüllt,
wohl weil er wünschte, daß der Leser gleich von vornherein in das richtige
Verständnis der Geschichten geführt würde. Es spricht sich hier ein lehrhafter
Zug aus, der Keller eigen war. Er dachte sich seine Seldwyler arm und
dabei zu einem gemütlichen, nichtsthuerischen Leben geneigt. Namentlich die
Jüngern von zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren, die den Ton angaben, ließen
andre für sich arbeiten, genossen das Leben und benutzten ihre Profession zur
Betreibung eines trefflichen Schuldenverkehrs. Sowie einer die Grenze der
genannten blühenden Jahre erreicht, wo die Männer andrer Städte anfangen,
in sich zu gehen und zu erstarken, ist er in Seldwyla fertig. Er geht entweder
in die Fremde oder lernt so nebenher allerlei thun, womit er sich und den
Seinen das Leben fristen kann. Dabei sind sie alle eifrige Politiker und Kanne¬
gießer, immer Oppositionslente, daher mit wechselnder politischer Gesinnung
und Farbe usw. So schildert Keller das "Milieu" seiner Geschichten. Merk¬
würdigerweise sügt er dann am Schlüsse hinzu: "Doch nicht solche Geschichten,
wie sie in dem beschriebnen Charakter von Seldwyla liegen, will ich eigentlich
in diesem Büchlein erzählen, sondern einige wunderbare Abfällsel, die so zwischen¬
durch passirten, gewissermaßen ausnahmsweise, und doch auch gerade nur zu
Seldwyla vor sich gehen konnten." In viele dieser Geschichten sind eigne,
persönliche Erlebnisse des Dichters verwebt, wie in "Pankraz" und "Frau
Negel," in vielen schildert er Personen und Verhältnisse, die er leibhaftig vor
sich gesehen hatte, einige gingen in ihrem wesentlich Verlauf auf wirkliche Vor¬
gänge zurück.

Ähnlich ist es in den Züricher Novellen. Auch da schildert er Verhält¬
nisse und Personen, die mit seiner Vaterstadt zusammenhängen. Aber er be¬
giebt sich in die geschichtliche Vergangenheit. "Hier wird überall nicht poli-
tisire, sagt er in einem Briefe, sondern nur fabulirt und kvmödirt. Es sind
Sachen aus dem dreizehnten, vierzehnten und achtzehnten Jahrhundert, wie die
Entstehung des sogenannten Manessischen Kodex oder der Pariser Handschrift
des Minnesanges (im Hadlaub), die Zerstörung der Burg Mancgg am Albis,
ein Jahrhundert später, die von einem Verrückten bewohnt war, durch lustige
junge Züricher. Der Landvogt ist ein origineller Züricher Landolt aus dem
vorigen Jahrhundert, der als Junggeselle gestorben ist" usw.*) Auch diese
Erzählungen faßte er in einen Rahmen. Er führt uns durch eine Einleitung
ins Jahr 1830 uach Zürich, wo ein älterer vornehmer Mann seinem Paten,



*) Brief an Exner vom 27. August 187V.
Gottfried Keller und seine Novellen

hätten, sie sähen jetzt schon aus wie andre Leute, es ereigne sich nichts mehr
unter ihnen, was der beschaulichen Aufzeichnung würdig wäre. Es sei daher
an der Zeit, in ihrer Vergangenheit und den guten lustigen Tagen der Stadt
noch eine kleine Nachernte zu halten.

Seine eigentlichen Absichten hatte die Vorrede zum ersten Bande enthüllt,
wohl weil er wünschte, daß der Leser gleich von vornherein in das richtige
Verständnis der Geschichten geführt würde. Es spricht sich hier ein lehrhafter
Zug aus, der Keller eigen war. Er dachte sich seine Seldwyler arm und
dabei zu einem gemütlichen, nichtsthuerischen Leben geneigt. Namentlich die
Jüngern von zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren, die den Ton angaben, ließen
andre für sich arbeiten, genossen das Leben und benutzten ihre Profession zur
Betreibung eines trefflichen Schuldenverkehrs. Sowie einer die Grenze der
genannten blühenden Jahre erreicht, wo die Männer andrer Städte anfangen,
in sich zu gehen und zu erstarken, ist er in Seldwyla fertig. Er geht entweder
in die Fremde oder lernt so nebenher allerlei thun, womit er sich und den
Seinen das Leben fristen kann. Dabei sind sie alle eifrige Politiker und Kanne¬
gießer, immer Oppositionslente, daher mit wechselnder politischer Gesinnung
und Farbe usw. So schildert Keller das „Milieu" seiner Geschichten. Merk¬
würdigerweise sügt er dann am Schlüsse hinzu: „Doch nicht solche Geschichten,
wie sie in dem beschriebnen Charakter von Seldwyla liegen, will ich eigentlich
in diesem Büchlein erzählen, sondern einige wunderbare Abfällsel, die so zwischen¬
durch passirten, gewissermaßen ausnahmsweise, und doch auch gerade nur zu
Seldwyla vor sich gehen konnten." In viele dieser Geschichten sind eigne,
persönliche Erlebnisse des Dichters verwebt, wie in „Pankraz" und „Frau
Negel," in vielen schildert er Personen und Verhältnisse, die er leibhaftig vor
sich gesehen hatte, einige gingen in ihrem wesentlich Verlauf auf wirkliche Vor¬
gänge zurück.

Ähnlich ist es in den Züricher Novellen. Auch da schildert er Verhält¬
nisse und Personen, die mit seiner Vaterstadt zusammenhängen. Aber er be¬
giebt sich in die geschichtliche Vergangenheit. „Hier wird überall nicht poli-
tisire, sagt er in einem Briefe, sondern nur fabulirt und kvmödirt. Es sind
Sachen aus dem dreizehnten, vierzehnten und achtzehnten Jahrhundert, wie die
Entstehung des sogenannten Manessischen Kodex oder der Pariser Handschrift
des Minnesanges (im Hadlaub), die Zerstörung der Burg Mancgg am Albis,
ein Jahrhundert später, die von einem Verrückten bewohnt war, durch lustige
junge Züricher. Der Landvogt ist ein origineller Züricher Landolt aus dem
vorigen Jahrhundert, der als Junggeselle gestorben ist" usw.*) Auch diese
Erzählungen faßte er in einen Rahmen. Er führt uns durch eine Einleitung
ins Jahr 1830 uach Zürich, wo ein älterer vornehmer Mann seinem Paten,



*) Brief an Exner vom 27. August 187V.
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[0542] Gottfried Keller und seine Novellen hätten, sie sähen jetzt schon aus wie andre Leute, es ereigne sich nichts mehr unter ihnen, was der beschaulichen Aufzeichnung würdig wäre. Es sei daher an der Zeit, in ihrer Vergangenheit und den guten lustigen Tagen der Stadt noch eine kleine Nachernte zu halten. Seine eigentlichen Absichten hatte die Vorrede zum ersten Bande enthüllt, wohl weil er wünschte, daß der Leser gleich von vornherein in das richtige Verständnis der Geschichten geführt würde. Es spricht sich hier ein lehrhafter Zug aus, der Keller eigen war. Er dachte sich seine Seldwyler arm und dabei zu einem gemütlichen, nichtsthuerischen Leben geneigt. Namentlich die Jüngern von zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren, die den Ton angaben, ließen andre für sich arbeiten, genossen das Leben und benutzten ihre Profession zur Betreibung eines trefflichen Schuldenverkehrs. Sowie einer die Grenze der genannten blühenden Jahre erreicht, wo die Männer andrer Städte anfangen, in sich zu gehen und zu erstarken, ist er in Seldwyla fertig. Er geht entweder in die Fremde oder lernt so nebenher allerlei thun, womit er sich und den Seinen das Leben fristen kann. Dabei sind sie alle eifrige Politiker und Kanne¬ gießer, immer Oppositionslente, daher mit wechselnder politischer Gesinnung und Farbe usw. So schildert Keller das „Milieu" seiner Geschichten. Merk¬ würdigerweise sügt er dann am Schlüsse hinzu: „Doch nicht solche Geschichten, wie sie in dem beschriebnen Charakter von Seldwyla liegen, will ich eigentlich in diesem Büchlein erzählen, sondern einige wunderbare Abfällsel, die so zwischen¬ durch passirten, gewissermaßen ausnahmsweise, und doch auch gerade nur zu Seldwyla vor sich gehen konnten." In viele dieser Geschichten sind eigne, persönliche Erlebnisse des Dichters verwebt, wie in „Pankraz" und „Frau Negel," in vielen schildert er Personen und Verhältnisse, die er leibhaftig vor sich gesehen hatte, einige gingen in ihrem wesentlich Verlauf auf wirkliche Vor¬ gänge zurück. Ähnlich ist es in den Züricher Novellen. Auch da schildert er Verhält¬ nisse und Personen, die mit seiner Vaterstadt zusammenhängen. Aber er be¬ giebt sich in die geschichtliche Vergangenheit. „Hier wird überall nicht poli- tisire, sagt er in einem Briefe, sondern nur fabulirt und kvmödirt. Es sind Sachen aus dem dreizehnten, vierzehnten und achtzehnten Jahrhundert, wie die Entstehung des sogenannten Manessischen Kodex oder der Pariser Handschrift des Minnesanges (im Hadlaub), die Zerstörung der Burg Mancgg am Albis, ein Jahrhundert später, die von einem Verrückten bewohnt war, durch lustige junge Züricher. Der Landvogt ist ein origineller Züricher Landolt aus dem vorigen Jahrhundert, der als Junggeselle gestorben ist" usw.*) Auch diese Erzählungen faßte er in einen Rahmen. Er führt uns durch eine Einleitung ins Jahr 1830 uach Zürich, wo ein älterer vornehmer Mann seinem Paten, *) Brief an Exner vom 27. August 187V.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/542>, abgerufen am 29.09.2024.