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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Gottfried Keller und seine Novellen

starken Bande. Aber sie fanden langsamer Verbreitung und Anerkennung als
seine Novellen.

Und mit Recht. Denn in der kleinen Erzählung liegt ohne Zweifel Kellers
Stärke. Was zunächst die äußere Geschichte betrifft, so gehen die "Leute von
Seldwyla" teilweise auf die erste Zeit seines dichterischen Schaffens zurück,
wie denn einige Geschichten geradezu auf Jugenderinnerungen beruhen. 1856
erschien der erste Band mit fünf Erzählungen: Pankraz der Schmoller, Romeo
und Julia auf dem Dorfe, Frau Regel Amrain und ihr Jüngster, Die drei
gerechten Kammacher, und Spiegel das Kätzchen, ein Märchen. Weitere fünf,
die jetzt im zweiten Bande vereinigt sind, nämlich Kleider machen Leute, Der
Schmied seines Glückes, Die mißbrauchten Liebesbriefe, Dietegen und Das
Verlorne Lachen, folgten erst nach achtzehn Jahren, 1874. 1894 erschien davon
in den Gesammelten Werken die vierzehnte Auflage. Dieselbe Zahl von Auf¬
lagen erreichten auch die unter dem Titel "Züricher Novellen" vereinigten fünf
Erzählungen: Hadlaub, Der Narr auf Manegg, Der Landvogt von Greifensee,
Das Fähnlein der sieben Aufrechten, und Ursula. Die ersten drei erschienen
zuerst im Winter 1876 auf 1877 in der Deutschen Rundschau, die Buchaus¬
gabe folgte 1877. Die "Sieben Legenden" endlich, schon in den fünfziger
Jahren in Berlin entworfen, kamen Ostern 1872 als Büchlein heraus, während
das "Sinngedicht," dessen Idee und Entwurf auch schon von 1851 stammt,
1881 zuerst in der Deutschen Rundschau gedruckt wurde und in demselben Jahr
noch drei Auflagen als Buch erlebte.

In vier Gruppen also treten uns die Erzählungen entgegen. Nicht bloß
ein äußeres Band umschließt jede Gruppe, sondern nach dem Vorbilde Goethes
und älterer Erzähler suchte Keller auch ein geistiges Band, eine Idee, unter
der sie sich zu einer höhern Einheit zusammenschlossen. Am vollkommensten
ist das wohl in den Seldwhler Geschichten gelungen. Der Gedanke an sich ist
freilich ebenfalls nicht originell, sondern hat in den alten Erzählungen von
den Schildbürgern seine Vorläufer. Das Städtchen Seldwyla, dessen Be¬
wohner Keller schildert, ist ein solches Nirgendwo und Überall, daß man alles,
was an belustigender kleinbürgerlicher Einfalt je geschehen ist, dahin verlegen
kann. Aber Keller ist nicht so wahllos verfahren, sondern er hat alles unter
einen höhern Gesichtspunkt, einen bestimmten, diesem Bürgertum anhaftenden
gemeinsamen Charakterzug gestellt. Und doch war dieser auch wieder so all¬
gemein, daß er sagen konnte, es rage in jeder Stadt und in jedem Thal der
Schweiz ein Türmchen von Seldwyla. Freilich war es nicht eigentlich eine
Satire auf Zustände der Gegenwart, so oft sich auch solche menschliche Vor¬
gänge zu wiederholen pflegen. Keller hatte wirklich oder wenigstens vorgeblich
vergangne Zeiten im Auge. Denn als er den fast zwanzig Jahre später er¬
scheinenden zweiten Band der Seldwyler Geschichten mit einer Einleitung ver¬
sah, gab er an, daß sich seine Schildbürger seitdem nicht unwesentlich verändert


Gottfried Keller und seine Novellen

starken Bande. Aber sie fanden langsamer Verbreitung und Anerkennung als
seine Novellen.

Und mit Recht. Denn in der kleinen Erzählung liegt ohne Zweifel Kellers
Stärke. Was zunächst die äußere Geschichte betrifft, so gehen die „Leute von
Seldwyla" teilweise auf die erste Zeit seines dichterischen Schaffens zurück,
wie denn einige Geschichten geradezu auf Jugenderinnerungen beruhen. 1856
erschien der erste Band mit fünf Erzählungen: Pankraz der Schmoller, Romeo
und Julia auf dem Dorfe, Frau Regel Amrain und ihr Jüngster, Die drei
gerechten Kammacher, und Spiegel das Kätzchen, ein Märchen. Weitere fünf,
die jetzt im zweiten Bande vereinigt sind, nämlich Kleider machen Leute, Der
Schmied seines Glückes, Die mißbrauchten Liebesbriefe, Dietegen und Das
Verlorne Lachen, folgten erst nach achtzehn Jahren, 1874. 1894 erschien davon
in den Gesammelten Werken die vierzehnte Auflage. Dieselbe Zahl von Auf¬
lagen erreichten auch die unter dem Titel „Züricher Novellen" vereinigten fünf
Erzählungen: Hadlaub, Der Narr auf Manegg, Der Landvogt von Greifensee,
Das Fähnlein der sieben Aufrechten, und Ursula. Die ersten drei erschienen
zuerst im Winter 1876 auf 1877 in der Deutschen Rundschau, die Buchaus¬
gabe folgte 1877. Die „Sieben Legenden" endlich, schon in den fünfziger
Jahren in Berlin entworfen, kamen Ostern 1872 als Büchlein heraus, während
das „Sinngedicht," dessen Idee und Entwurf auch schon von 1851 stammt,
1881 zuerst in der Deutschen Rundschau gedruckt wurde und in demselben Jahr
noch drei Auflagen als Buch erlebte.

In vier Gruppen also treten uns die Erzählungen entgegen. Nicht bloß
ein äußeres Band umschließt jede Gruppe, sondern nach dem Vorbilde Goethes
und älterer Erzähler suchte Keller auch ein geistiges Band, eine Idee, unter
der sie sich zu einer höhern Einheit zusammenschlossen. Am vollkommensten
ist das wohl in den Seldwhler Geschichten gelungen. Der Gedanke an sich ist
freilich ebenfalls nicht originell, sondern hat in den alten Erzählungen von
den Schildbürgern seine Vorläufer. Das Städtchen Seldwyla, dessen Be¬
wohner Keller schildert, ist ein solches Nirgendwo und Überall, daß man alles,
was an belustigender kleinbürgerlicher Einfalt je geschehen ist, dahin verlegen
kann. Aber Keller ist nicht so wahllos verfahren, sondern er hat alles unter
einen höhern Gesichtspunkt, einen bestimmten, diesem Bürgertum anhaftenden
gemeinsamen Charakterzug gestellt. Und doch war dieser auch wieder so all¬
gemein, daß er sagen konnte, es rage in jeder Stadt und in jedem Thal der
Schweiz ein Türmchen von Seldwyla. Freilich war es nicht eigentlich eine
Satire auf Zustände der Gegenwart, so oft sich auch solche menschliche Vor¬
gänge zu wiederholen pflegen. Keller hatte wirklich oder wenigstens vorgeblich
vergangne Zeiten im Auge. Denn als er den fast zwanzig Jahre später er¬
scheinenden zweiten Band der Seldwyler Geschichten mit einer Einleitung ver¬
sah, gab er an, daß sich seine Schildbürger seitdem nicht unwesentlich verändert


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[0541] Gottfried Keller und seine Novellen starken Bande. Aber sie fanden langsamer Verbreitung und Anerkennung als seine Novellen. Und mit Recht. Denn in der kleinen Erzählung liegt ohne Zweifel Kellers Stärke. Was zunächst die äußere Geschichte betrifft, so gehen die „Leute von Seldwyla" teilweise auf die erste Zeit seines dichterischen Schaffens zurück, wie denn einige Geschichten geradezu auf Jugenderinnerungen beruhen. 1856 erschien der erste Band mit fünf Erzählungen: Pankraz der Schmoller, Romeo und Julia auf dem Dorfe, Frau Regel Amrain und ihr Jüngster, Die drei gerechten Kammacher, und Spiegel das Kätzchen, ein Märchen. Weitere fünf, die jetzt im zweiten Bande vereinigt sind, nämlich Kleider machen Leute, Der Schmied seines Glückes, Die mißbrauchten Liebesbriefe, Dietegen und Das Verlorne Lachen, folgten erst nach achtzehn Jahren, 1874. 1894 erschien davon in den Gesammelten Werken die vierzehnte Auflage. Dieselbe Zahl von Auf¬ lagen erreichten auch die unter dem Titel „Züricher Novellen" vereinigten fünf Erzählungen: Hadlaub, Der Narr auf Manegg, Der Landvogt von Greifensee, Das Fähnlein der sieben Aufrechten, und Ursula. Die ersten drei erschienen zuerst im Winter 1876 auf 1877 in der Deutschen Rundschau, die Buchaus¬ gabe folgte 1877. Die „Sieben Legenden" endlich, schon in den fünfziger Jahren in Berlin entworfen, kamen Ostern 1872 als Büchlein heraus, während das „Sinngedicht," dessen Idee und Entwurf auch schon von 1851 stammt, 1881 zuerst in der Deutschen Rundschau gedruckt wurde und in demselben Jahr noch drei Auflagen als Buch erlebte. In vier Gruppen also treten uns die Erzählungen entgegen. Nicht bloß ein äußeres Band umschließt jede Gruppe, sondern nach dem Vorbilde Goethes und älterer Erzähler suchte Keller auch ein geistiges Band, eine Idee, unter der sie sich zu einer höhern Einheit zusammenschlossen. Am vollkommensten ist das wohl in den Seldwhler Geschichten gelungen. Der Gedanke an sich ist freilich ebenfalls nicht originell, sondern hat in den alten Erzählungen von den Schildbürgern seine Vorläufer. Das Städtchen Seldwyla, dessen Be¬ wohner Keller schildert, ist ein solches Nirgendwo und Überall, daß man alles, was an belustigender kleinbürgerlicher Einfalt je geschehen ist, dahin verlegen kann. Aber Keller ist nicht so wahllos verfahren, sondern er hat alles unter einen höhern Gesichtspunkt, einen bestimmten, diesem Bürgertum anhaftenden gemeinsamen Charakterzug gestellt. Und doch war dieser auch wieder so all¬ gemein, daß er sagen konnte, es rage in jeder Stadt und in jedem Thal der Schweiz ein Türmchen von Seldwyla. Freilich war es nicht eigentlich eine Satire auf Zustände der Gegenwart, so oft sich auch solche menschliche Vor¬ gänge zu wiederholen pflegen. Keller hatte wirklich oder wenigstens vorgeblich vergangne Zeiten im Auge. Denn als er den fast zwanzig Jahre später er¬ scheinenden zweiten Band der Seldwyler Geschichten mit einer Einleitung ver¬ sah, gab er an, daß sich seine Schildbürger seitdem nicht unwesentlich verändert

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/541>, abgerufen am 29.09.2024.