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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Gottfried Keller und seine Novellen

liegende darzustellen, ohne gewöhnlich und platt oder langweilig zu sein; und dies
ist es, was ich mir vorgeworfen zu sehen befürchte. Ich hatte nicht die Intention,
aus eitler Subjektivität diese Jugendgeschichte einzufügen, weil sie die meinige ist,
sondern obgleich sie es ist, und stellte mir dabei einfach die Aufgabe, mich selbst
mir objektiv zu machen und ein Exempel zu statuiren. Desnahen ließ ich auch
alles weg, was nicht charakteristisch für deu Endzweck des Buches ist.

Ich hatte die doppelte Tendenz: einesteils zu zeigen, wie wenig Garantien
auch ein aufgeklärter und freier Staat wie der Zürchersche für die sichere Erziehung
des Einzelnen darbiete, heutzutage noch, wenn diese Garantien nicht schon in der
Familie oder den individuellen Verhältnissen vorhanden sind, und nnderutcils den
psychischen Prozeß in einem reich angelegten Gemüte nachzuweisen, welches mit der
sentimental-rationellen Religiosität des heutigen aufgeklarten, aber schwächlichen
Deismus in die Welt geht und an ihre notwendigen Erscheinungen den willkürlichen
und phantastischen Maßstab jener wunderlichen Religiosität legt und darüber zu
Grunde geht. Dies wird der Inhalt des zweiten Teiles sein. Doch ist mir die
angewandte Novellistik, zum Teil auf äußeres und inneres Erlebnis gegründet,
noch weit bedenklicher als die Jugendgeschichte, und ich habe eine jämmerliche Angst,
das Buch aus den Händen zu lassen, da es mir viel verderben kann, und ich, nach
dem langen Zaudern und Sprechen davon, mich schämen muß, wenn es durchfällt.
Meine Hauptstütze ist die Hoffnung, daß das spezifische Geplauder und Geschwätz
des Buches für stillere und feinere Leute, welche nicht auf großen Eklat sehen,
angenehm und unterhaltend sein mochte.

Ebenso gehen, wie schon angedeutet, die Novellen, an deren Ausarbeitung
er sich in Berlin machte, teilweise auf persönliche Eindrücke und Erlebnisse
zurück. Schon im September 1851 schrieb er an Hettner: "Ich habe auch
einige Erzählungen und Novellen ausgeheckt, welche farbenreich und sinnlich
und reinlich und bedächtig geschrieben, in einem Bündchen vereinigt, den
schlechten Eindruck verwischen sollen, den mein formloser und ungeheuerlicher
Roman auf den großen Häuser machen wird." Und in der That ist Keller
erst durch seine kleinern Erzählungen allgemein bekannt und beliebt geworden.
1856 erschien endlich der erste Band der "Leute von Seldwyla" mit den Ge¬
schichten: Pankraz der Schmoller, Romeo und Julia ans dem Dorfe, Frau
Regel Amrain und ihr Jüngster, Die drei gerechten Kammacher, und Spiegel
das Kätzchen, ein Märchen.

Von den spätern Erzählungen wurde manche damals wenigstens entworfen,
wie denn überhaupt die Phantasie des Dichters unerschöpflich war. Vielfach
erkennt man darin Kellers "ausgesprochnen Hang für das Bizarre und Schauer¬
liche. Anwandlungen, Stoffe dieser Art dichterisch zu behandeln, packten ihn
namentlich während der trüben Zeiten völliger Vereinsamung" und verleiteten
ihn bisweilen gar zu unpoetischen Ausschweifungen in seinen Gedichten. Andrer¬
seits wird bei ihm die Einfachheit, wie selbst Baechtold bekennen muß, nicht
selten zur Nüchternheit.

Neben seiner lebhaften Phantasie tritt jetzt besonders sein klarer, scharfer
Verstand hervor. Seine Briefe aus dieser Zeit, den frühern weit überlegen,


Gottfried Keller und seine Novellen

liegende darzustellen, ohne gewöhnlich und platt oder langweilig zu sein; und dies
ist es, was ich mir vorgeworfen zu sehen befürchte. Ich hatte nicht die Intention,
aus eitler Subjektivität diese Jugendgeschichte einzufügen, weil sie die meinige ist,
sondern obgleich sie es ist, und stellte mir dabei einfach die Aufgabe, mich selbst
mir objektiv zu machen und ein Exempel zu statuiren. Desnahen ließ ich auch
alles weg, was nicht charakteristisch für deu Endzweck des Buches ist.

Ich hatte die doppelte Tendenz: einesteils zu zeigen, wie wenig Garantien
auch ein aufgeklärter und freier Staat wie der Zürchersche für die sichere Erziehung
des Einzelnen darbiete, heutzutage noch, wenn diese Garantien nicht schon in der
Familie oder den individuellen Verhältnissen vorhanden sind, und nnderutcils den
psychischen Prozeß in einem reich angelegten Gemüte nachzuweisen, welches mit der
sentimental-rationellen Religiosität des heutigen aufgeklarten, aber schwächlichen
Deismus in die Welt geht und an ihre notwendigen Erscheinungen den willkürlichen
und phantastischen Maßstab jener wunderlichen Religiosität legt und darüber zu
Grunde geht. Dies wird der Inhalt des zweiten Teiles sein. Doch ist mir die
angewandte Novellistik, zum Teil auf äußeres und inneres Erlebnis gegründet,
noch weit bedenklicher als die Jugendgeschichte, und ich habe eine jämmerliche Angst,
das Buch aus den Händen zu lassen, da es mir viel verderben kann, und ich, nach
dem langen Zaudern und Sprechen davon, mich schämen muß, wenn es durchfällt.
Meine Hauptstütze ist die Hoffnung, daß das spezifische Geplauder und Geschwätz
des Buches für stillere und feinere Leute, welche nicht auf großen Eklat sehen,
angenehm und unterhaltend sein mochte.

Ebenso gehen, wie schon angedeutet, die Novellen, an deren Ausarbeitung
er sich in Berlin machte, teilweise auf persönliche Eindrücke und Erlebnisse
zurück. Schon im September 1851 schrieb er an Hettner: „Ich habe auch
einige Erzählungen und Novellen ausgeheckt, welche farbenreich und sinnlich
und reinlich und bedächtig geschrieben, in einem Bündchen vereinigt, den
schlechten Eindruck verwischen sollen, den mein formloser und ungeheuerlicher
Roman auf den großen Häuser machen wird." Und in der That ist Keller
erst durch seine kleinern Erzählungen allgemein bekannt und beliebt geworden.
1856 erschien endlich der erste Band der „Leute von Seldwyla" mit den Ge¬
schichten: Pankraz der Schmoller, Romeo und Julia ans dem Dorfe, Frau
Regel Amrain und ihr Jüngster, Die drei gerechten Kammacher, und Spiegel
das Kätzchen, ein Märchen.

Von den spätern Erzählungen wurde manche damals wenigstens entworfen,
wie denn überhaupt die Phantasie des Dichters unerschöpflich war. Vielfach
erkennt man darin Kellers „ausgesprochnen Hang für das Bizarre und Schauer¬
liche. Anwandlungen, Stoffe dieser Art dichterisch zu behandeln, packten ihn
namentlich während der trüben Zeiten völliger Vereinsamung" und verleiteten
ihn bisweilen gar zu unpoetischen Ausschweifungen in seinen Gedichten. Andrer¬
seits wird bei ihm die Einfachheit, wie selbst Baechtold bekennen muß, nicht
selten zur Nüchternheit.

Neben seiner lebhaften Phantasie tritt jetzt besonders sein klarer, scharfer
Verstand hervor. Seine Briefe aus dieser Zeit, den frühern weit überlegen,


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[0501] Gottfried Keller und seine Novellen liegende darzustellen, ohne gewöhnlich und platt oder langweilig zu sein; und dies ist es, was ich mir vorgeworfen zu sehen befürchte. Ich hatte nicht die Intention, aus eitler Subjektivität diese Jugendgeschichte einzufügen, weil sie die meinige ist, sondern obgleich sie es ist, und stellte mir dabei einfach die Aufgabe, mich selbst mir objektiv zu machen und ein Exempel zu statuiren. Desnahen ließ ich auch alles weg, was nicht charakteristisch für deu Endzweck des Buches ist. Ich hatte die doppelte Tendenz: einesteils zu zeigen, wie wenig Garantien auch ein aufgeklärter und freier Staat wie der Zürchersche für die sichere Erziehung des Einzelnen darbiete, heutzutage noch, wenn diese Garantien nicht schon in der Familie oder den individuellen Verhältnissen vorhanden sind, und nnderutcils den psychischen Prozeß in einem reich angelegten Gemüte nachzuweisen, welches mit der sentimental-rationellen Religiosität des heutigen aufgeklarten, aber schwächlichen Deismus in die Welt geht und an ihre notwendigen Erscheinungen den willkürlichen und phantastischen Maßstab jener wunderlichen Religiosität legt und darüber zu Grunde geht. Dies wird der Inhalt des zweiten Teiles sein. Doch ist mir die angewandte Novellistik, zum Teil auf äußeres und inneres Erlebnis gegründet, noch weit bedenklicher als die Jugendgeschichte, und ich habe eine jämmerliche Angst, das Buch aus den Händen zu lassen, da es mir viel verderben kann, und ich, nach dem langen Zaudern und Sprechen davon, mich schämen muß, wenn es durchfällt. Meine Hauptstütze ist die Hoffnung, daß das spezifische Geplauder und Geschwätz des Buches für stillere und feinere Leute, welche nicht auf großen Eklat sehen, angenehm und unterhaltend sein mochte. Ebenso gehen, wie schon angedeutet, die Novellen, an deren Ausarbeitung er sich in Berlin machte, teilweise auf persönliche Eindrücke und Erlebnisse zurück. Schon im September 1851 schrieb er an Hettner: „Ich habe auch einige Erzählungen und Novellen ausgeheckt, welche farbenreich und sinnlich und reinlich und bedächtig geschrieben, in einem Bündchen vereinigt, den schlechten Eindruck verwischen sollen, den mein formloser und ungeheuerlicher Roman auf den großen Häuser machen wird." Und in der That ist Keller erst durch seine kleinern Erzählungen allgemein bekannt und beliebt geworden. 1856 erschien endlich der erste Band der „Leute von Seldwyla" mit den Ge¬ schichten: Pankraz der Schmoller, Romeo und Julia ans dem Dorfe, Frau Regel Amrain und ihr Jüngster, Die drei gerechten Kammacher, und Spiegel das Kätzchen, ein Märchen. Von den spätern Erzählungen wurde manche damals wenigstens entworfen, wie denn überhaupt die Phantasie des Dichters unerschöpflich war. Vielfach erkennt man darin Kellers „ausgesprochnen Hang für das Bizarre und Schauer¬ liche. Anwandlungen, Stoffe dieser Art dichterisch zu behandeln, packten ihn namentlich während der trüben Zeiten völliger Vereinsamung" und verleiteten ihn bisweilen gar zu unpoetischen Ausschweifungen in seinen Gedichten. Andrer¬ seits wird bei ihm die Einfachheit, wie selbst Baechtold bekennen muß, nicht selten zur Nüchternheit. Neben seiner lebhaften Phantasie tritt jetzt besonders sein klarer, scharfer Verstand hervor. Seine Briefe aus dieser Zeit, den frühern weit überlegen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/501>, abgerufen am 29.09.2024.