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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Der Nachwuchs der ländlichen Arbeiter

zu denken aufgehört oder nie gedacht, sofern sie weiter geht als die vom Staat
erzwungne Volksschulpflicht, über deren beschwerliche Last man Ach und
Weh zu schreien gewöhnt ist. Wir haben in den letzten dreißig bis vierzig
Jahren diese Gleichgiltigkeit wahrzunehmen hinreichend Gelegenheit gehabt.
Mit Klagen und Wettern über die Zügellosigkeit und Verrohung, über
die Unverschämtheit und Faulheit der aus der Schule entlassenen Jugend
glaubte man genug gethan zu haben. Höchstens forderte man mit dem lautesten
Brustton politischer Parteitreue die Einführung der Prügelstrafe als Recht
jedes Guts- und Gemeindevorstehers, die strenge Bestrafung des Kontrakt¬
bruchs und die Beseitigung der Freizügigkeit; aber in dem eignen Wirkungskreise,
in der eiguen großen oder kleinen Wirtschaft rührte man nicht einen Finger, um
der Erzieherpflicht der Dienstherrschaft gegen die ihr anvertrauten Kinder
und jungen Leute zu genügen. Wir haben diese Wahrnehmung gemacht selbst
bei sonst pflichttreuen Wirtschaftern, bei gebildeten Männern und Frauen, bei
Rittergutsbesitzern und Bauern, und um so ausgesprochner, je mehr die An¬
schauung, daß es mit dem patriarchalischen System nun einmal vorbei sei,
den "intelligenten" Betriebsleitern in Fleisch und Blut übergegangen war.
Selbst bei unsern Geistlichen auf dem Lande war diese Gleichgiltigkeit in einem
uns immer unbegreiflichen Maße zu finden, und natürlich nicht minder bei den
Schullehrern. Wir haben nie daran gezweifelt, und oft genug haben wir es
ausgesprochen, daß das eine schwere Sünde sei, und daß sich diese Sünde
bitter rächen müsse an den Besitzern und am ganzen Volke; aber immer war
ein überlegnes Achselzucken die Antwort. Jetzt ist der Notstand da, die Folge
der Schuld von Generationen, und das gegenwärtige Geschlecht hat sich mit
ihr abzufinden, sie zu sühnen, so hart ihm das ankommt.

Aber diese Sühne scheint uns auch eine der lohnendsten sozialen Aufgaben
der Gegenwart zu sein. Man kann, man muß sie lösen zum Heile des deutschen
Volks, zum Segen für unser ganzes Vaterland! Freilich auf den ersten
Blick erscheinen die Aussichten gerade jetzt sehr wenig erfreulich. Auf der einen
Seite die agrarische, auf der andern Seite die sozialistische Verirrung. Dort
der extreme, Recht und Billigkeit mit Füßen tretende Egoismus, der jede eigne
Pflichterfüllung weit von sich weist, bis seiner materiellen Begehrlichkeit genug
gethan ist; hier die Wahnvorstellung vou einer vollkommen neuen, noch nie
dagewesenen, noch gar nicht bekannten Gesellschaftsordnung mit grundsätzlich
"andern" Begriffen über Recht und Billigkeit. Dort, so scheint es, die ost-
elbischen Gutsbesitzer beherrscht von Herrn von Plötz und Genossen, hier die
jungen Pastoren inspirirt von den Herren Naumann, Wagner und ihrer Ge¬
folgschaft. Was soll da wohl sür die Erziehung des landwirtschaftlichen
Arbeiternachwuchses gutes herauskommen? Und doch trauen wir diesen ost-
elbischen Gutsbesitzern und den jungen Pastoren die Lösung dieser großen
sozialen Aufgabe immer noch zu. Wer die Verhältnisse im Osten kennt, der


Der Nachwuchs der ländlichen Arbeiter

zu denken aufgehört oder nie gedacht, sofern sie weiter geht als die vom Staat
erzwungne Volksschulpflicht, über deren beschwerliche Last man Ach und
Weh zu schreien gewöhnt ist. Wir haben in den letzten dreißig bis vierzig
Jahren diese Gleichgiltigkeit wahrzunehmen hinreichend Gelegenheit gehabt.
Mit Klagen und Wettern über die Zügellosigkeit und Verrohung, über
die Unverschämtheit und Faulheit der aus der Schule entlassenen Jugend
glaubte man genug gethan zu haben. Höchstens forderte man mit dem lautesten
Brustton politischer Parteitreue die Einführung der Prügelstrafe als Recht
jedes Guts- und Gemeindevorstehers, die strenge Bestrafung des Kontrakt¬
bruchs und die Beseitigung der Freizügigkeit; aber in dem eignen Wirkungskreise,
in der eiguen großen oder kleinen Wirtschaft rührte man nicht einen Finger, um
der Erzieherpflicht der Dienstherrschaft gegen die ihr anvertrauten Kinder
und jungen Leute zu genügen. Wir haben diese Wahrnehmung gemacht selbst
bei sonst pflichttreuen Wirtschaftern, bei gebildeten Männern und Frauen, bei
Rittergutsbesitzern und Bauern, und um so ausgesprochner, je mehr die An¬
schauung, daß es mit dem patriarchalischen System nun einmal vorbei sei,
den „intelligenten" Betriebsleitern in Fleisch und Blut übergegangen war.
Selbst bei unsern Geistlichen auf dem Lande war diese Gleichgiltigkeit in einem
uns immer unbegreiflichen Maße zu finden, und natürlich nicht minder bei den
Schullehrern. Wir haben nie daran gezweifelt, und oft genug haben wir es
ausgesprochen, daß das eine schwere Sünde sei, und daß sich diese Sünde
bitter rächen müsse an den Besitzern und am ganzen Volke; aber immer war
ein überlegnes Achselzucken die Antwort. Jetzt ist der Notstand da, die Folge
der Schuld von Generationen, und das gegenwärtige Geschlecht hat sich mit
ihr abzufinden, sie zu sühnen, so hart ihm das ankommt.

Aber diese Sühne scheint uns auch eine der lohnendsten sozialen Aufgaben
der Gegenwart zu sein. Man kann, man muß sie lösen zum Heile des deutschen
Volks, zum Segen für unser ganzes Vaterland! Freilich auf den ersten
Blick erscheinen die Aussichten gerade jetzt sehr wenig erfreulich. Auf der einen
Seite die agrarische, auf der andern Seite die sozialistische Verirrung. Dort
der extreme, Recht und Billigkeit mit Füßen tretende Egoismus, der jede eigne
Pflichterfüllung weit von sich weist, bis seiner materiellen Begehrlichkeit genug
gethan ist; hier die Wahnvorstellung vou einer vollkommen neuen, noch nie
dagewesenen, noch gar nicht bekannten Gesellschaftsordnung mit grundsätzlich
„andern" Begriffen über Recht und Billigkeit. Dort, so scheint es, die ost-
elbischen Gutsbesitzer beherrscht von Herrn von Plötz und Genossen, hier die
jungen Pastoren inspirirt von den Herren Naumann, Wagner und ihrer Ge¬
folgschaft. Was soll da wohl sür die Erziehung des landwirtschaftlichen
Arbeiternachwuchses gutes herauskommen? Und doch trauen wir diesen ost-
elbischen Gutsbesitzern und den jungen Pastoren die Lösung dieser großen
sozialen Aufgabe immer noch zu. Wer die Verhältnisse im Osten kennt, der


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[0428] Der Nachwuchs der ländlichen Arbeiter zu denken aufgehört oder nie gedacht, sofern sie weiter geht als die vom Staat erzwungne Volksschulpflicht, über deren beschwerliche Last man Ach und Weh zu schreien gewöhnt ist. Wir haben in den letzten dreißig bis vierzig Jahren diese Gleichgiltigkeit wahrzunehmen hinreichend Gelegenheit gehabt. Mit Klagen und Wettern über die Zügellosigkeit und Verrohung, über die Unverschämtheit und Faulheit der aus der Schule entlassenen Jugend glaubte man genug gethan zu haben. Höchstens forderte man mit dem lautesten Brustton politischer Parteitreue die Einführung der Prügelstrafe als Recht jedes Guts- und Gemeindevorstehers, die strenge Bestrafung des Kontrakt¬ bruchs und die Beseitigung der Freizügigkeit; aber in dem eignen Wirkungskreise, in der eiguen großen oder kleinen Wirtschaft rührte man nicht einen Finger, um der Erzieherpflicht der Dienstherrschaft gegen die ihr anvertrauten Kinder und jungen Leute zu genügen. Wir haben diese Wahrnehmung gemacht selbst bei sonst pflichttreuen Wirtschaftern, bei gebildeten Männern und Frauen, bei Rittergutsbesitzern und Bauern, und um so ausgesprochner, je mehr die An¬ schauung, daß es mit dem patriarchalischen System nun einmal vorbei sei, den „intelligenten" Betriebsleitern in Fleisch und Blut übergegangen war. Selbst bei unsern Geistlichen auf dem Lande war diese Gleichgiltigkeit in einem uns immer unbegreiflichen Maße zu finden, und natürlich nicht minder bei den Schullehrern. Wir haben nie daran gezweifelt, und oft genug haben wir es ausgesprochen, daß das eine schwere Sünde sei, und daß sich diese Sünde bitter rächen müsse an den Besitzern und am ganzen Volke; aber immer war ein überlegnes Achselzucken die Antwort. Jetzt ist der Notstand da, die Folge der Schuld von Generationen, und das gegenwärtige Geschlecht hat sich mit ihr abzufinden, sie zu sühnen, so hart ihm das ankommt. Aber diese Sühne scheint uns auch eine der lohnendsten sozialen Aufgaben der Gegenwart zu sein. Man kann, man muß sie lösen zum Heile des deutschen Volks, zum Segen für unser ganzes Vaterland! Freilich auf den ersten Blick erscheinen die Aussichten gerade jetzt sehr wenig erfreulich. Auf der einen Seite die agrarische, auf der andern Seite die sozialistische Verirrung. Dort der extreme, Recht und Billigkeit mit Füßen tretende Egoismus, der jede eigne Pflichterfüllung weit von sich weist, bis seiner materiellen Begehrlichkeit genug gethan ist; hier die Wahnvorstellung vou einer vollkommen neuen, noch nie dagewesenen, noch gar nicht bekannten Gesellschaftsordnung mit grundsätzlich „andern" Begriffen über Recht und Billigkeit. Dort, so scheint es, die ost- elbischen Gutsbesitzer beherrscht von Herrn von Plötz und Genossen, hier die jungen Pastoren inspirirt von den Herren Naumann, Wagner und ihrer Ge¬ folgschaft. Was soll da wohl sür die Erziehung des landwirtschaftlichen Arbeiternachwuchses gutes herauskommen? Und doch trauen wir diesen ost- elbischen Gutsbesitzern und den jungen Pastoren die Lösung dieser großen sozialen Aufgabe immer noch zu. Wer die Verhältnisse im Osten kennt, der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/428>, abgerufen am 27.09.2024.