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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Der Annstgennß des Laien

Diese Auffassung des Kunstgenusses und seiner Wirkung findet ihre volle
Berechtigung natürlich nur in der Idee und bei den seltnen Gelegenheiten,
wo ein echtes, geisterfülltes Kunstwerk unsers Herzens Härte schmilzt und uns
über uns selbst erhebt. Gedachten wir sie auf jedes unbedeutende Kunstwerk
anzuwenden, so wäre sie allerdings zu hoch gespannt und daher als phrasen¬
haft abzulehnen. Beobachten wir doch täglich, daß der Kunstgenuß im all¬
gemeinen sehr oberflächlich zu sein pflegt, wie denn auch die große Mehrzahl
der Kunstwerke, die man uns vorführt, im strengsten Sinne nicht Kunstwerke
genannt werden dürften. Was ohne unmittelbare, selbständige Empfindung
mehr mit der Hand als mit dem Herzen geschaffen wurde, grenzt nahe an das
konventionelle Handwerkererzengnis oder ist eine Spielerei; das große Kunstwerk
beginnt da, wo sich jener göttliche Funke, die schöpferische, und zwar auf etwas
dem Menschen wesentliches gerichtete Phantasie, kräftig waltend spüren läßt.
Denn wie der physische Funke stets das Ergebnis eines energischen mechanischen
Vorgangs ist, so erscheint der göttliche auch nur dann, wenn ein inneres Er¬
lebnis die Künstlerseele entflammt hat.

Wenn aber, wie wir hören werden, selbst die soit-äiAwt-Kunstwerke uicht
eiuer gewissen Existenzberechtigung ermangeln, so hat nicht minder der behag¬
liche und harmlose Kunstgenuß die seinige. Wir sind eben nicht imstande, uns
allen Eindrücken, die uns anfallen, in dem Grade hinzugeben, der ihrer wahren,
erschöpften Bedeutung entspräche. Das Kruzifix, das wir täglich vor Augen
haben, werden wir nur in empfänglichen Stimmungen voll Rührung, Schaudern
und andächtiger Dankbarkeit betrachten, und tausendmal besehen wir es so kalt
und teilnahmlos, als zeigte es uns nicht einen gemarterten, namenlos leidenden
Menschenleib und uicht den idealen Propheten, der vorbildlich für seine Sendung
und für uns starb. Wir müßten ja geradezu zu Grunde gehen, wären uns
auch nur die außer" Beziehungen immer gegenwärtig und bewußt, die uus
mit den umgebenden Dingen verbinden; und schlechthin geisteskrank wären wir,
wollten und könnten wir alle kleinen und großen Probleme, die uns berühren,
unablässig auflösen und uus mit ihren Faktoren aufs innigste beschäftigen.
Wie die Vergessenheit, so ist uns auch die Unfähigkeit zu ununterbrochner
Spekulation und radikaler Empfindung ein notwendiges Trost- und Heil¬
mittel bei unsrer irdischen UnVollkommenheit. Andrerseits kann man auch uicht
von den Künstlern verlangen, daß sie nur Werke von außerordentlichen Wir¬
kungen, von äußerster Energie schaffen. Denn die Künstler sind schließlich doch
auch Menschen; und wenn schon die großen und echten unter ihnen manche
Stunden haben, in denen sie sich nicht völlig sammeln können und arbeiten
müssen, ohne begeistert, d. h. ohne in lebhaftem Austausch mit ihrem Dämon,
der Phantasie, zu sein -- was soll man da von den übrigen fordern, von der
unübersehbaren Mehrzahl, die, mittelmäßig oder gar armselig in Urteil und
Begabung, nur das hervorbringen, was ihrem Geiste gleicht, nämlich leidliches


Der Annstgennß des Laien

Diese Auffassung des Kunstgenusses und seiner Wirkung findet ihre volle
Berechtigung natürlich nur in der Idee und bei den seltnen Gelegenheiten,
wo ein echtes, geisterfülltes Kunstwerk unsers Herzens Härte schmilzt und uns
über uns selbst erhebt. Gedachten wir sie auf jedes unbedeutende Kunstwerk
anzuwenden, so wäre sie allerdings zu hoch gespannt und daher als phrasen¬
haft abzulehnen. Beobachten wir doch täglich, daß der Kunstgenuß im all¬
gemeinen sehr oberflächlich zu sein pflegt, wie denn auch die große Mehrzahl
der Kunstwerke, die man uns vorführt, im strengsten Sinne nicht Kunstwerke
genannt werden dürften. Was ohne unmittelbare, selbständige Empfindung
mehr mit der Hand als mit dem Herzen geschaffen wurde, grenzt nahe an das
konventionelle Handwerkererzengnis oder ist eine Spielerei; das große Kunstwerk
beginnt da, wo sich jener göttliche Funke, die schöpferische, und zwar auf etwas
dem Menschen wesentliches gerichtete Phantasie, kräftig waltend spüren läßt.
Denn wie der physische Funke stets das Ergebnis eines energischen mechanischen
Vorgangs ist, so erscheint der göttliche auch nur dann, wenn ein inneres Er¬
lebnis die Künstlerseele entflammt hat.

Wenn aber, wie wir hören werden, selbst die soit-äiAwt-Kunstwerke uicht
eiuer gewissen Existenzberechtigung ermangeln, so hat nicht minder der behag¬
liche und harmlose Kunstgenuß die seinige. Wir sind eben nicht imstande, uns
allen Eindrücken, die uns anfallen, in dem Grade hinzugeben, der ihrer wahren,
erschöpften Bedeutung entspräche. Das Kruzifix, das wir täglich vor Augen
haben, werden wir nur in empfänglichen Stimmungen voll Rührung, Schaudern
und andächtiger Dankbarkeit betrachten, und tausendmal besehen wir es so kalt
und teilnahmlos, als zeigte es uns nicht einen gemarterten, namenlos leidenden
Menschenleib und uicht den idealen Propheten, der vorbildlich für seine Sendung
und für uns starb. Wir müßten ja geradezu zu Grunde gehen, wären uns
auch nur die außer» Beziehungen immer gegenwärtig und bewußt, die uus
mit den umgebenden Dingen verbinden; und schlechthin geisteskrank wären wir,
wollten und könnten wir alle kleinen und großen Probleme, die uns berühren,
unablässig auflösen und uus mit ihren Faktoren aufs innigste beschäftigen.
Wie die Vergessenheit, so ist uns auch die Unfähigkeit zu ununterbrochner
Spekulation und radikaler Empfindung ein notwendiges Trost- und Heil¬
mittel bei unsrer irdischen UnVollkommenheit. Andrerseits kann man auch uicht
von den Künstlern verlangen, daß sie nur Werke von außerordentlichen Wir¬
kungen, von äußerster Energie schaffen. Denn die Künstler sind schließlich doch
auch Menschen; und wenn schon die großen und echten unter ihnen manche
Stunden haben, in denen sie sich nicht völlig sammeln können und arbeiten
müssen, ohne begeistert, d. h. ohne in lebhaftem Austausch mit ihrem Dämon,
der Phantasie, zu sein — was soll man da von den übrigen fordern, von der
unübersehbaren Mehrzahl, die, mittelmäßig oder gar armselig in Urteil und
Begabung, nur das hervorbringen, was ihrem Geiste gleicht, nämlich leidliches


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[0403] Der Annstgennß des Laien Diese Auffassung des Kunstgenusses und seiner Wirkung findet ihre volle Berechtigung natürlich nur in der Idee und bei den seltnen Gelegenheiten, wo ein echtes, geisterfülltes Kunstwerk unsers Herzens Härte schmilzt und uns über uns selbst erhebt. Gedachten wir sie auf jedes unbedeutende Kunstwerk anzuwenden, so wäre sie allerdings zu hoch gespannt und daher als phrasen¬ haft abzulehnen. Beobachten wir doch täglich, daß der Kunstgenuß im all¬ gemeinen sehr oberflächlich zu sein pflegt, wie denn auch die große Mehrzahl der Kunstwerke, die man uns vorführt, im strengsten Sinne nicht Kunstwerke genannt werden dürften. Was ohne unmittelbare, selbständige Empfindung mehr mit der Hand als mit dem Herzen geschaffen wurde, grenzt nahe an das konventionelle Handwerkererzengnis oder ist eine Spielerei; das große Kunstwerk beginnt da, wo sich jener göttliche Funke, die schöpferische, und zwar auf etwas dem Menschen wesentliches gerichtete Phantasie, kräftig waltend spüren läßt. Denn wie der physische Funke stets das Ergebnis eines energischen mechanischen Vorgangs ist, so erscheint der göttliche auch nur dann, wenn ein inneres Er¬ lebnis die Künstlerseele entflammt hat. Wenn aber, wie wir hören werden, selbst die soit-äiAwt-Kunstwerke uicht eiuer gewissen Existenzberechtigung ermangeln, so hat nicht minder der behag¬ liche und harmlose Kunstgenuß die seinige. Wir sind eben nicht imstande, uns allen Eindrücken, die uns anfallen, in dem Grade hinzugeben, der ihrer wahren, erschöpften Bedeutung entspräche. Das Kruzifix, das wir täglich vor Augen haben, werden wir nur in empfänglichen Stimmungen voll Rührung, Schaudern und andächtiger Dankbarkeit betrachten, und tausendmal besehen wir es so kalt und teilnahmlos, als zeigte es uns nicht einen gemarterten, namenlos leidenden Menschenleib und uicht den idealen Propheten, der vorbildlich für seine Sendung und für uns starb. Wir müßten ja geradezu zu Grunde gehen, wären uns auch nur die außer» Beziehungen immer gegenwärtig und bewußt, die uus mit den umgebenden Dingen verbinden; und schlechthin geisteskrank wären wir, wollten und könnten wir alle kleinen und großen Probleme, die uns berühren, unablässig auflösen und uus mit ihren Faktoren aufs innigste beschäftigen. Wie die Vergessenheit, so ist uns auch die Unfähigkeit zu ununterbrochner Spekulation und radikaler Empfindung ein notwendiges Trost- und Heil¬ mittel bei unsrer irdischen UnVollkommenheit. Andrerseits kann man auch uicht von den Künstlern verlangen, daß sie nur Werke von außerordentlichen Wir¬ kungen, von äußerster Energie schaffen. Denn die Künstler sind schließlich doch auch Menschen; und wenn schon die großen und echten unter ihnen manche Stunden haben, in denen sie sich nicht völlig sammeln können und arbeiten müssen, ohne begeistert, d. h. ohne in lebhaftem Austausch mit ihrem Dämon, der Phantasie, zu sein — was soll man da von den übrigen fordern, von der unübersehbaren Mehrzahl, die, mittelmäßig oder gar armselig in Urteil und Begabung, nur das hervorbringen, was ihrem Geiste gleicht, nämlich leidliches

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/403>, abgerufen am 27.09.2024.