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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Zur Kritik des Marxismus

rechne, wohl auch heute noch findet (denn Stumm will offenbar eben nur Herr
bleiben; Geldaufwand spart er nicht, wo es sich um Arbeiterwohl handelt).
Doch auf meine Ansichten und Wünsche kommt nichts an, sondern alles hängt
nur von der Stärke der beiden beschriebnen Strömungen ab. Und darum sage
ich von Zeit zu Zeit den Leuten, die auf die Gesetzgebung Einfluß haben:
Überlegt euch, wohin ihr eigentlich wollt. Wollt ihr einen gehorsamen Kaliban,
der sich ohne Widerspruch in ein Lasttier- oder Schmutzsinkendasein findet, wie
es viele heutige Arbeitsarten bereiten, dann werdet ihr die Volksschule schließen,
den Militärdienst aufheben und der Sittenpolizei sagen müssen, daß sie euern
getreuen Kaliban in seinem Benehmen und in seinen Vergnügungen Kaliban
sein läßt; die Verfassung könnt ihr dann ohne Gefahr ändern, Rechte fordert
Kaliban nicht. Wollt ihr dagegen ein bis in seine untersten Schichten ge¬
bildetes und gesittetes Volk, dann müßt ihr dem Lohnarbeiter die Mittel zu
einem gesitteten Leben gewähren und dürft es nicht wagen, ihm das einmal
gewährte Recht zu rauben, wenn auch vielleicht die Gewährung ein politischer
Fehler gewesen ist;") ihr müßt dann auch mit seinem Ehrgefühl rechnen und
bedenken, daß ihr ihm jedesmal einen Schlag ins Gesicht versetzt, wenn ihr
seine Versammlungen, seine Reden, seine gesamte staatsbürgerliche Thätigkeit
unter Polizeiaufsicht stellt. Wollt oder könnt ihr weder das eine noch das
andre, so nimmt eben die auf den Kommunismus zusteuernde Arbeiterbewegung
ihren Gang.

Freilich braucht, wie ich ebenfalls ausgeführt habe, die radikale Lösung
nach der einen oder andern Seite hin nicht notwendig einzutreten; wie im
wirtschaftlichen Leben, so herrschen im politischen die Mischformen vor. Aber
damit man der Gefahr der radikalen Lösung ausweichen könne, muß man die
beiden Strömungen auf das genaueste kennen. Man wird dann leicht einsehen,
daß ein starker Abfluß der überschüssigen Bevölkerung nach Kolonien das
einzige Mittel ist, die Spannung zwischen den beiden Strömungen zu mildern
und dem völligen Siege der einen von ihnen vorzubeugen. Abfluß der Be¬
völkerung vermindert die Zahl derer, die an einer grundstürzenden Änderung
ein Interesse haben, und sichert den Zurückbleibenden durch Verminderung der
Kvnknrrentenzahl bessere Arbeitsbedingungen. Wie durch solchen Abfluß auch
alle übrigen gefährliche" Spannungen teils gelöst, teils gemildert werden
würden, habe ich oft beschrieben. Wird aber dieser Weg nicht beschritten, so



°") Wird den Untergebnen erst einmal Aersammlungsfreiheit gestattet, dann ist es um die
Herrschaft der Herrschenden geschehen; wie wir uns vor den Plebejern gebeugt haben, so werden
uns zuletzt auch noch die Weiber Gesetze geben. So ungefähr sprach Porcius Cato (Livius 34, L),
als die Matronen das Forum belagerten, um die von den Tribunen beantragte Aufhebring
der (den Frauenluxus beschränkenden) lox Oxpi-i, durchzusetzen. Recht hat er gehabt, der alte
Censorius, aber der ritterliche Balerius hatte mit seiner rührenden Gegenrede natürlich noch
viel mehr Recht.
Grenzboten I 1897 44
Zur Kritik des Marxismus

rechne, wohl auch heute noch findet (denn Stumm will offenbar eben nur Herr
bleiben; Geldaufwand spart er nicht, wo es sich um Arbeiterwohl handelt).
Doch auf meine Ansichten und Wünsche kommt nichts an, sondern alles hängt
nur von der Stärke der beiden beschriebnen Strömungen ab. Und darum sage
ich von Zeit zu Zeit den Leuten, die auf die Gesetzgebung Einfluß haben:
Überlegt euch, wohin ihr eigentlich wollt. Wollt ihr einen gehorsamen Kaliban,
der sich ohne Widerspruch in ein Lasttier- oder Schmutzsinkendasein findet, wie
es viele heutige Arbeitsarten bereiten, dann werdet ihr die Volksschule schließen,
den Militärdienst aufheben und der Sittenpolizei sagen müssen, daß sie euern
getreuen Kaliban in seinem Benehmen und in seinen Vergnügungen Kaliban
sein läßt; die Verfassung könnt ihr dann ohne Gefahr ändern, Rechte fordert
Kaliban nicht. Wollt ihr dagegen ein bis in seine untersten Schichten ge¬
bildetes und gesittetes Volk, dann müßt ihr dem Lohnarbeiter die Mittel zu
einem gesitteten Leben gewähren und dürft es nicht wagen, ihm das einmal
gewährte Recht zu rauben, wenn auch vielleicht die Gewährung ein politischer
Fehler gewesen ist;") ihr müßt dann auch mit seinem Ehrgefühl rechnen und
bedenken, daß ihr ihm jedesmal einen Schlag ins Gesicht versetzt, wenn ihr
seine Versammlungen, seine Reden, seine gesamte staatsbürgerliche Thätigkeit
unter Polizeiaufsicht stellt. Wollt oder könnt ihr weder das eine noch das
andre, so nimmt eben die auf den Kommunismus zusteuernde Arbeiterbewegung
ihren Gang.

Freilich braucht, wie ich ebenfalls ausgeführt habe, die radikale Lösung
nach der einen oder andern Seite hin nicht notwendig einzutreten; wie im
wirtschaftlichen Leben, so herrschen im politischen die Mischformen vor. Aber
damit man der Gefahr der radikalen Lösung ausweichen könne, muß man die
beiden Strömungen auf das genaueste kennen. Man wird dann leicht einsehen,
daß ein starker Abfluß der überschüssigen Bevölkerung nach Kolonien das
einzige Mittel ist, die Spannung zwischen den beiden Strömungen zu mildern
und dem völligen Siege der einen von ihnen vorzubeugen. Abfluß der Be¬
völkerung vermindert die Zahl derer, die an einer grundstürzenden Änderung
ein Interesse haben, und sichert den Zurückbleibenden durch Verminderung der
Kvnknrrentenzahl bessere Arbeitsbedingungen. Wie durch solchen Abfluß auch
alle übrigen gefährliche» Spannungen teils gelöst, teils gemildert werden
würden, habe ich oft beschrieben. Wird aber dieser Weg nicht beschritten, so



°") Wird den Untergebnen erst einmal Aersammlungsfreiheit gestattet, dann ist es um die
Herrschaft der Herrschenden geschehen; wie wir uns vor den Plebejern gebeugt haben, so werden
uns zuletzt auch noch die Weiber Gesetze geben. So ungefähr sprach Porcius Cato (Livius 34, L),
als die Matronen das Forum belagerten, um die von den Tribunen beantragte Aufhebring
der (den Frauenluxus beschränkenden) lox Oxpi-i, durchzusetzen. Recht hat er gehabt, der alte
Censorius, aber der ritterliche Balerius hatte mit seiner rührenden Gegenrede natürlich noch
viel mehr Recht.
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[0353] Zur Kritik des Marxismus rechne, wohl auch heute noch findet (denn Stumm will offenbar eben nur Herr bleiben; Geldaufwand spart er nicht, wo es sich um Arbeiterwohl handelt). Doch auf meine Ansichten und Wünsche kommt nichts an, sondern alles hängt nur von der Stärke der beiden beschriebnen Strömungen ab. Und darum sage ich von Zeit zu Zeit den Leuten, die auf die Gesetzgebung Einfluß haben: Überlegt euch, wohin ihr eigentlich wollt. Wollt ihr einen gehorsamen Kaliban, der sich ohne Widerspruch in ein Lasttier- oder Schmutzsinkendasein findet, wie es viele heutige Arbeitsarten bereiten, dann werdet ihr die Volksschule schließen, den Militärdienst aufheben und der Sittenpolizei sagen müssen, daß sie euern getreuen Kaliban in seinem Benehmen und in seinen Vergnügungen Kaliban sein läßt; die Verfassung könnt ihr dann ohne Gefahr ändern, Rechte fordert Kaliban nicht. Wollt ihr dagegen ein bis in seine untersten Schichten ge¬ bildetes und gesittetes Volk, dann müßt ihr dem Lohnarbeiter die Mittel zu einem gesitteten Leben gewähren und dürft es nicht wagen, ihm das einmal gewährte Recht zu rauben, wenn auch vielleicht die Gewährung ein politischer Fehler gewesen ist;") ihr müßt dann auch mit seinem Ehrgefühl rechnen und bedenken, daß ihr ihm jedesmal einen Schlag ins Gesicht versetzt, wenn ihr seine Versammlungen, seine Reden, seine gesamte staatsbürgerliche Thätigkeit unter Polizeiaufsicht stellt. Wollt oder könnt ihr weder das eine noch das andre, so nimmt eben die auf den Kommunismus zusteuernde Arbeiterbewegung ihren Gang. Freilich braucht, wie ich ebenfalls ausgeführt habe, die radikale Lösung nach der einen oder andern Seite hin nicht notwendig einzutreten; wie im wirtschaftlichen Leben, so herrschen im politischen die Mischformen vor. Aber damit man der Gefahr der radikalen Lösung ausweichen könne, muß man die beiden Strömungen auf das genaueste kennen. Man wird dann leicht einsehen, daß ein starker Abfluß der überschüssigen Bevölkerung nach Kolonien das einzige Mittel ist, die Spannung zwischen den beiden Strömungen zu mildern und dem völligen Siege der einen von ihnen vorzubeugen. Abfluß der Be¬ völkerung vermindert die Zahl derer, die an einer grundstürzenden Änderung ein Interesse haben, und sichert den Zurückbleibenden durch Verminderung der Kvnknrrentenzahl bessere Arbeitsbedingungen. Wie durch solchen Abfluß auch alle übrigen gefährliche» Spannungen teils gelöst, teils gemildert werden würden, habe ich oft beschrieben. Wird aber dieser Weg nicht beschritten, so °") Wird den Untergebnen erst einmal Aersammlungsfreiheit gestattet, dann ist es um die Herrschaft der Herrschenden geschehen; wie wir uns vor den Plebejern gebeugt haben, so werden uns zuletzt auch noch die Weiber Gesetze geben. So ungefähr sprach Porcius Cato (Livius 34, L), als die Matronen das Forum belagerten, um die von den Tribunen beantragte Aufhebring der (den Frauenluxus beschränkenden) lox Oxpi-i, durchzusetzen. Recht hat er gehabt, der alte Censorius, aber der ritterliche Balerius hatte mit seiner rührenden Gegenrede natürlich noch viel mehr Recht. Grenzboten I 1897 44

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/353>, abgerufen am 27.09.2024.