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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Die Berliner Schillerpreisdrcimen

in der Regel in dem nächsten Lustrum schon nicht mehr, was es im vorher¬
gehenden als höchste Weisheit verkündet hat. Überall handelt es sich nur
darum, vor dem Demos die andern zu überschreie". Heute den lärmendsten
Beifall, das vollste Haus, die größte Tantieme, die massenhafteste Auflage,
das ungemessenste Lob zu gewinnen und das Morgen den Schicksalsgöttern
zu überlassen, das ist, was beiden Parteien gemein ist. Die Zukunft der
Dichter selbst kommt dabei kaum noch in Frage; sie müßten wenigstens sehr
befangen sein, wenn sie nicht merkten, daß sie im Kampf des Tages und für
den Kampf des Tages verbraucht werden sollen.

Wir sagten, daß der Sieg von Wildenbruchs "König Heinrich" als ein
Sieg der alten und von Hauptmanns "Versunkner Glocke" als ein Sieg der
neuen Kunst ausgerufen werde. Wie nun, wenn weder das eine noch das
andre wahr wäre? Wenn sich die Losungen von hüben und drüben als ganz
sinnlos erwiesen? Wenn der unbefangnen Beurteilung die Dichtungen, mit
deren einer oder andrer "eine Epoche anheben" soll, als talentvolle, durchaus
nicht verwerfliche, aber keineswegs überwältigende, die höchsten Wirkungen
dichterischer Kraft bewahrende Schöpfungen erschienen? Wenn die einfache
Frage aufgeworfen würde, wo und inwiefern denn ein Werk wie Wildenbruchs
"König Heinrich" als das Drama augesehen werdeu dürfe, dessen Erfolg oder
Nichterfolg über Wert und Zukunftsberechtiguug der Kunst Shakespeares,
Lessings, Goethes, Schillers, Kleists und Hebbels entscheiden soll? Wenn
umgekehrt gefragt würde, wodurch denn das Märchen von der "Versunkneu
Glocke," mit all seinen Anklängen an die phantastische und idyllische Dichtung
von Shakespeare bis zu den deutschen Romantikern, das Recht habe, als die
neue Dichtung schlechthin, als Emanation des modernen Geistes, als einzig be¬
rechtigte Form der Zukunft gefeiert zu werden? Wie, wenn den Dichtern gar
kein größeres Unrecht geschehen könnte, als daß ihre Dichtungen mit dem un¬
geheuern Gewicht einer historischen Stellung und Sendung beladen werden,
unter dein sie notwendig zusammenknicken müßten? Die Maßlosigkeit der Zeit
und die völlige Gleichgiltigkeit gegen alle Entwicklung zeigt sich deutlich in
dem Bedürfnis, alle Jahre einen neuen Götzen zu schnitzen und auf schweren
Triumphwagen durchs Land zu schicken. Wo der Wagen stecken bleibt oder
umwirft, bleibt der Götze mit liegen, und die Triumphfabrikanten kümmern sich
den Teufel darum, ob Gott und Wagen zu Feuerholz verbraucht werden. Sie
sind längst bei neuer Schnitz- und Wagenbauarbeit.

Im Ernst, wie kommen wirkliche Dichter, wie kommen ehrlich ringende
Talente dazu, heute als Welt und Litteratur umwälzende Genien vergöttert
und morgen in natürlicher Auflehnung gegen die vorausgegangne Übertreibung
verlacht und beiseite geworfen zu werden? Sollen wir wirklich glauben,
daß, weil die Spekulation an dem ganzen modernen Litteratur- und Kunstleben
einen so großen Anteil hat, sie damit zufrieden sind, zu Gegenständen der


Die Berliner Schillerpreisdrcimen

in der Regel in dem nächsten Lustrum schon nicht mehr, was es im vorher¬
gehenden als höchste Weisheit verkündet hat. Überall handelt es sich nur
darum, vor dem Demos die andern zu überschreie». Heute den lärmendsten
Beifall, das vollste Haus, die größte Tantieme, die massenhafteste Auflage,
das ungemessenste Lob zu gewinnen und das Morgen den Schicksalsgöttern
zu überlassen, das ist, was beiden Parteien gemein ist. Die Zukunft der
Dichter selbst kommt dabei kaum noch in Frage; sie müßten wenigstens sehr
befangen sein, wenn sie nicht merkten, daß sie im Kampf des Tages und für
den Kampf des Tages verbraucht werden sollen.

Wir sagten, daß der Sieg von Wildenbruchs „König Heinrich" als ein
Sieg der alten und von Hauptmanns „Versunkner Glocke" als ein Sieg der
neuen Kunst ausgerufen werde. Wie nun, wenn weder das eine noch das
andre wahr wäre? Wenn sich die Losungen von hüben und drüben als ganz
sinnlos erwiesen? Wenn der unbefangnen Beurteilung die Dichtungen, mit
deren einer oder andrer „eine Epoche anheben" soll, als talentvolle, durchaus
nicht verwerfliche, aber keineswegs überwältigende, die höchsten Wirkungen
dichterischer Kraft bewahrende Schöpfungen erschienen? Wenn die einfache
Frage aufgeworfen würde, wo und inwiefern denn ein Werk wie Wildenbruchs
„König Heinrich" als das Drama augesehen werdeu dürfe, dessen Erfolg oder
Nichterfolg über Wert und Zukunftsberechtiguug der Kunst Shakespeares,
Lessings, Goethes, Schillers, Kleists und Hebbels entscheiden soll? Wenn
umgekehrt gefragt würde, wodurch denn das Märchen von der „Versunkneu
Glocke," mit all seinen Anklängen an die phantastische und idyllische Dichtung
von Shakespeare bis zu den deutschen Romantikern, das Recht habe, als die
neue Dichtung schlechthin, als Emanation des modernen Geistes, als einzig be¬
rechtigte Form der Zukunft gefeiert zu werden? Wie, wenn den Dichtern gar
kein größeres Unrecht geschehen könnte, als daß ihre Dichtungen mit dem un¬
geheuern Gewicht einer historischen Stellung und Sendung beladen werden,
unter dein sie notwendig zusammenknicken müßten? Die Maßlosigkeit der Zeit
und die völlige Gleichgiltigkeit gegen alle Entwicklung zeigt sich deutlich in
dem Bedürfnis, alle Jahre einen neuen Götzen zu schnitzen und auf schweren
Triumphwagen durchs Land zu schicken. Wo der Wagen stecken bleibt oder
umwirft, bleibt der Götze mit liegen, und die Triumphfabrikanten kümmern sich
den Teufel darum, ob Gott und Wagen zu Feuerholz verbraucht werden. Sie
sind längst bei neuer Schnitz- und Wagenbauarbeit.

Im Ernst, wie kommen wirkliche Dichter, wie kommen ehrlich ringende
Talente dazu, heute als Welt und Litteratur umwälzende Genien vergöttert
und morgen in natürlicher Auflehnung gegen die vorausgegangne Übertreibung
verlacht und beiseite geworfen zu werden? Sollen wir wirklich glauben,
daß, weil die Spekulation an dem ganzen modernen Litteratur- und Kunstleben
einen so großen Anteil hat, sie damit zufrieden sind, zu Gegenständen der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/35>, abgerufen am 27.09.2024.