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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Zur Kritik des Marxismus

aus dem verständigen Hannover gekommen ist, unter dem betäubenden Lärm
seiner neuen Freunde an seinem klaren Verstände irre zu werden und den
agrarischen Unsinn zu glauben anfängt.

Manche werfen mir vor, meine Ausführungen seien demagogisch in der
Form und im Ton. Darauf könnte ich erwidern, daß das heutzutage kein
Unrecht sei; denn da durch unsre Verfassung der ganze Demos zur Teilnahme
am politischen Leben berufen ist, braucht er doch Führer, und es giebt keine
Partei, deren Führer es nicht für nötig erachteten, die Leidenschaften der Ge¬
führten zu erregen oder derer, die sie gern führen möchten. Man lese nur
ein beliebiges Agrarierblatt. "Verzweiflungsvoll suchten die Vertreter der
deutscheu Landwirtschaft nach irgend welchen Mitteln, welche eine auch nur
entfernte Möglichkeit der Rettung boten"; nachdem alle Bemühungen fehl¬
geschlagen seien, sei nur noch auf ein Mittel die Aussicht offen geblieben:
die Kündigung aller geltenden Tarifverträge und Schaffung eines autonomen
Tarifs. So zu lesen im Sonntagsleiter der Schlesischen Zeitung vom 24. Januar.
Wenn das nicht allertollste Demagogie (und zugleich geschmackloseste Über¬
treibung) ist, dann giebts überhaupt keine Demagogie. Aber der Vorwurf ist
gegenstandslos, denn ich rede überhaupt nicht zum Demos. Die Grenzboten
werden nur von Gebildeten, hauptsächlich von akademisch Gebildeten gelesen.
Demagogisch würde es sein, wenn ich fleißig ausmalte, wie die Gymnasiallehrer
und die Richter im Staate zurückgesetzt werden; aber ich spreche von den Leiden
solcher, die mich nicht lesen, zu solchen, die von diesen Leiden nicht unmittelbar
betroffen werden; das ist in keinem Sinne demagogisch. Und das thue ich
nicht etwa, um Mitleid zu erregen. Damit würde ich ganz zweckwidrig handeln.
In der Politik waltet -- das ist einer der Punkte, in denen ich mit Sombart
übereinstimme -- die Selbstsucht ausschließlich, und die edlern und feinern Em¬
pfindungen des Herzens sind ganz ohnmächtig; diese walten nur im Privat¬
verkehr von Mensch zu Mensch. Es ist möglich, daß eine humane und christ¬
liche Gesinnung, wenn sie allgemein verbreitet ist, mittelbar auch auf die Gesetz¬
gebung und Verwaltung Einfluß übt, aber nachweisbar ist dieser Einfluß nicht;
man sieht nichts davon in der Weltgeschichte, und der Politiker muß sich sorg¬
fältig hüten, die edlern menschlichen Empfindungen in seine Berechnungen ein-
zubeziehen. Zu einem doppelten Zwecke weise ich von Zeit zu Zeit auf die
Übel hin, unter denen die Lohnarbeiter leiden. Erstens will ich damit klar
machen, daß die Lohnarbeiter bei einer solchen Lage, die die einen erleiden,
von der die andern bedroht werden, und bei dem Bildungsgrade, den ihnen
der Staat aufgezwungen hat, notwendig unzufrieden, ja revolutionär gesinnt
sein müssen, daß bei ihrer Zusammenhäufung und bei der heutigen Leichtigkeit
der gegenseitigen Mitteilung eine großartige^organisirte Arbeiterbewegung selbst¬
verständlich ist, daß es mehr als kindlich ist, diese Bewegung sür ein Werk
von Hetzern anzusehen, obwohl es bei unsrer Überproduktion an Intelligenzen


Zur Kritik des Marxismus

aus dem verständigen Hannover gekommen ist, unter dem betäubenden Lärm
seiner neuen Freunde an seinem klaren Verstände irre zu werden und den
agrarischen Unsinn zu glauben anfängt.

Manche werfen mir vor, meine Ausführungen seien demagogisch in der
Form und im Ton. Darauf könnte ich erwidern, daß das heutzutage kein
Unrecht sei; denn da durch unsre Verfassung der ganze Demos zur Teilnahme
am politischen Leben berufen ist, braucht er doch Führer, und es giebt keine
Partei, deren Führer es nicht für nötig erachteten, die Leidenschaften der Ge¬
führten zu erregen oder derer, die sie gern führen möchten. Man lese nur
ein beliebiges Agrarierblatt. „Verzweiflungsvoll suchten die Vertreter der
deutscheu Landwirtschaft nach irgend welchen Mitteln, welche eine auch nur
entfernte Möglichkeit der Rettung boten"; nachdem alle Bemühungen fehl¬
geschlagen seien, sei nur noch auf ein Mittel die Aussicht offen geblieben:
die Kündigung aller geltenden Tarifverträge und Schaffung eines autonomen
Tarifs. So zu lesen im Sonntagsleiter der Schlesischen Zeitung vom 24. Januar.
Wenn das nicht allertollste Demagogie (und zugleich geschmackloseste Über¬
treibung) ist, dann giebts überhaupt keine Demagogie. Aber der Vorwurf ist
gegenstandslos, denn ich rede überhaupt nicht zum Demos. Die Grenzboten
werden nur von Gebildeten, hauptsächlich von akademisch Gebildeten gelesen.
Demagogisch würde es sein, wenn ich fleißig ausmalte, wie die Gymnasiallehrer
und die Richter im Staate zurückgesetzt werden; aber ich spreche von den Leiden
solcher, die mich nicht lesen, zu solchen, die von diesen Leiden nicht unmittelbar
betroffen werden; das ist in keinem Sinne demagogisch. Und das thue ich
nicht etwa, um Mitleid zu erregen. Damit würde ich ganz zweckwidrig handeln.
In der Politik waltet — das ist einer der Punkte, in denen ich mit Sombart
übereinstimme — die Selbstsucht ausschließlich, und die edlern und feinern Em¬
pfindungen des Herzens sind ganz ohnmächtig; diese walten nur im Privat¬
verkehr von Mensch zu Mensch. Es ist möglich, daß eine humane und christ¬
liche Gesinnung, wenn sie allgemein verbreitet ist, mittelbar auch auf die Gesetz¬
gebung und Verwaltung Einfluß übt, aber nachweisbar ist dieser Einfluß nicht;
man sieht nichts davon in der Weltgeschichte, und der Politiker muß sich sorg¬
fältig hüten, die edlern menschlichen Empfindungen in seine Berechnungen ein-
zubeziehen. Zu einem doppelten Zwecke weise ich von Zeit zu Zeit auf die
Übel hin, unter denen die Lohnarbeiter leiden. Erstens will ich damit klar
machen, daß die Lohnarbeiter bei einer solchen Lage, die die einen erleiden,
von der die andern bedroht werden, und bei dem Bildungsgrade, den ihnen
der Staat aufgezwungen hat, notwendig unzufrieden, ja revolutionär gesinnt
sein müssen, daß bei ihrer Zusammenhäufung und bei der heutigen Leichtigkeit
der gegenseitigen Mitteilung eine großartige^organisirte Arbeiterbewegung selbst¬
verständlich ist, daß es mehr als kindlich ist, diese Bewegung sür ein Werk
von Hetzern anzusehen, obwohl es bei unsrer Überproduktion an Intelligenzen


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[0349] Zur Kritik des Marxismus aus dem verständigen Hannover gekommen ist, unter dem betäubenden Lärm seiner neuen Freunde an seinem klaren Verstände irre zu werden und den agrarischen Unsinn zu glauben anfängt. Manche werfen mir vor, meine Ausführungen seien demagogisch in der Form und im Ton. Darauf könnte ich erwidern, daß das heutzutage kein Unrecht sei; denn da durch unsre Verfassung der ganze Demos zur Teilnahme am politischen Leben berufen ist, braucht er doch Führer, und es giebt keine Partei, deren Führer es nicht für nötig erachteten, die Leidenschaften der Ge¬ führten zu erregen oder derer, die sie gern führen möchten. Man lese nur ein beliebiges Agrarierblatt. „Verzweiflungsvoll suchten die Vertreter der deutscheu Landwirtschaft nach irgend welchen Mitteln, welche eine auch nur entfernte Möglichkeit der Rettung boten"; nachdem alle Bemühungen fehl¬ geschlagen seien, sei nur noch auf ein Mittel die Aussicht offen geblieben: die Kündigung aller geltenden Tarifverträge und Schaffung eines autonomen Tarifs. So zu lesen im Sonntagsleiter der Schlesischen Zeitung vom 24. Januar. Wenn das nicht allertollste Demagogie (und zugleich geschmackloseste Über¬ treibung) ist, dann giebts überhaupt keine Demagogie. Aber der Vorwurf ist gegenstandslos, denn ich rede überhaupt nicht zum Demos. Die Grenzboten werden nur von Gebildeten, hauptsächlich von akademisch Gebildeten gelesen. Demagogisch würde es sein, wenn ich fleißig ausmalte, wie die Gymnasiallehrer und die Richter im Staate zurückgesetzt werden; aber ich spreche von den Leiden solcher, die mich nicht lesen, zu solchen, die von diesen Leiden nicht unmittelbar betroffen werden; das ist in keinem Sinne demagogisch. Und das thue ich nicht etwa, um Mitleid zu erregen. Damit würde ich ganz zweckwidrig handeln. In der Politik waltet — das ist einer der Punkte, in denen ich mit Sombart übereinstimme — die Selbstsucht ausschließlich, und die edlern und feinern Em¬ pfindungen des Herzens sind ganz ohnmächtig; diese walten nur im Privat¬ verkehr von Mensch zu Mensch. Es ist möglich, daß eine humane und christ¬ liche Gesinnung, wenn sie allgemein verbreitet ist, mittelbar auch auf die Gesetz¬ gebung und Verwaltung Einfluß übt, aber nachweisbar ist dieser Einfluß nicht; man sieht nichts davon in der Weltgeschichte, und der Politiker muß sich sorg¬ fältig hüten, die edlern menschlichen Empfindungen in seine Berechnungen ein- zubeziehen. Zu einem doppelten Zwecke weise ich von Zeit zu Zeit auf die Übel hin, unter denen die Lohnarbeiter leiden. Erstens will ich damit klar machen, daß die Lohnarbeiter bei einer solchen Lage, die die einen erleiden, von der die andern bedroht werden, und bei dem Bildungsgrade, den ihnen der Staat aufgezwungen hat, notwendig unzufrieden, ja revolutionär gesinnt sein müssen, daß bei ihrer Zusammenhäufung und bei der heutigen Leichtigkeit der gegenseitigen Mitteilung eine großartige^organisirte Arbeiterbewegung selbst¬ verständlich ist, daß es mehr als kindlich ist, diese Bewegung sür ein Werk von Hetzern anzusehen, obwohl es bei unsrer Überproduktion an Intelligenzen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/349>, abgerufen am 27.09.2024.