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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Zur Rritik des Marxismus

' 5. Schon aus diesem Grunde ist es undenkbar, daß irgend einmal die
Erde zum Himmel werden könnte; außerdem noch darum, weil der Mensch
nichts mehr auf Erden zu schaffen hätte, wenn die großen Fragen, die die
Kulturwelt bewegen, jemals gelöst würden. Eben die Arbeit an der Lösung
der metaphysischen, der sozialen, der sittlichen, der Rechtsfragen und der Kampf
darum bilden den Lebensinhalt der zivilisirten Menschheit; wo diese Arbeit
und dieser Kampf aufhören oder sich noch gar nicht eingestellt haben, bei den
abgestorbnen und den Naturvölkern, ist das Leben mehr tierisch als menschlich.
Wären aber diese Fragen gelöst, so würde uns nichts mehr zu thun übrig
bleiben, als die Lösung müßig zu beschauen; das würde zwar kein tierisches
Dasein sein, aber wir würden uns dabei ebenso zu Tode langweilen, wie
wenn wir den ganzen Tag nichts zu thun hätten, als eine schöne Gegend
oder schöne Bilder zu betrachten.

Diese fünf Sätze sind nicht aus dem Gehirn herausgesponnen, sondern von
der beobachteten Wirklichkeit abgezogen, zu der eben die gesellschaftlichen und
die wirtschaftlichen Zustände und Veränderungen gehören. Daß man mit
dieser Weltanschauung alles andre eher als ein Sozialist oder gar Marxist
sein kann, sieht jeder ein, der von diesen Systemen auch nur einen oberfläch¬
lichen Begriff hat; aber das hindert mich so wenig, die ungeheure Bedeutung
Marxens für Wissenschaft und Leben anzuerkennen, als mir der Umstand, daß
ich kein Hegelianer und seit mehr als zwanzig Jahren kein römischer Katholik
mehr bin, die Würdigung Hegels oder der römischen Kirche verschließt.

^ Marxens Bedeutung liegt nun zunächst nicht in seiner ganz scholastischen
Wert- und Mehrwertlehre, in die sich sowohl seine Jünger als seine Gegner
verbissen habe". Was an dieser Lehre wertvoll ist, das ist schon vor Marx
dagewesen, aber freilich durch den von ihm eingeführten Sprachgebrauch erst
recht wirksam geworden. Man hat seit Smith gewußt, daß es für gewöhnlich
hauptsächlich die Arbeit ist, was den Tauschwert erzeugt. Betrachtet man die
Entstehung des Tauschwertes nicht in ihren Anfängen, sondern beim Abschluß,
so kann man auch sagen, er entstehe durch das Spiel von Angebot und Nach¬
frage,'") und diese Ausdrucksweise war seit Smith gebräuchlich geworden.
Indem nun Marx diese zweite durch die andre verdrängte und durch seine
deutscheu Jünger seiner Lehre einen zahlreichen Anhang gewann, steigerte er
das Kraftgefühl der Arbeiter. Diese leben seitdem der Überzeugung: wir,
die Arbeiter, sind es, die alle Werte schaffen, nicht das Kapital. Weit



") Was da gebildet wird, ist der Preis, aber mich Marx hat erkannt, daß Preis und
Tauschwert einunddasselbe sind. "Was wird beim gewöhnlichen Verknus veräußert? Nicht
der Wert der verkauften Ware, denn dieser ändert nur die Form. Er existirt als Preis ideell
in der Ware, bevor er reell in der Form von Geld in die Hand des Verkäufers übergeht.
Was wirklich veräußert wird, ist der Gebrauchswert der Ware, die Ware als Gebrauchswert."
Kapital III, 33".
Zur Rritik des Marxismus

' 5. Schon aus diesem Grunde ist es undenkbar, daß irgend einmal die
Erde zum Himmel werden könnte; außerdem noch darum, weil der Mensch
nichts mehr auf Erden zu schaffen hätte, wenn die großen Fragen, die die
Kulturwelt bewegen, jemals gelöst würden. Eben die Arbeit an der Lösung
der metaphysischen, der sozialen, der sittlichen, der Rechtsfragen und der Kampf
darum bilden den Lebensinhalt der zivilisirten Menschheit; wo diese Arbeit
und dieser Kampf aufhören oder sich noch gar nicht eingestellt haben, bei den
abgestorbnen und den Naturvölkern, ist das Leben mehr tierisch als menschlich.
Wären aber diese Fragen gelöst, so würde uns nichts mehr zu thun übrig
bleiben, als die Lösung müßig zu beschauen; das würde zwar kein tierisches
Dasein sein, aber wir würden uns dabei ebenso zu Tode langweilen, wie
wenn wir den ganzen Tag nichts zu thun hätten, als eine schöne Gegend
oder schöne Bilder zu betrachten.

Diese fünf Sätze sind nicht aus dem Gehirn herausgesponnen, sondern von
der beobachteten Wirklichkeit abgezogen, zu der eben die gesellschaftlichen und
die wirtschaftlichen Zustände und Veränderungen gehören. Daß man mit
dieser Weltanschauung alles andre eher als ein Sozialist oder gar Marxist
sein kann, sieht jeder ein, der von diesen Systemen auch nur einen oberfläch¬
lichen Begriff hat; aber das hindert mich so wenig, die ungeheure Bedeutung
Marxens für Wissenschaft und Leben anzuerkennen, als mir der Umstand, daß
ich kein Hegelianer und seit mehr als zwanzig Jahren kein römischer Katholik
mehr bin, die Würdigung Hegels oder der römischen Kirche verschließt.

^ Marxens Bedeutung liegt nun zunächst nicht in seiner ganz scholastischen
Wert- und Mehrwertlehre, in die sich sowohl seine Jünger als seine Gegner
verbissen habe». Was an dieser Lehre wertvoll ist, das ist schon vor Marx
dagewesen, aber freilich durch den von ihm eingeführten Sprachgebrauch erst
recht wirksam geworden. Man hat seit Smith gewußt, daß es für gewöhnlich
hauptsächlich die Arbeit ist, was den Tauschwert erzeugt. Betrachtet man die
Entstehung des Tauschwertes nicht in ihren Anfängen, sondern beim Abschluß,
so kann man auch sagen, er entstehe durch das Spiel von Angebot und Nach¬
frage,'") und diese Ausdrucksweise war seit Smith gebräuchlich geworden.
Indem nun Marx diese zweite durch die andre verdrängte und durch seine
deutscheu Jünger seiner Lehre einen zahlreichen Anhang gewann, steigerte er
das Kraftgefühl der Arbeiter. Diese leben seitdem der Überzeugung: wir,
die Arbeiter, sind es, die alle Werte schaffen, nicht das Kapital. Weit



«) Was da gebildet wird, ist der Preis, aber mich Marx hat erkannt, daß Preis und
Tauschwert einunddasselbe sind. „Was wird beim gewöhnlichen Verknus veräußert? Nicht
der Wert der verkauften Ware, denn dieser ändert nur die Form. Er existirt als Preis ideell
in der Ware, bevor er reell in der Form von Geld in die Hand des Verkäufers übergeht.
Was wirklich veräußert wird, ist der Gebrauchswert der Ware, die Ware als Gebrauchswert."
Kapital III, 33«.
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[0291] Zur Rritik des Marxismus ' 5. Schon aus diesem Grunde ist es undenkbar, daß irgend einmal die Erde zum Himmel werden könnte; außerdem noch darum, weil der Mensch nichts mehr auf Erden zu schaffen hätte, wenn die großen Fragen, die die Kulturwelt bewegen, jemals gelöst würden. Eben die Arbeit an der Lösung der metaphysischen, der sozialen, der sittlichen, der Rechtsfragen und der Kampf darum bilden den Lebensinhalt der zivilisirten Menschheit; wo diese Arbeit und dieser Kampf aufhören oder sich noch gar nicht eingestellt haben, bei den abgestorbnen und den Naturvölkern, ist das Leben mehr tierisch als menschlich. Wären aber diese Fragen gelöst, so würde uns nichts mehr zu thun übrig bleiben, als die Lösung müßig zu beschauen; das würde zwar kein tierisches Dasein sein, aber wir würden uns dabei ebenso zu Tode langweilen, wie wenn wir den ganzen Tag nichts zu thun hätten, als eine schöne Gegend oder schöne Bilder zu betrachten. Diese fünf Sätze sind nicht aus dem Gehirn herausgesponnen, sondern von der beobachteten Wirklichkeit abgezogen, zu der eben die gesellschaftlichen und die wirtschaftlichen Zustände und Veränderungen gehören. Daß man mit dieser Weltanschauung alles andre eher als ein Sozialist oder gar Marxist sein kann, sieht jeder ein, der von diesen Systemen auch nur einen oberfläch¬ lichen Begriff hat; aber das hindert mich so wenig, die ungeheure Bedeutung Marxens für Wissenschaft und Leben anzuerkennen, als mir der Umstand, daß ich kein Hegelianer und seit mehr als zwanzig Jahren kein römischer Katholik mehr bin, die Würdigung Hegels oder der römischen Kirche verschließt. ^ Marxens Bedeutung liegt nun zunächst nicht in seiner ganz scholastischen Wert- und Mehrwertlehre, in die sich sowohl seine Jünger als seine Gegner verbissen habe». Was an dieser Lehre wertvoll ist, das ist schon vor Marx dagewesen, aber freilich durch den von ihm eingeführten Sprachgebrauch erst recht wirksam geworden. Man hat seit Smith gewußt, daß es für gewöhnlich hauptsächlich die Arbeit ist, was den Tauschwert erzeugt. Betrachtet man die Entstehung des Tauschwertes nicht in ihren Anfängen, sondern beim Abschluß, so kann man auch sagen, er entstehe durch das Spiel von Angebot und Nach¬ frage,'") und diese Ausdrucksweise war seit Smith gebräuchlich geworden. Indem nun Marx diese zweite durch die andre verdrängte und durch seine deutscheu Jünger seiner Lehre einen zahlreichen Anhang gewann, steigerte er das Kraftgefühl der Arbeiter. Diese leben seitdem der Überzeugung: wir, die Arbeiter, sind es, die alle Werte schaffen, nicht das Kapital. Weit «) Was da gebildet wird, ist der Preis, aber mich Marx hat erkannt, daß Preis und Tauschwert einunddasselbe sind. „Was wird beim gewöhnlichen Verknus veräußert? Nicht der Wert der verkauften Ware, denn dieser ändert nur die Form. Er existirt als Preis ideell in der Ware, bevor er reell in der Form von Geld in die Hand des Verkäufers übergeht. Was wirklich veräußert wird, ist der Gebrauchswert der Ware, die Ware als Gebrauchswert." Kapital III, 33«.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/291>, abgerufen am 27.09.2024.