Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches Von der Unfallversicherung. In der letzten Januarwoche hat sich der Maßgebliches und Unmaßgebliches Von der Unfallversicherung. In der letzten Januarwoche hat sich der <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0260" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224506"/> </div> <div n="1"> <head> Maßgebliches und Unmaßgebliches</head><lb/> <div n="2"> <head> Von der Unfallversicherung.</head> <p xml:id="ID_683" next="#ID_684"> In der letzten Januarwoche hat sich der<lb/> Reichstag hauptsächlich mit der Verbesserung der Unfallversicherung beschäftigt. Es<lb/> ist das einer der Gegenstände, in denen die Unheimlichkeit des gegenwärtigen Ge¬<lb/> sellschaftszustandes zu Tage tritt. Unheimlich ist zunächst die moderne Arbeitsweise,<lb/> die soviel Knochenbrüche, Verbrühungen, Vergiftungen und andre leibliche Schädi¬<lb/> gungen mit sich bringt. Sind doch im Jahre 1895 nicht weniger als 310139<lb/> Betriebsunfälle angemeldet worden, von denen 6448 tödlich verlaufen sind, 41052<lb/> dauernde, 26 321 vorübergehende Erwerbsunfähigkeit zur Folge gehabt haben. Un¬<lb/> heimlich ist ferner der Umstand, daß bei der gewaltigen Zahl der Arbeiter und bei<lb/> ihrer ganzen Daseinsweise ein Verunglückter weder von seiner Familie noch von<lb/> einem kleinern Gemeinwesen, in das er fest eingegliedert wäre, erhalte» werden<lb/> kann, sondern daß der Staat mit einer unförmigen Zurüstung oder vielmehr mit<lb/> drei solchen Znrüsiuugen für die Arbeitsunfähigen und ihre nicht erwerbsfähigen<lb/> Familienmitglieder eintreten muß, Zurüstungen, die durch ihre Größe und Unüber¬<lb/> sehbarkeit und ihren verwickelten Bau selber wieder den Eindruck des Unheim¬<lb/> lichen machen. Das Leben der Menschen ist früher im allgemeinen nicht weniger,<lb/> sondern mehr gefährdet gewesen als heute. Aber die Todesursache» lagen teils in<lb/> der Natur, die Mißwnchs und Pest sendete, teils in der Wildheit und Leiden¬<lb/> schaftlichkeit der Mensche», die sich weiter nicht darüber wanderten, wenn sie von<lb/> andern erschlagen wurden, nachdem sie selbst genug andre im Zor» oder ans Nach¬<lb/> sucht oder Raubsucht unigebracht hatten. Die Zahl der Erwerbsunfähigen und<lb/> dabei Besitzlosen aber war niemals so groß, daß nicht jeder von ihnen von den<lb/> Besitzenden des engern Kreises, dem er angehörte, hätte ernährt werden könne».<lb/> Heute wird einer nicht von Menschen verwundet, sondern von der dummen Maschine,<lb/> die er bedient, und die eine ihm gänzlich gleichgiltige Ware erzeugt für Käufer,<lb/> die ihm nicht allein gleichgiltig, fondern unbekannt sind, die vielleicht zweitausend<lb/> Meilen entfernt von ihm leben, und die Verwundung ist vielleicht durch den Um¬<lb/> stand herbeigeführt worden, daß aus ihm uubekaimten und gleichgiltige» Ursachen<lb/> große Bestellungen eingegangen sind, die zu übermäßigem Hasten zwangen. Der<lb/> Verletzte aber hat niemand, an den er sich der Natur der Sache nach oder nach<lb/> altem Volksbrauch halten könnte; solle» nicht jährlich 60 000 und mehr Verletzte<lb/> als bettelnde Krüppel oder sieche und ein paar hu»derttn»se»d Angehörige von<lb/> solche» a»f die Lcmdstrnße geworfen werden, so in»ß der Staat durch großartige<lb/> Zarüstnnge» erst Verpflichtete schaffen, wobei dann wieder der unheimliche Umstand<lb/> hervortritt, daß die Verpflichtete» und die zu Unterstützenden einander nicht kennen,<lb/> einander »indes eingehe», daß die Zahlenden wegen der ihnen auferlegten Beisteuer<lb/> und die Versicherten wegen der unzulänglichen Versorgung murren. So entwickeln<lb/> wir uns einem Zustande entgegen, wo zwar jeder von jedem abhängig ist, aber<lb/> keiner keinen kennt, und keiner gegen keinen persönliche, seinem Gemüt und natür¬<lb/> lichen Beziehungen entspringende Verpflichtungen hat, svdnß das künstliche Ge¬<lb/> triebe nur durch den Staatszwang im Gange erhalten werden kauu; einem Zu¬<lb/> stande, der zwar den sozialistischen Utopien sehr unähnlich, ober nichts desto weniger<lb/> Kommunismus ist. Das ist ja der reine Kommunismus, rief am 26. Januar der<lb/> Abgeordnete Hitze erschrocken, als Graf Kauitz die Forderung ausgesprochen hatte,<lb/> man solle entweder diese gu»ze Gesetzgebung wieder aus der Welt schaffen, oder<lb/> die Kosten auf dem Wege allgemeiner Besteuerung ausbringen, wobei dann die</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0260]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Von der Unfallversicherung. In der letzten Januarwoche hat sich der
Reichstag hauptsächlich mit der Verbesserung der Unfallversicherung beschäftigt. Es
ist das einer der Gegenstände, in denen die Unheimlichkeit des gegenwärtigen Ge¬
sellschaftszustandes zu Tage tritt. Unheimlich ist zunächst die moderne Arbeitsweise,
die soviel Knochenbrüche, Verbrühungen, Vergiftungen und andre leibliche Schädi¬
gungen mit sich bringt. Sind doch im Jahre 1895 nicht weniger als 310139
Betriebsunfälle angemeldet worden, von denen 6448 tödlich verlaufen sind, 41052
dauernde, 26 321 vorübergehende Erwerbsunfähigkeit zur Folge gehabt haben. Un¬
heimlich ist ferner der Umstand, daß bei der gewaltigen Zahl der Arbeiter und bei
ihrer ganzen Daseinsweise ein Verunglückter weder von seiner Familie noch von
einem kleinern Gemeinwesen, in das er fest eingegliedert wäre, erhalte» werden
kann, sondern daß der Staat mit einer unförmigen Zurüstung oder vielmehr mit
drei solchen Znrüsiuugen für die Arbeitsunfähigen und ihre nicht erwerbsfähigen
Familienmitglieder eintreten muß, Zurüstungen, die durch ihre Größe und Unüber¬
sehbarkeit und ihren verwickelten Bau selber wieder den Eindruck des Unheim¬
lichen machen. Das Leben der Menschen ist früher im allgemeinen nicht weniger,
sondern mehr gefährdet gewesen als heute. Aber die Todesursache» lagen teils in
der Natur, die Mißwnchs und Pest sendete, teils in der Wildheit und Leiden¬
schaftlichkeit der Mensche», die sich weiter nicht darüber wanderten, wenn sie von
andern erschlagen wurden, nachdem sie selbst genug andre im Zor» oder ans Nach¬
sucht oder Raubsucht unigebracht hatten. Die Zahl der Erwerbsunfähigen und
dabei Besitzlosen aber war niemals so groß, daß nicht jeder von ihnen von den
Besitzenden des engern Kreises, dem er angehörte, hätte ernährt werden könne».
Heute wird einer nicht von Menschen verwundet, sondern von der dummen Maschine,
die er bedient, und die eine ihm gänzlich gleichgiltige Ware erzeugt für Käufer,
die ihm nicht allein gleichgiltig, fondern unbekannt sind, die vielleicht zweitausend
Meilen entfernt von ihm leben, und die Verwundung ist vielleicht durch den Um¬
stand herbeigeführt worden, daß aus ihm uubekaimten und gleichgiltige» Ursachen
große Bestellungen eingegangen sind, die zu übermäßigem Hasten zwangen. Der
Verletzte aber hat niemand, an den er sich der Natur der Sache nach oder nach
altem Volksbrauch halten könnte; solle» nicht jährlich 60 000 und mehr Verletzte
als bettelnde Krüppel oder sieche und ein paar hu»derttn»se»d Angehörige von
solche» a»f die Lcmdstrnße geworfen werden, so in»ß der Staat durch großartige
Zarüstnnge» erst Verpflichtete schaffen, wobei dann wieder der unheimliche Umstand
hervortritt, daß die Verpflichtete» und die zu Unterstützenden einander nicht kennen,
einander »indes eingehe», daß die Zahlenden wegen der ihnen auferlegten Beisteuer
und die Versicherten wegen der unzulänglichen Versorgung murren. So entwickeln
wir uns einem Zustande entgegen, wo zwar jeder von jedem abhängig ist, aber
keiner keinen kennt, und keiner gegen keinen persönliche, seinem Gemüt und natür¬
lichen Beziehungen entspringende Verpflichtungen hat, svdnß das künstliche Ge¬
triebe nur durch den Staatszwang im Gange erhalten werden kauu; einem Zu¬
stande, der zwar den sozialistischen Utopien sehr unähnlich, ober nichts desto weniger
Kommunismus ist. Das ist ja der reine Kommunismus, rief am 26. Januar der
Abgeordnete Hitze erschrocken, als Graf Kauitz die Forderung ausgesprochen hatte,
man solle entweder diese gu»ze Gesetzgebung wieder aus der Welt schaffen, oder
die Kosten auf dem Wege allgemeiner Besteuerung ausbringen, wobei dann die
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |