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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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ihm geschenkt zu nehmen. Und da er mit meinem natürlichen, sehr unregel¬
mäßig gestalteten Gebiß nicht zurecht kam, so brach er mir von einem der
wenigen guten Zähne, die ich noch hatte, die Hälfte ab, um sein künstliches
hineinzuzwängen. Alles Sträuben half mir nichts: das schadet gar nichts,
versicherte er. Natürlich konnte ich mit dem neuen Gebiß weder essen noch
sprechen, trug es aber immer in der Westentasche, um es einzusetzen, wenn ich
mit S. zusammenzutreffen gedachte. Er traute mir nicht recht und inspizirte
jedesmal, ob ich es auch trüge. Die Predigt hielt ich nach wie vor ohne
Gebiß, S. aber war jedesmal entzückt von der deutlichen Aussprache, zu der
er mir verholfen habe. Die Kneipe mußte ich wider alle meine Grundsätze
und Gewohnheiten täglich zweimal besuchen, weil ich von meiner Quartier¬
wirtin weder Mittag- noch Abendbrot erhielt. Das schadete aber nichts,
kam es doch gewöhnlich zu einer angeregten und oft für mich interessanten
und lehrreichen Unterhaltung. Die Männer der Honoratiorengesellschaft be¬
suchten die Kneipe mindestens viermal am Tage. Früh gingen sie zur "Eilf-
uhrmeß"; gleich nach Tische rannten sie zum Kaffee mit obligatem Skat oder
Sechsundsechzig. Es gedieh ihnen nämlich -- gedeiht ihnen hoffentlich heute
noch -- vortrefflich, sodaß die rundlichen Körperformen vorherrschten; da
fürchteten sie sich nun entsetzlich vor Schlaganfüllen, und um der Versuchung
zum Nachmittagsschlaf zu entfliehen, eilten sie vom Mittagstisch zum Gesellschafts¬
kaffee. Zwischen vier und fünf dann kamen sie zusammen, um vom politischen
Inhalt der Nachmittagblätter Kenntnis zu nehmen und ihn zu besprechen, und
nach dem "Nachtessen" kam dann erst das Eigentliche, das, je nachdem, bis
um zehn, elf oder zwölf dauerte. Herren von auswärts, die mit den Ein¬
richtungen der badischen Städte bekannt sind, gehen des Abends gewöhnlich
in das sozusagen amtliche Kneiplokal der geschlossenen Honoratiorengesellschaft,
in Offenburg hieß es das kalte Loch, in Konstanz der Gerstensaat; hier sind
sie sicher, standesgemäße Gesellschaft und freundliche Aufnahme zu finden.
Freilich hat ein solches Lokal seine Gezeiten. Wenn es wieder einmal frisch
gestrichen und tapezirt und mit einer großartigen Feier eingeweiht worden ist,
sind vier Wochen lang alle Plätze besetzt; dann schwindet mit der Güte des
Bieres auch die Begeisterung nach und nach, und zuletzt sitzen nur noch drei
oder vier Prinzipientreue, ingrimmig Rauch passend, in dem weiten Raume,
ab und zu das in der Ofenecke nickende Schenkmädchen mit dem Zuruf
"Zündele,"') e Vierecke" aufschreckend. Jntlekofer, der Witwer war, und ich
trafen uns im Winter täglich und im Sommer an Regentagen zum Abend-
essen "ins Giegers," und erlebten auch dort einmal einen großen Wandel aus
höhern als Bierrücksichten. Alle Offenburger Honoratioren waren selbstverständ¬
lich national-liberale Bismarckverehrer. Wie ihre politische Gesinnung entstanden



^) So genannt, weil es brandrote Haare hatte.
Jenseits der Mainlinie

ihm geschenkt zu nehmen. Und da er mit meinem natürlichen, sehr unregel¬
mäßig gestalteten Gebiß nicht zurecht kam, so brach er mir von einem der
wenigen guten Zähne, die ich noch hatte, die Hälfte ab, um sein künstliches
hineinzuzwängen. Alles Sträuben half mir nichts: das schadet gar nichts,
versicherte er. Natürlich konnte ich mit dem neuen Gebiß weder essen noch
sprechen, trug es aber immer in der Westentasche, um es einzusetzen, wenn ich
mit S. zusammenzutreffen gedachte. Er traute mir nicht recht und inspizirte
jedesmal, ob ich es auch trüge. Die Predigt hielt ich nach wie vor ohne
Gebiß, S. aber war jedesmal entzückt von der deutlichen Aussprache, zu der
er mir verholfen habe. Die Kneipe mußte ich wider alle meine Grundsätze
und Gewohnheiten täglich zweimal besuchen, weil ich von meiner Quartier¬
wirtin weder Mittag- noch Abendbrot erhielt. Das schadete aber nichts,
kam es doch gewöhnlich zu einer angeregten und oft für mich interessanten
und lehrreichen Unterhaltung. Die Männer der Honoratiorengesellschaft be¬
suchten die Kneipe mindestens viermal am Tage. Früh gingen sie zur „Eilf-
uhrmeß"; gleich nach Tische rannten sie zum Kaffee mit obligatem Skat oder
Sechsundsechzig. Es gedieh ihnen nämlich — gedeiht ihnen hoffentlich heute
noch — vortrefflich, sodaß die rundlichen Körperformen vorherrschten; da
fürchteten sie sich nun entsetzlich vor Schlaganfüllen, und um der Versuchung
zum Nachmittagsschlaf zu entfliehen, eilten sie vom Mittagstisch zum Gesellschafts¬
kaffee. Zwischen vier und fünf dann kamen sie zusammen, um vom politischen
Inhalt der Nachmittagblätter Kenntnis zu nehmen und ihn zu besprechen, und
nach dem „Nachtessen" kam dann erst das Eigentliche, das, je nachdem, bis
um zehn, elf oder zwölf dauerte. Herren von auswärts, die mit den Ein¬
richtungen der badischen Städte bekannt sind, gehen des Abends gewöhnlich
in das sozusagen amtliche Kneiplokal der geschlossenen Honoratiorengesellschaft,
in Offenburg hieß es das kalte Loch, in Konstanz der Gerstensaat; hier sind
sie sicher, standesgemäße Gesellschaft und freundliche Aufnahme zu finden.
Freilich hat ein solches Lokal seine Gezeiten. Wenn es wieder einmal frisch
gestrichen und tapezirt und mit einer großartigen Feier eingeweiht worden ist,
sind vier Wochen lang alle Plätze besetzt; dann schwindet mit der Güte des
Bieres auch die Begeisterung nach und nach, und zuletzt sitzen nur noch drei
oder vier Prinzipientreue, ingrimmig Rauch passend, in dem weiten Raume,
ab und zu das in der Ofenecke nickende Schenkmädchen mit dem Zuruf
„Zündele,"') e Vierecke" aufschreckend. Jntlekofer, der Witwer war, und ich
trafen uns im Winter täglich und im Sommer an Regentagen zum Abend-
essen „ins Giegers," und erlebten auch dort einmal einen großen Wandel aus
höhern als Bierrücksichten. Alle Offenburger Honoratioren waren selbstverständ¬
lich national-liberale Bismarckverehrer. Wie ihre politische Gesinnung entstanden



^) So genannt, weil es brandrote Haare hatte.
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[0246] Jenseits der Mainlinie ihm geschenkt zu nehmen. Und da er mit meinem natürlichen, sehr unregel¬ mäßig gestalteten Gebiß nicht zurecht kam, so brach er mir von einem der wenigen guten Zähne, die ich noch hatte, die Hälfte ab, um sein künstliches hineinzuzwängen. Alles Sträuben half mir nichts: das schadet gar nichts, versicherte er. Natürlich konnte ich mit dem neuen Gebiß weder essen noch sprechen, trug es aber immer in der Westentasche, um es einzusetzen, wenn ich mit S. zusammenzutreffen gedachte. Er traute mir nicht recht und inspizirte jedesmal, ob ich es auch trüge. Die Predigt hielt ich nach wie vor ohne Gebiß, S. aber war jedesmal entzückt von der deutlichen Aussprache, zu der er mir verholfen habe. Die Kneipe mußte ich wider alle meine Grundsätze und Gewohnheiten täglich zweimal besuchen, weil ich von meiner Quartier¬ wirtin weder Mittag- noch Abendbrot erhielt. Das schadete aber nichts, kam es doch gewöhnlich zu einer angeregten und oft für mich interessanten und lehrreichen Unterhaltung. Die Männer der Honoratiorengesellschaft be¬ suchten die Kneipe mindestens viermal am Tage. Früh gingen sie zur „Eilf- uhrmeß"; gleich nach Tische rannten sie zum Kaffee mit obligatem Skat oder Sechsundsechzig. Es gedieh ihnen nämlich — gedeiht ihnen hoffentlich heute noch — vortrefflich, sodaß die rundlichen Körperformen vorherrschten; da fürchteten sie sich nun entsetzlich vor Schlaganfüllen, und um der Versuchung zum Nachmittagsschlaf zu entfliehen, eilten sie vom Mittagstisch zum Gesellschafts¬ kaffee. Zwischen vier und fünf dann kamen sie zusammen, um vom politischen Inhalt der Nachmittagblätter Kenntnis zu nehmen und ihn zu besprechen, und nach dem „Nachtessen" kam dann erst das Eigentliche, das, je nachdem, bis um zehn, elf oder zwölf dauerte. Herren von auswärts, die mit den Ein¬ richtungen der badischen Städte bekannt sind, gehen des Abends gewöhnlich in das sozusagen amtliche Kneiplokal der geschlossenen Honoratiorengesellschaft, in Offenburg hieß es das kalte Loch, in Konstanz der Gerstensaat; hier sind sie sicher, standesgemäße Gesellschaft und freundliche Aufnahme zu finden. Freilich hat ein solches Lokal seine Gezeiten. Wenn es wieder einmal frisch gestrichen und tapezirt und mit einer großartigen Feier eingeweiht worden ist, sind vier Wochen lang alle Plätze besetzt; dann schwindet mit der Güte des Bieres auch die Begeisterung nach und nach, und zuletzt sitzen nur noch drei oder vier Prinzipientreue, ingrimmig Rauch passend, in dem weiten Raume, ab und zu das in der Ofenecke nickende Schenkmädchen mit dem Zuruf „Zündele,"') e Vierecke" aufschreckend. Jntlekofer, der Witwer war, und ich trafen uns im Winter täglich und im Sommer an Regentagen zum Abend- essen „ins Giegers," und erlebten auch dort einmal einen großen Wandel aus höhern als Bierrücksichten. Alle Offenburger Honoratioren waren selbstverständ¬ lich national-liberale Bismarckverehrer. Wie ihre politische Gesinnung entstanden ^) So genannt, weil es brandrote Haare hatte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/246>, abgerufen am 27.09.2024.