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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Die sterbende Dichtkunst

ging, indem es seine Kultur über unzählige Barbarenvölker ausbreitete, an
diesen Barbaren gewissermaßen zu Grunde. Wer will uns sagen, was von
der spätern griechischen Litteratur noch echt griechisch, d. h. aus dem Kerne
griechischen Volkstums hervorgegangen ist? Um eine moderne Parallele zu
ziehen: wenn in den französisch gebildeten obern Schichten des russischen
Volks eine französische Litteratur entstanden wäre, würde diese den echt fran¬
zösischen Charakter tragen? So hat es seine Bedenken, das Altertum, das
sür das Leben der Völker ganz andre Bedingungen hatte als die spätern
Zeiten, das nur eine Kultur, die griechisch-römische, und die moderne Reibung
der Kulturen gar nicht kannte, wie es noch so oft geschieht, als vorbildlich
für die Kulturentwicklung überhaupt und zumal für die der Künste anzusehen.
Es giebt moderne Kulturvölker, die, wie das deutsche und das französische,
bereits zwei selbständige Entwicklungen ihrer Poesie gehabt haben, und jeden¬
falls gilt das Wort Treitschkes, daß "Kunst und Dichtung, wenn gleich nicht
jede Zeit das Größte schaffen konnte, allen Kulturvölkern immer so unentbehrlich
geblieben sind wie das liebe Brot," von der Reformation an. Bis zu einem
gewissen Grade blieb die Reihenfolge: episch, lyrisch, dramatisch in der Dichtung
jedes Volkes gewahrt, wir Deutschen hatten eher ein Volksepos als ein Volks¬
lied, aber neben dem Volksepos anch gleich ein Kunstepos und neben diesem
wieder eine Kunstlyrik, während später das Drama nur in den Anfängen
gedieh; man sieht, die Entwicklung bei den neuern Völkern ist doch reicher
und von viel mehr Kultnreinflüffen bewegt und gekreuzt als die des Altertums.
Wenn man will, kann man selbst in der Entwicklung zur klassischen Dichtung
jene Reihenfolge wiederfinden: die Lieblingsform war zuerst die doch der Epik
zuzuzählende Fabel, dann das anakreontische Lied, dann erst beginnt das
Drama zu blühen; aber viel Bedeutung hat doch diese Reihenfolge nicht.
So ist alles in allem ein starker Einfluß der Kultur auf die Dichtung zu ver¬
spüren, und zu gewissen Zeiten erscheint die gesamte Dichtung als Kultur-
crzeugnis. Doch wird mit dem Namen und Begriff Kultur- oder akademische
Poesie gelegentlich auch wohl starker Unfug getrieben; die französische klassische
Dichtung z. V., die man gewöhnlich als rein akademisch bezeichnet, stammt
doch zu einem großen Teile aus der Tiefe des französischen Volkstums und
hat deshalb auch eine große Gewalt geübt. Verstandesgemäß, wie sie erscheint,
ist sie in ihren besten Werken doch immer noch Phantasieprodukt. Man darf
dann anch den weiten Begriff Kultur auf diesem Gebiete nicht mit dem um
vieles engern Bildung verwechseln. Diese ist es vor allem, die, von der Mode
begleitet, oft eine Art abstrakten Schönheitsideals schafft, dem dienend die
schwächer" Dichter alle Natur verlieren. Wenn dann die Reaktion auf solche
Schöuheitspoesie zum Kultus der rohen Wirklichkeit treibt, so kann wohl die
Bildung Schaden nehmen, die Kultur aber geht damit noch keineswegs zu
Grunde. Zwischen beiden Extremen aber, der abstrakten Schönheit und der


Die sterbende Dichtkunst

ging, indem es seine Kultur über unzählige Barbarenvölker ausbreitete, an
diesen Barbaren gewissermaßen zu Grunde. Wer will uns sagen, was von
der spätern griechischen Litteratur noch echt griechisch, d. h. aus dem Kerne
griechischen Volkstums hervorgegangen ist? Um eine moderne Parallele zu
ziehen: wenn in den französisch gebildeten obern Schichten des russischen
Volks eine französische Litteratur entstanden wäre, würde diese den echt fran¬
zösischen Charakter tragen? So hat es seine Bedenken, das Altertum, das
sür das Leben der Völker ganz andre Bedingungen hatte als die spätern
Zeiten, das nur eine Kultur, die griechisch-römische, und die moderne Reibung
der Kulturen gar nicht kannte, wie es noch so oft geschieht, als vorbildlich
für die Kulturentwicklung überhaupt und zumal für die der Künste anzusehen.
Es giebt moderne Kulturvölker, die, wie das deutsche und das französische,
bereits zwei selbständige Entwicklungen ihrer Poesie gehabt haben, und jeden¬
falls gilt das Wort Treitschkes, daß „Kunst und Dichtung, wenn gleich nicht
jede Zeit das Größte schaffen konnte, allen Kulturvölkern immer so unentbehrlich
geblieben sind wie das liebe Brot," von der Reformation an. Bis zu einem
gewissen Grade blieb die Reihenfolge: episch, lyrisch, dramatisch in der Dichtung
jedes Volkes gewahrt, wir Deutschen hatten eher ein Volksepos als ein Volks¬
lied, aber neben dem Volksepos anch gleich ein Kunstepos und neben diesem
wieder eine Kunstlyrik, während später das Drama nur in den Anfängen
gedieh; man sieht, die Entwicklung bei den neuern Völkern ist doch reicher
und von viel mehr Kultnreinflüffen bewegt und gekreuzt als die des Altertums.
Wenn man will, kann man selbst in der Entwicklung zur klassischen Dichtung
jene Reihenfolge wiederfinden: die Lieblingsform war zuerst die doch der Epik
zuzuzählende Fabel, dann das anakreontische Lied, dann erst beginnt das
Drama zu blühen; aber viel Bedeutung hat doch diese Reihenfolge nicht.
So ist alles in allem ein starker Einfluß der Kultur auf die Dichtung zu ver¬
spüren, und zu gewissen Zeiten erscheint die gesamte Dichtung als Kultur-
crzeugnis. Doch wird mit dem Namen und Begriff Kultur- oder akademische
Poesie gelegentlich auch wohl starker Unfug getrieben; die französische klassische
Dichtung z. V., die man gewöhnlich als rein akademisch bezeichnet, stammt
doch zu einem großen Teile aus der Tiefe des französischen Volkstums und
hat deshalb auch eine große Gewalt geübt. Verstandesgemäß, wie sie erscheint,
ist sie in ihren besten Werken doch immer noch Phantasieprodukt. Man darf
dann anch den weiten Begriff Kultur auf diesem Gebiete nicht mit dem um
vieles engern Bildung verwechseln. Diese ist es vor allem, die, von der Mode
begleitet, oft eine Art abstrakten Schönheitsideals schafft, dem dienend die
schwächer« Dichter alle Natur verlieren. Wenn dann die Reaktion auf solche
Schöuheitspoesie zum Kultus der rohen Wirklichkeit treibt, so kann wohl die
Bildung Schaden nehmen, die Kultur aber geht damit noch keineswegs zu
Grunde. Zwischen beiden Extremen aber, der abstrakten Schönheit und der


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[0240] Die sterbende Dichtkunst ging, indem es seine Kultur über unzählige Barbarenvölker ausbreitete, an diesen Barbaren gewissermaßen zu Grunde. Wer will uns sagen, was von der spätern griechischen Litteratur noch echt griechisch, d. h. aus dem Kerne griechischen Volkstums hervorgegangen ist? Um eine moderne Parallele zu ziehen: wenn in den französisch gebildeten obern Schichten des russischen Volks eine französische Litteratur entstanden wäre, würde diese den echt fran¬ zösischen Charakter tragen? So hat es seine Bedenken, das Altertum, das sür das Leben der Völker ganz andre Bedingungen hatte als die spätern Zeiten, das nur eine Kultur, die griechisch-römische, und die moderne Reibung der Kulturen gar nicht kannte, wie es noch so oft geschieht, als vorbildlich für die Kulturentwicklung überhaupt und zumal für die der Künste anzusehen. Es giebt moderne Kulturvölker, die, wie das deutsche und das französische, bereits zwei selbständige Entwicklungen ihrer Poesie gehabt haben, und jeden¬ falls gilt das Wort Treitschkes, daß „Kunst und Dichtung, wenn gleich nicht jede Zeit das Größte schaffen konnte, allen Kulturvölkern immer so unentbehrlich geblieben sind wie das liebe Brot," von der Reformation an. Bis zu einem gewissen Grade blieb die Reihenfolge: episch, lyrisch, dramatisch in der Dichtung jedes Volkes gewahrt, wir Deutschen hatten eher ein Volksepos als ein Volks¬ lied, aber neben dem Volksepos anch gleich ein Kunstepos und neben diesem wieder eine Kunstlyrik, während später das Drama nur in den Anfängen gedieh; man sieht, die Entwicklung bei den neuern Völkern ist doch reicher und von viel mehr Kultnreinflüffen bewegt und gekreuzt als die des Altertums. Wenn man will, kann man selbst in der Entwicklung zur klassischen Dichtung jene Reihenfolge wiederfinden: die Lieblingsform war zuerst die doch der Epik zuzuzählende Fabel, dann das anakreontische Lied, dann erst beginnt das Drama zu blühen; aber viel Bedeutung hat doch diese Reihenfolge nicht. So ist alles in allem ein starker Einfluß der Kultur auf die Dichtung zu ver¬ spüren, und zu gewissen Zeiten erscheint die gesamte Dichtung als Kultur- crzeugnis. Doch wird mit dem Namen und Begriff Kultur- oder akademische Poesie gelegentlich auch wohl starker Unfug getrieben; die französische klassische Dichtung z. V., die man gewöhnlich als rein akademisch bezeichnet, stammt doch zu einem großen Teile aus der Tiefe des französischen Volkstums und hat deshalb auch eine große Gewalt geübt. Verstandesgemäß, wie sie erscheint, ist sie in ihren besten Werken doch immer noch Phantasieprodukt. Man darf dann anch den weiten Begriff Kultur auf diesem Gebiete nicht mit dem um vieles engern Bildung verwechseln. Diese ist es vor allem, die, von der Mode begleitet, oft eine Art abstrakten Schönheitsideals schafft, dem dienend die schwächer« Dichter alle Natur verlieren. Wenn dann die Reaktion auf solche Schöuheitspoesie zum Kultus der rohen Wirklichkeit treibt, so kann wohl die Bildung Schaden nehmen, die Kultur aber geht damit noch keineswegs zu Grunde. Zwischen beiden Extremen aber, der abstrakten Schönheit und der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/240>, abgerufen am 29.09.2024.