Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.Die sterbende Dichtkunst aber schon vor einer größern Kulturentwicklung da waren und unter ihren Schon aus dem eben gesagten folgt, daß von einer krankhaften Richtung Die sterbende Dichtkunst aber schon vor einer größern Kulturentwicklung da waren und unter ihren Schon aus dem eben gesagten folgt, daß von einer krankhaften Richtung <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0187" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224433"/> <fw type="header" place="top"> Die sterbende Dichtkunst</fw><lb/> <p xml:id="ID_502" prev="#ID_501"> aber schon vor einer größern Kulturentwicklung da waren und unter ihren<lb/> Volksgenossen emporragten, so bleiben sie auch nach einer solchen im Kerne<lb/> ihres Wesens unverändert. ,</p><lb/> <p xml:id="ID_503" next="#ID_504"> Schon aus dem eben gesagten folgt, daß von einer krankhaften Richtung<lb/> des Gemüts bei Dichtern und solchen, die dichterische Werke genießen, nicht<lb/> die Rede sein kann. Der mit lebhafter Phantasie (und dem ihr entsprechenden<lb/> Nervensystem) ausgestattete Mensch ist ebenso normal wie der mit scharfem<lb/> Verstände begabte; man müßte ja auch, wenn die Ansicht Macaulays richtig<lb/> wäre, etwa die Hälfte der gesamten Menschheit — denn diese ist am Ende im¬<lb/> stande, Poesie mehr oder minder zu würdigen — als geisteskrank hinstellen,<lb/> und das geht denn doch nicht gut an. Wohlweislich nimmt daher die Theorie<lb/> Lombrosos und seiner Genossen auch nur das Genie als/me Erscheinungsform<lb/> des Wahnsinns an, aber auch das ist natürlich thöricht, selbst wenn beim<lb/> Genialen und beim Wahnsinnigen gewisse Erscheinungen zusammentreffen sollten;<lb/> die Höhen der menschlichen Entwicklung — und eine solche bezeichnet doch wohl<lb/> das Genie, selbst wenn uns sein Ursprung gelegentlich irrational vorkommen<lb/> mag — sind selbstverständlich abnorm, d. h. ungewöhnlich, selten, aber als<lb/> krankhaft kann man sie doch nur vom banausischen Standpunkt bezeichnen,<lb/> abgesehen davon, daß krank und gesund ja so gut relative Begriffe sind wie<lb/> gut und böse, warm und kalt. Wer giebt dem Verstände das Recht, sich der<lb/> Phantasie gegenüber als normal aufzuspielen? So ist denn auch Macaulays<lb/> ganze Auseinandersetzung über das Verhältnis von Poesie und Wahrheit<lb/> geradezu trivial. Die Voraussetzungen der Poesie sollen falsch sein, einen<lb/> Grad von Leichtgläubigkeit voraussetzen, der nicht weit von zeitweiliger<lb/> Geistesstörung entfernt ist, dagegen die Folgerungen richtig sein. Ist aber<lb/> der Dichter imstande, die Folgerungen richtig zu ziehen, also den Verlauf<lb/> seiner Handlung logischen und psychologischen Gesetzen gemäß darzustellen, wie<lb/> kommt man dazu, ihm bei der Konzeption seines Werkes eine Art Geistesstörung<lb/> zuzuschreiben? Oder denkt Macuulay an den gesamten künstlerischen Schöpfungs¬<lb/> prozeß, der ja allerdings immer noch geheimnisvoll ist, so klar uns auch Zola<lb/> auseinandergesetzt hat, daß von „Eingebung" keine Rede sein könne, der<lb/> Fleiß alles sei? Ich glaube, er denkt vielmehr an die mythischen Stoffe der<lb/> alten Dichter. Eben diese hatte der Dichter, wie wir gesehen haben, ja aber<lb/> von seinem Volke überliefert bekommen, und so müßte man denn notgedrungen<lb/> eine Art Wahnsinn bei dem ganzen Naturvolk annehmen, was doch gewiß absurd<lb/> wäre. In der That bestehen denn auch die mythischen Stoffe nur vor dem<lb/> nüchternen Verstände nicht, im höhern Sinne sind sie alle wahr, und keines¬<lb/> wegs' bloß die Wahrheit einer glühenden Erregung. Es sind im Grunde-<lb/> immer nur gewisse Äußerlichkeiten, die unglaublich erscheinen, wie die über¬<lb/> menschliche Kraft der Helden, ihre Unverwundbarkeit; geistig und seelisch über¬<lb/> ragen die Helden der alten Epen das Menschliche keineswegs, selbst die Götter</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0187]
Die sterbende Dichtkunst
aber schon vor einer größern Kulturentwicklung da waren und unter ihren
Volksgenossen emporragten, so bleiben sie auch nach einer solchen im Kerne
ihres Wesens unverändert. ,
Schon aus dem eben gesagten folgt, daß von einer krankhaften Richtung
des Gemüts bei Dichtern und solchen, die dichterische Werke genießen, nicht
die Rede sein kann. Der mit lebhafter Phantasie (und dem ihr entsprechenden
Nervensystem) ausgestattete Mensch ist ebenso normal wie der mit scharfem
Verstände begabte; man müßte ja auch, wenn die Ansicht Macaulays richtig
wäre, etwa die Hälfte der gesamten Menschheit — denn diese ist am Ende im¬
stande, Poesie mehr oder minder zu würdigen — als geisteskrank hinstellen,
und das geht denn doch nicht gut an. Wohlweislich nimmt daher die Theorie
Lombrosos und seiner Genossen auch nur das Genie als/me Erscheinungsform
des Wahnsinns an, aber auch das ist natürlich thöricht, selbst wenn beim
Genialen und beim Wahnsinnigen gewisse Erscheinungen zusammentreffen sollten;
die Höhen der menschlichen Entwicklung — und eine solche bezeichnet doch wohl
das Genie, selbst wenn uns sein Ursprung gelegentlich irrational vorkommen
mag — sind selbstverständlich abnorm, d. h. ungewöhnlich, selten, aber als
krankhaft kann man sie doch nur vom banausischen Standpunkt bezeichnen,
abgesehen davon, daß krank und gesund ja so gut relative Begriffe sind wie
gut und böse, warm und kalt. Wer giebt dem Verstände das Recht, sich der
Phantasie gegenüber als normal aufzuspielen? So ist denn auch Macaulays
ganze Auseinandersetzung über das Verhältnis von Poesie und Wahrheit
geradezu trivial. Die Voraussetzungen der Poesie sollen falsch sein, einen
Grad von Leichtgläubigkeit voraussetzen, der nicht weit von zeitweiliger
Geistesstörung entfernt ist, dagegen die Folgerungen richtig sein. Ist aber
der Dichter imstande, die Folgerungen richtig zu ziehen, also den Verlauf
seiner Handlung logischen und psychologischen Gesetzen gemäß darzustellen, wie
kommt man dazu, ihm bei der Konzeption seines Werkes eine Art Geistesstörung
zuzuschreiben? Oder denkt Macuulay an den gesamten künstlerischen Schöpfungs¬
prozeß, der ja allerdings immer noch geheimnisvoll ist, so klar uns auch Zola
auseinandergesetzt hat, daß von „Eingebung" keine Rede sein könne, der
Fleiß alles sei? Ich glaube, er denkt vielmehr an die mythischen Stoffe der
alten Dichter. Eben diese hatte der Dichter, wie wir gesehen haben, ja aber
von seinem Volke überliefert bekommen, und so müßte man denn notgedrungen
eine Art Wahnsinn bei dem ganzen Naturvolk annehmen, was doch gewiß absurd
wäre. In der That bestehen denn auch die mythischen Stoffe nur vor dem
nüchternen Verstände nicht, im höhern Sinne sind sie alle wahr, und keines¬
wegs' bloß die Wahrheit einer glühenden Erregung. Es sind im Grunde-
immer nur gewisse Äußerlichkeiten, die unglaublich erscheinen, wie die über¬
menschliche Kraft der Helden, ihre Unverwundbarkeit; geistig und seelisch über¬
ragen die Helden der alten Epen das Menschliche keineswegs, selbst die Götter
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