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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Die sterbende Dichtkunst

haben? Ganz sicher, unser heutiger Naturalismus mit seiner vielfach prosaischen
Beschreibung, seinem Materialismus und seiner dazu nnr scheinbar im Gegensatz
stehenden psychologischen Haarspalterei würde dem Geschichtschreiber als Anfang
von dem Ende der Poesie erschienen sein. Er erscheint auch heute vielen
Leuten so, es nimmt mich fast wunder, daß Macaulay noch nicht geradezu
gegen die Jungen ius Feld geführt worden ist. Aber dem Kampfe der litte¬
rarischen Meinungen haben große Gedanken durchweg gefehlt, und dann hatten
die Anhänger des Alten auch vielfach ein schlechtes Gewissen -- man konnte
in der vor dem Naturalismus herrschenden konventionellen Dichtung ebenso¬
wohl die sterbende Dichtkunst erkennen wie in dem Naturalismus selbst.
Kvstlins 1869 geschriebne Sätze beweisen, daß man so etwas wie den Natu¬
ralismus lange fürchtete (es ist nicht anzunehmen, daß der Tübinger Professor
die frühesten französischen Naturalisten wie Flaubert gekannt habe); damals
mochte man immerhin noch auf Goethe und Schiller hindeuten, obwohl das,
so allgemein wie es bei Kostim geschieht, ziemlich wohlfeil und, wie die Ent¬
wicklung der deutschen Dichtung bewiesen hat, auch zwecklos war. Heute darf
mau sich uicht mehr verhehlen, daß der Bruch mit der klassischen Poesie voll¬
ständig, irgend etwas, was eine neue Periode wahrhaft großer Dichtung an¬
zeigte, weder in Deutschland noch anderswo vorhanden ist. Und so wäre der
Naturalismus gewissermaßen die Lehre und Praxis der Verzweiflung, und der
Anfang von dem Ende der Poesie wirklich gekommen?

Ehe ich diese Frage beantworte, wollen wir uns doch die Ausführungen
Macaulays noch etwas näher ansehen. Der englische Historiker genießt heute
in Deutschland nicht mehr das Ansehen, dessen er sich in der Blütezeit des
Liberalismus erfreute, obwohl sein Talent bewegter und farbiger Darstellung
immer noch -- und zwar mit Recht -- geschätzt wird; man erkennt heute zu
gut die Schranken seiner Natur, daß er die Welt doch als Engländer und
Whig ansehe, und ist namentlich gegen seine ästhetischen Urteile argwöhnisch
geworden. Wenn er auch keiner jener plumpen, "nieolaitischen" Nationalisten
war, wie sie das Zeitalter der Aufklärung uicht bloß bei uns, sondern in allen
Kulturländern hervorbrachte, die Anschauung Maecmlays blieb doch stets im
Banne des Rationalismus, und selbst der feinste Nationalismus ist in der
Regel der Poesie gefährlich geworden, wenigstens ihren bedeutendsten und
eigentümlichsten Vertretern. "Freilich ist es besser, daß die Menschen den
Zorn überwinden und den Zahnschmerz behalten, als daß sie diesen verlieren
und sich dem andern hingeben; da nun aber keine Philosophie den Zorn
bändigt, so ist ein Mittel gegen den Zahnschmerz einer jeden vorzuziehen" --
so hat schon in den sechziger Jahren Karl Frenzel Macaulays Logik charak-
terisirt; diese Logik ist aber uoch heute allgemein verbreitet und wird, als
die des sogenannten gesunden Menschenverstandes, wahrscheinlich auch immer
verbreitet bleiben, sodaß wir denn in Macaulay in der That einen Typus be-


Die sterbende Dichtkunst

haben? Ganz sicher, unser heutiger Naturalismus mit seiner vielfach prosaischen
Beschreibung, seinem Materialismus und seiner dazu nnr scheinbar im Gegensatz
stehenden psychologischen Haarspalterei würde dem Geschichtschreiber als Anfang
von dem Ende der Poesie erschienen sein. Er erscheint auch heute vielen
Leuten so, es nimmt mich fast wunder, daß Macaulay noch nicht geradezu
gegen die Jungen ius Feld geführt worden ist. Aber dem Kampfe der litte¬
rarischen Meinungen haben große Gedanken durchweg gefehlt, und dann hatten
die Anhänger des Alten auch vielfach ein schlechtes Gewissen — man konnte
in der vor dem Naturalismus herrschenden konventionellen Dichtung ebenso¬
wohl die sterbende Dichtkunst erkennen wie in dem Naturalismus selbst.
Kvstlins 1869 geschriebne Sätze beweisen, daß man so etwas wie den Natu¬
ralismus lange fürchtete (es ist nicht anzunehmen, daß der Tübinger Professor
die frühesten französischen Naturalisten wie Flaubert gekannt habe); damals
mochte man immerhin noch auf Goethe und Schiller hindeuten, obwohl das,
so allgemein wie es bei Kostim geschieht, ziemlich wohlfeil und, wie die Ent¬
wicklung der deutschen Dichtung bewiesen hat, auch zwecklos war. Heute darf
mau sich uicht mehr verhehlen, daß der Bruch mit der klassischen Poesie voll¬
ständig, irgend etwas, was eine neue Periode wahrhaft großer Dichtung an¬
zeigte, weder in Deutschland noch anderswo vorhanden ist. Und so wäre der
Naturalismus gewissermaßen die Lehre und Praxis der Verzweiflung, und der
Anfang von dem Ende der Poesie wirklich gekommen?

Ehe ich diese Frage beantworte, wollen wir uns doch die Ausführungen
Macaulays noch etwas näher ansehen. Der englische Historiker genießt heute
in Deutschland nicht mehr das Ansehen, dessen er sich in der Blütezeit des
Liberalismus erfreute, obwohl sein Talent bewegter und farbiger Darstellung
immer noch — und zwar mit Recht — geschätzt wird; man erkennt heute zu
gut die Schranken seiner Natur, daß er die Welt doch als Engländer und
Whig ansehe, und ist namentlich gegen seine ästhetischen Urteile argwöhnisch
geworden. Wenn er auch keiner jener plumpen, „nieolaitischen" Nationalisten
war, wie sie das Zeitalter der Aufklärung uicht bloß bei uns, sondern in allen
Kulturländern hervorbrachte, die Anschauung Maecmlays blieb doch stets im
Banne des Rationalismus, und selbst der feinste Nationalismus ist in der
Regel der Poesie gefährlich geworden, wenigstens ihren bedeutendsten und
eigentümlichsten Vertretern. „Freilich ist es besser, daß die Menschen den
Zorn überwinden und den Zahnschmerz behalten, als daß sie diesen verlieren
und sich dem andern hingeben; da nun aber keine Philosophie den Zorn
bändigt, so ist ein Mittel gegen den Zahnschmerz einer jeden vorzuziehen" —
so hat schon in den sechziger Jahren Karl Frenzel Macaulays Logik charak-
terisirt; diese Logik ist aber uoch heute allgemein verbreitet und wird, als
die des sogenannten gesunden Menschenverstandes, wahrscheinlich auch immer
verbreitet bleiben, sodaß wir denn in Macaulay in der That einen Typus be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/183>, abgerufen am 27.09.2024.