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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Der deutsch-französische Litterarvertrag

insbesondre Preußens, rückhaltlose Anerkennung und Förderung erfahren.
Ich brauche kein Wort darüber zu verlieren, daß diese Wandlung nicht
etwa vorübergehender, modischer Natur ist, sondern aus einem richtigen
und je länger desto dringender gefühlten Bedürfnis entsprungen ist. Die
preußischen "Lehrpläne und Lehraufgaben für die höhern Schulen" (Berlin,
1892) sagen auf Seite 40 ff.: "In den obern Klaffen . . . gilt es, die Be¬
kanntschaft mit dem Leben, den Sitten und Gebräuchen, den wichtigsten Geistes-
bestrebungen beider Nationen zu vermitteln und zu dein Zweck besonders moderne
Schriftwerke ins Auge zu fassen." Und die Ministerialbestimmungen über das
Mädchenschulwesen vom 31. Mai 1894 sagen auf Seite 25: "Für die Lektüre
sind in Klasse I und II ausgewählte zusammenhängende Schriftwerke in Einzel¬
ausgaben zu benutzen, mit Bevorzugung der historischen, novellistischen und
poetischen Litteratur des neunzehnten Jahrhunderts."

Nun hat sich ferner in dem letzten Jahrzehnt die Überzeugung ziemlich
allgemein ausgebreitet, daß es nicht genügt, von derartigen modernen Werken
kleine Proben zu geben, und es ist zweifellos in dem Gebrauch der Chresto¬
mathien, die eine bunte Musterkarte von solchem Häppchenwerk boten, ein starker
Rückgang eingetreten. Man bevorzugt allgemein Ausgaben, die nur das eine
Werk enthalten, und wenn sie es nicht ganz bringen können, doch einen Auszug
bieten, dessen Einrichtung ein deutliches Bild von dem Bau und Inhalt des
Ganzen gewährt. Die Bestimmungen vom Mai 1894 stellen auf Seite 25
und 27 geradezu die Forderung, daß nur Einzelausgaben mit solcher Ein¬
richtung gebraucht werden.

Solchen Bedürfnissen ist nun in reichem Maße von dem deutschen VerlagS-
buchhandel entsprochen worden. Wir verfügen über eine ganze Reihe von
Sammlungen, und der außerordentliche Wettbewerb hat für die Schule den
Vorteil, daß ihr ein sehr vielseitiger Lesestoff in einer Form geboten wird,
die zum Teil den höchsten Anforderungen an wissenschaftliche Genauigkeit und
geschmackvolle Darbietung entspricht. Man wird bald sagen können, daß alles,
was an moderner französischer Prosa nach Form und Inhalt für die Lektüre
in den deutschen Schulen geeignet ist, in deutschen Ausgaben geboten wird.
So ist unsre Schule besser als jede andre der Welt imstande, Land und
Leute, Sprache und Geschichte, Litteratur und andre Erscheinungsformen fran¬
zösischen Wesens kennen zu lehren, und es bedarf keines Beweises, welche
außerordentlich praktischen und idealen Vorteile das für ein Volk haben muß,
das nach seiner Lage und Entwicklung in so hervorragendem Maße auf inter¬
nationalen Verkehr angewiesen und nach seinem Wesen so sehr geeignet ist, das
Fremde zu erkennen, zu würdigen und daraus für sein eignes Leben Nutzen
zu ziehen.

Dieser günstige Stand der Dinge läuft nun Gefahr, erschüttert und viel¬
leicht gänzlich aufgehoben zu werden. Die Franzosen gehen auf nichts geringeres


Der deutsch-französische Litterarvertrag

insbesondre Preußens, rückhaltlose Anerkennung und Förderung erfahren.
Ich brauche kein Wort darüber zu verlieren, daß diese Wandlung nicht
etwa vorübergehender, modischer Natur ist, sondern aus einem richtigen
und je länger desto dringender gefühlten Bedürfnis entsprungen ist. Die
preußischen „Lehrpläne und Lehraufgaben für die höhern Schulen" (Berlin,
1892) sagen auf Seite 40 ff.: „In den obern Klaffen . . . gilt es, die Be¬
kanntschaft mit dem Leben, den Sitten und Gebräuchen, den wichtigsten Geistes-
bestrebungen beider Nationen zu vermitteln und zu dein Zweck besonders moderne
Schriftwerke ins Auge zu fassen." Und die Ministerialbestimmungen über das
Mädchenschulwesen vom 31. Mai 1894 sagen auf Seite 25: „Für die Lektüre
sind in Klasse I und II ausgewählte zusammenhängende Schriftwerke in Einzel¬
ausgaben zu benutzen, mit Bevorzugung der historischen, novellistischen und
poetischen Litteratur des neunzehnten Jahrhunderts."

Nun hat sich ferner in dem letzten Jahrzehnt die Überzeugung ziemlich
allgemein ausgebreitet, daß es nicht genügt, von derartigen modernen Werken
kleine Proben zu geben, und es ist zweifellos in dem Gebrauch der Chresto¬
mathien, die eine bunte Musterkarte von solchem Häppchenwerk boten, ein starker
Rückgang eingetreten. Man bevorzugt allgemein Ausgaben, die nur das eine
Werk enthalten, und wenn sie es nicht ganz bringen können, doch einen Auszug
bieten, dessen Einrichtung ein deutliches Bild von dem Bau und Inhalt des
Ganzen gewährt. Die Bestimmungen vom Mai 1894 stellen auf Seite 25
und 27 geradezu die Forderung, daß nur Einzelausgaben mit solcher Ein¬
richtung gebraucht werden.

Solchen Bedürfnissen ist nun in reichem Maße von dem deutschen VerlagS-
buchhandel entsprochen worden. Wir verfügen über eine ganze Reihe von
Sammlungen, und der außerordentliche Wettbewerb hat für die Schule den
Vorteil, daß ihr ein sehr vielseitiger Lesestoff in einer Form geboten wird,
die zum Teil den höchsten Anforderungen an wissenschaftliche Genauigkeit und
geschmackvolle Darbietung entspricht. Man wird bald sagen können, daß alles,
was an moderner französischer Prosa nach Form und Inhalt für die Lektüre
in den deutschen Schulen geeignet ist, in deutschen Ausgaben geboten wird.
So ist unsre Schule besser als jede andre der Welt imstande, Land und
Leute, Sprache und Geschichte, Litteratur und andre Erscheinungsformen fran¬
zösischen Wesens kennen zu lehren, und es bedarf keines Beweises, welche
außerordentlich praktischen und idealen Vorteile das für ein Volk haben muß,
das nach seiner Lage und Entwicklung in so hervorragendem Maße auf inter¬
nationalen Verkehr angewiesen und nach seinem Wesen so sehr geeignet ist, das
Fremde zu erkennen, zu würdigen und daraus für sein eignes Leben Nutzen
zu ziehen.

Dieser günstige Stand der Dinge läuft nun Gefahr, erschüttert und viel¬
leicht gänzlich aufgehoben zu werden. Die Franzosen gehen auf nichts geringeres


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[0634] Der deutsch-französische Litterarvertrag insbesondre Preußens, rückhaltlose Anerkennung und Förderung erfahren. Ich brauche kein Wort darüber zu verlieren, daß diese Wandlung nicht etwa vorübergehender, modischer Natur ist, sondern aus einem richtigen und je länger desto dringender gefühlten Bedürfnis entsprungen ist. Die preußischen „Lehrpläne und Lehraufgaben für die höhern Schulen" (Berlin, 1892) sagen auf Seite 40 ff.: „In den obern Klaffen . . . gilt es, die Be¬ kanntschaft mit dem Leben, den Sitten und Gebräuchen, den wichtigsten Geistes- bestrebungen beider Nationen zu vermitteln und zu dein Zweck besonders moderne Schriftwerke ins Auge zu fassen." Und die Ministerialbestimmungen über das Mädchenschulwesen vom 31. Mai 1894 sagen auf Seite 25: „Für die Lektüre sind in Klasse I und II ausgewählte zusammenhängende Schriftwerke in Einzel¬ ausgaben zu benutzen, mit Bevorzugung der historischen, novellistischen und poetischen Litteratur des neunzehnten Jahrhunderts." Nun hat sich ferner in dem letzten Jahrzehnt die Überzeugung ziemlich allgemein ausgebreitet, daß es nicht genügt, von derartigen modernen Werken kleine Proben zu geben, und es ist zweifellos in dem Gebrauch der Chresto¬ mathien, die eine bunte Musterkarte von solchem Häppchenwerk boten, ein starker Rückgang eingetreten. Man bevorzugt allgemein Ausgaben, die nur das eine Werk enthalten, und wenn sie es nicht ganz bringen können, doch einen Auszug bieten, dessen Einrichtung ein deutliches Bild von dem Bau und Inhalt des Ganzen gewährt. Die Bestimmungen vom Mai 1894 stellen auf Seite 25 und 27 geradezu die Forderung, daß nur Einzelausgaben mit solcher Ein¬ richtung gebraucht werden. Solchen Bedürfnissen ist nun in reichem Maße von dem deutschen VerlagS- buchhandel entsprochen worden. Wir verfügen über eine ganze Reihe von Sammlungen, und der außerordentliche Wettbewerb hat für die Schule den Vorteil, daß ihr ein sehr vielseitiger Lesestoff in einer Form geboten wird, die zum Teil den höchsten Anforderungen an wissenschaftliche Genauigkeit und geschmackvolle Darbietung entspricht. Man wird bald sagen können, daß alles, was an moderner französischer Prosa nach Form und Inhalt für die Lektüre in den deutschen Schulen geeignet ist, in deutschen Ausgaben geboten wird. So ist unsre Schule besser als jede andre der Welt imstande, Land und Leute, Sprache und Geschichte, Litteratur und andre Erscheinungsformen fran¬ zösischen Wesens kennen zu lehren, und es bedarf keines Beweises, welche außerordentlich praktischen und idealen Vorteile das für ein Volk haben muß, das nach seiner Lage und Entwicklung in so hervorragendem Maße auf inter¬ nationalen Verkehr angewiesen und nach seinem Wesen so sehr geeignet ist, das Fremde zu erkennen, zu würdigen und daraus für sein eignes Leben Nutzen zu ziehen. Dieser günstige Stand der Dinge läuft nun Gefahr, erschüttert und viel¬ leicht gänzlich aufgehoben zu werden. Die Franzosen gehen auf nichts geringeres

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/634>, abgerufen am 08.01.2025.