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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Der Staat als Organismus

große Länder nühergerückt worden sind, sind alle diese Einbildungen verflogen,
und Deutschland und Italien haben noch zuletzt von allen mit ihrer verspäteten
Kolonialpolitik die Macht des Grundsatzes bekräftigt, daß eine große Macht
auch auf eine breite Grundlage gestellt sein muß.

Die Bedeutung des Bodens für die Gesellschaft liegt ja zum Teil schon
darin, daß der Staat für Boden sorgt. Der Grundgedanke ist dabei doch die
Versorgung seiner Bürger mit Boden. Dieser Gedanke, der in blinder Er¬
oberungssucht allzu oft untergegangen ist, hat schon in alten Reichen des Ostens
zur planmäßigen Kolonisation nenerworbnen Landes geführt. Und der Rückhalt
des römischen Reiches an seinem Kernland Italien ist dadurch geschaffen worden,
daß die Eroberung mit dem Pfluge der mit dem Schwerte folgte oder fast zur
Seite ging. Die Einsicht, daß eine bestimmte Menge Boden für einen Staat
von bestimmter Volkszahl notwendig sei, ist aber erst allgemeiner geworden
mit der Ausbreitung des Gefühls, daß sich die Völker immer dichter auf der
Erde drängen. Die Geschichte wird vor allem in Europa immer mehr zu
einem Gedränge. Jedes Volk fühlt sich beengt. Selbst aus den ungeheuer
weiten Räumen Sibiriens und Nordamerikas tönen die Klagen, daß der kultur¬
fähige Boden zu rasch genommen und ausgebeutet werde, und daß die Väter
die Hoffnungen der Kinder und Enkel aufopfern. Im Innern jedes Volkes
dieselbe Klage. Unbillige Verteilung der Bodens auf dem Lande wie in der
Stadt, Wegnahme des besten und des notwendigsten Bodens bis zur Ver¬
dauung von Licht und Luft für die weniger Begünstigten. Ist es angesichts
dieses echt organischen Zusammenhangs zwischen der menschlichen Gesellschaft
und dem Boden als eine materialistische Auffassung der Geschichte zu tadeln,
wenn man sich die ganze Menschheit nicht von der Erde und kein Volk von
seinem Boden gelöst denken kann? Das ist vielmehr eine lebenerfnllte Auf¬
fassung, die in einem ganzen Volke einen überall lebendigen, an der Schöpfung
des Geschichtlichen wirkenden Körper sieht. Im Grunde ist die Geschichts¬
auffassung viel materieller, die nur die großen und die leitenden Personen sieht
und nichts weiß von dem Leben, das in der Masse flutet, aus der sie sich
emporgehoben haben, und von deren räumlichen Bedingungen. Sie entgeistigt
und entseelt das Volk, ohne dessen Geist und Seele jene Großen nicht sein
und wirken könnten, die ans den immer sich erneuernden Tiefen des Volkes
hervorsteigen.

Der Raum, dem in dem Abschnitt "Raum und Zeit im Verhältnis zur
Entwicklungshöhe" treffliche Worte gewidmet sind, tritt in den Betrachtungen
über Fortschritt und Entwicklung der Menschheit weiter zurück, als im Interesse
des Verständnisses zu wünschen wäre. Einer Besprechung der Entwicklungs¬
und Fortschrittsmöglichkeiten der Menschheit, der man immer wieder mit Teil¬
nahme folgen wird, fehlt etwas ganz wesentliches. Daß es kein unendliches,
unbegrenztes Fortschreiten geben kann, geht aus nichts klarer hervor, als aus


Der Staat als Organismus

große Länder nühergerückt worden sind, sind alle diese Einbildungen verflogen,
und Deutschland und Italien haben noch zuletzt von allen mit ihrer verspäteten
Kolonialpolitik die Macht des Grundsatzes bekräftigt, daß eine große Macht
auch auf eine breite Grundlage gestellt sein muß.

Die Bedeutung des Bodens für die Gesellschaft liegt ja zum Teil schon
darin, daß der Staat für Boden sorgt. Der Grundgedanke ist dabei doch die
Versorgung seiner Bürger mit Boden. Dieser Gedanke, der in blinder Er¬
oberungssucht allzu oft untergegangen ist, hat schon in alten Reichen des Ostens
zur planmäßigen Kolonisation nenerworbnen Landes geführt. Und der Rückhalt
des römischen Reiches an seinem Kernland Italien ist dadurch geschaffen worden,
daß die Eroberung mit dem Pfluge der mit dem Schwerte folgte oder fast zur
Seite ging. Die Einsicht, daß eine bestimmte Menge Boden für einen Staat
von bestimmter Volkszahl notwendig sei, ist aber erst allgemeiner geworden
mit der Ausbreitung des Gefühls, daß sich die Völker immer dichter auf der
Erde drängen. Die Geschichte wird vor allem in Europa immer mehr zu
einem Gedränge. Jedes Volk fühlt sich beengt. Selbst aus den ungeheuer
weiten Räumen Sibiriens und Nordamerikas tönen die Klagen, daß der kultur¬
fähige Boden zu rasch genommen und ausgebeutet werde, und daß die Väter
die Hoffnungen der Kinder und Enkel aufopfern. Im Innern jedes Volkes
dieselbe Klage. Unbillige Verteilung der Bodens auf dem Lande wie in der
Stadt, Wegnahme des besten und des notwendigsten Bodens bis zur Ver¬
dauung von Licht und Luft für die weniger Begünstigten. Ist es angesichts
dieses echt organischen Zusammenhangs zwischen der menschlichen Gesellschaft
und dem Boden als eine materialistische Auffassung der Geschichte zu tadeln,
wenn man sich die ganze Menschheit nicht von der Erde und kein Volk von
seinem Boden gelöst denken kann? Das ist vielmehr eine lebenerfnllte Auf¬
fassung, die in einem ganzen Volke einen überall lebendigen, an der Schöpfung
des Geschichtlichen wirkenden Körper sieht. Im Grunde ist die Geschichts¬
auffassung viel materieller, die nur die großen und die leitenden Personen sieht
und nichts weiß von dem Leben, das in der Masse flutet, aus der sie sich
emporgehoben haben, und von deren räumlichen Bedingungen. Sie entgeistigt
und entseelt das Volk, ohne dessen Geist und Seele jene Großen nicht sein
und wirken könnten, die ans den immer sich erneuernden Tiefen des Volkes
hervorsteigen.

Der Raum, dem in dem Abschnitt „Raum und Zeit im Verhältnis zur
Entwicklungshöhe" treffliche Worte gewidmet sind, tritt in den Betrachtungen
über Fortschritt und Entwicklung der Menschheit weiter zurück, als im Interesse
des Verständnisses zu wünschen wäre. Einer Besprechung der Entwicklungs¬
und Fortschrittsmöglichkeiten der Menschheit, der man immer wieder mit Teil¬
nahme folgen wird, fehlt etwas ganz wesentliches. Daß es kein unendliches,
unbegrenztes Fortschreiten geben kann, geht aus nichts klarer hervor, als aus


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[0630] Der Staat als Organismus große Länder nühergerückt worden sind, sind alle diese Einbildungen verflogen, und Deutschland und Italien haben noch zuletzt von allen mit ihrer verspäteten Kolonialpolitik die Macht des Grundsatzes bekräftigt, daß eine große Macht auch auf eine breite Grundlage gestellt sein muß. Die Bedeutung des Bodens für die Gesellschaft liegt ja zum Teil schon darin, daß der Staat für Boden sorgt. Der Grundgedanke ist dabei doch die Versorgung seiner Bürger mit Boden. Dieser Gedanke, der in blinder Er¬ oberungssucht allzu oft untergegangen ist, hat schon in alten Reichen des Ostens zur planmäßigen Kolonisation nenerworbnen Landes geführt. Und der Rückhalt des römischen Reiches an seinem Kernland Italien ist dadurch geschaffen worden, daß die Eroberung mit dem Pfluge der mit dem Schwerte folgte oder fast zur Seite ging. Die Einsicht, daß eine bestimmte Menge Boden für einen Staat von bestimmter Volkszahl notwendig sei, ist aber erst allgemeiner geworden mit der Ausbreitung des Gefühls, daß sich die Völker immer dichter auf der Erde drängen. Die Geschichte wird vor allem in Europa immer mehr zu einem Gedränge. Jedes Volk fühlt sich beengt. Selbst aus den ungeheuer weiten Räumen Sibiriens und Nordamerikas tönen die Klagen, daß der kultur¬ fähige Boden zu rasch genommen und ausgebeutet werde, und daß die Väter die Hoffnungen der Kinder und Enkel aufopfern. Im Innern jedes Volkes dieselbe Klage. Unbillige Verteilung der Bodens auf dem Lande wie in der Stadt, Wegnahme des besten und des notwendigsten Bodens bis zur Ver¬ dauung von Licht und Luft für die weniger Begünstigten. Ist es angesichts dieses echt organischen Zusammenhangs zwischen der menschlichen Gesellschaft und dem Boden als eine materialistische Auffassung der Geschichte zu tadeln, wenn man sich die ganze Menschheit nicht von der Erde und kein Volk von seinem Boden gelöst denken kann? Das ist vielmehr eine lebenerfnllte Auf¬ fassung, die in einem ganzen Volke einen überall lebendigen, an der Schöpfung des Geschichtlichen wirkenden Körper sieht. Im Grunde ist die Geschichts¬ auffassung viel materieller, die nur die großen und die leitenden Personen sieht und nichts weiß von dem Leben, das in der Masse flutet, aus der sie sich emporgehoben haben, und von deren räumlichen Bedingungen. Sie entgeistigt und entseelt das Volk, ohne dessen Geist und Seele jene Großen nicht sein und wirken könnten, die ans den immer sich erneuernden Tiefen des Volkes hervorsteigen. Der Raum, dem in dem Abschnitt „Raum und Zeit im Verhältnis zur Entwicklungshöhe" treffliche Worte gewidmet sind, tritt in den Betrachtungen über Fortschritt und Entwicklung der Menschheit weiter zurück, als im Interesse des Verständnisses zu wünschen wäre. Einer Besprechung der Entwicklungs¬ und Fortschrittsmöglichkeiten der Menschheit, der man immer wieder mit Teil¬ nahme folgen wird, fehlt etwas ganz wesentliches. Daß es kein unendliches, unbegrenztes Fortschreiten geben kann, geht aus nichts klarer hervor, als aus

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/630>, abgerufen am 08.01.2025.