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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Englische Zustände

aus Ländern, wo die Hände ohne Boden sind, die Menschen beständig in
Länder übergeführt werden müssen, wo der Boden ohne Hände ist, hat man,
wie Rathgen darlegt, in England die Answandrung organisirt; wer vermöchte sich
die grauenhaften Zustände auszumalen, die eingetreten sein müßten, wenn alle
angelsächsisch-keltischen Bewohner der englischen Kolonien und der Vereinigten
Staaten auf das Mutterland beschränkt geblieben wären! Es entsteht demnach
die Frage, in welche Bahn die Entwicklung zu leiten sei, damit gefährliche und
verderbliche Stockungen und Stauungen vermieden werden.

Nicht mehr als drei Bahnen scheinen uns offen zu stehen. Die erste wäre
die der nationalen Wirtschaftspolitik im strengsten Sinne des Worts. Die
Grenzen des heutigen deutschen Staates (wie wir einmal statt Reiches sagen
wollen) werden als fest und unveränderlich angenommen. Auf das so um¬
grenzte Gebiet hat sich unser Volk zu beschränken, innerhalb dieser Grenzen
seine Bedürfnisse zu befriedigen, sich vom Auslande wirtschaftlich unabhängig
zu erhalten. Die äußern Gefahren, die uns bei solcher Selbstbeschränkung aus
dem Wachstum der Weltmächte, das nicht stillsteht, erwachsen könnten, wollen
wir nicht in Betracht ziehen, sondern nur die innern Schwierigkeiten. Und
unter diesen wiederum wollen wir auf die Volksernährung kein Gewicht legen;
vielleicht haben die Agrikulturchemiker Recht, daß der deutsche Boden hundert,
hundertfünfzig, zweihundert Millionen Menschen zu ernähren vermag; auch
darauf nicht, daß die auch im Vildungswesen wütende Konkurrenzhatz alljährlich
tausende von unruhigen Köpfen erzeugt, für deren Thätigkeitsdrang "Macedonien"
zu klein ist. Wir beschränken uns auf die Schwierigkeit der Besitzverteilung.
Nehmen wir mit den Bodenbesitzreformeru etwa den Zustand der normannischen
Inseln zum Vorbilde, wo der Landmann und der Handwerker Wand an Wand
arbeiten, so müssen bei einer Volksvermehrung von jährlich 600000 Köpfen
für die Hälfte, also sür mindestens 60000 Familien, neue Ackernahrungen be¬
schafft werden. Woher die nehmen und nicht stehlen? Und wenn sich die
Rittergutsbesitzer und Großbauern geduldig bestehlen oder wenigstens mit
Staatsmitteln auslaufen ließen -- man weiß ja, welche Schwierigkeit die paar
tausend Renten- und Ansiedlungsgüter verursacht haben, die in den letzten
Jahren begründet worden sind, und nun Jahr für Jahr 60000, nach zwanzig
Jahren 100000! Im Urwald oder auf der Prärie macht sich das ja leichter;
eine Blockhütte ist bald gezimmert, Kirche und Schule braucht man vorläufig
nicht, das Vieh läßt man frei herumlaufen, und die Hinterwäldlerin macht
keine Toilettenansprüche. Aber bei uns, wo jeder Balken gekauft, jedes Kind
geschult, jede Frau standesgemäß gekleidet werden muß, wo die Bau-, Gesund-
heits- und Sittenpolizei dem Wirtschaftsbetrieb tausenderlei Schwierigkeiten
bereitet, wo der Bauer jeden Ersten Geld für Zinsen und Steuern braucht,
und wo die Einengung jedes Unwesens durch die Nachbarn die Wirtschaft er¬
schwert! Oder lassen wir die Grundverteilung, wie sie ist: dann müssen alle


Englische Zustände

aus Ländern, wo die Hände ohne Boden sind, die Menschen beständig in
Länder übergeführt werden müssen, wo der Boden ohne Hände ist, hat man,
wie Rathgen darlegt, in England die Answandrung organisirt; wer vermöchte sich
die grauenhaften Zustände auszumalen, die eingetreten sein müßten, wenn alle
angelsächsisch-keltischen Bewohner der englischen Kolonien und der Vereinigten
Staaten auf das Mutterland beschränkt geblieben wären! Es entsteht demnach
die Frage, in welche Bahn die Entwicklung zu leiten sei, damit gefährliche und
verderbliche Stockungen und Stauungen vermieden werden.

Nicht mehr als drei Bahnen scheinen uns offen zu stehen. Die erste wäre
die der nationalen Wirtschaftspolitik im strengsten Sinne des Worts. Die
Grenzen des heutigen deutschen Staates (wie wir einmal statt Reiches sagen
wollen) werden als fest und unveränderlich angenommen. Auf das so um¬
grenzte Gebiet hat sich unser Volk zu beschränken, innerhalb dieser Grenzen
seine Bedürfnisse zu befriedigen, sich vom Auslande wirtschaftlich unabhängig
zu erhalten. Die äußern Gefahren, die uns bei solcher Selbstbeschränkung aus
dem Wachstum der Weltmächte, das nicht stillsteht, erwachsen könnten, wollen
wir nicht in Betracht ziehen, sondern nur die innern Schwierigkeiten. Und
unter diesen wiederum wollen wir auf die Volksernährung kein Gewicht legen;
vielleicht haben die Agrikulturchemiker Recht, daß der deutsche Boden hundert,
hundertfünfzig, zweihundert Millionen Menschen zu ernähren vermag; auch
darauf nicht, daß die auch im Vildungswesen wütende Konkurrenzhatz alljährlich
tausende von unruhigen Köpfen erzeugt, für deren Thätigkeitsdrang „Macedonien"
zu klein ist. Wir beschränken uns auf die Schwierigkeit der Besitzverteilung.
Nehmen wir mit den Bodenbesitzreformeru etwa den Zustand der normannischen
Inseln zum Vorbilde, wo der Landmann und der Handwerker Wand an Wand
arbeiten, so müssen bei einer Volksvermehrung von jährlich 600000 Köpfen
für die Hälfte, also sür mindestens 60000 Familien, neue Ackernahrungen be¬
schafft werden. Woher die nehmen und nicht stehlen? Und wenn sich die
Rittergutsbesitzer und Großbauern geduldig bestehlen oder wenigstens mit
Staatsmitteln auslaufen ließen — man weiß ja, welche Schwierigkeit die paar
tausend Renten- und Ansiedlungsgüter verursacht haben, die in den letzten
Jahren begründet worden sind, und nun Jahr für Jahr 60000, nach zwanzig
Jahren 100000! Im Urwald oder auf der Prärie macht sich das ja leichter;
eine Blockhütte ist bald gezimmert, Kirche und Schule braucht man vorläufig
nicht, das Vieh läßt man frei herumlaufen, und die Hinterwäldlerin macht
keine Toilettenansprüche. Aber bei uns, wo jeder Balken gekauft, jedes Kind
geschult, jede Frau standesgemäß gekleidet werden muß, wo die Bau-, Gesund-
heits- und Sittenpolizei dem Wirtschaftsbetrieb tausenderlei Schwierigkeiten
bereitet, wo der Bauer jeden Ersten Geld für Zinsen und Steuern braucht,
und wo die Einengung jedes Unwesens durch die Nachbarn die Wirtschaft er¬
schwert! Oder lassen wir die Grundverteilung, wie sie ist: dann müssen alle


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[0620] Englische Zustände aus Ländern, wo die Hände ohne Boden sind, die Menschen beständig in Länder übergeführt werden müssen, wo der Boden ohne Hände ist, hat man, wie Rathgen darlegt, in England die Answandrung organisirt; wer vermöchte sich die grauenhaften Zustände auszumalen, die eingetreten sein müßten, wenn alle angelsächsisch-keltischen Bewohner der englischen Kolonien und der Vereinigten Staaten auf das Mutterland beschränkt geblieben wären! Es entsteht demnach die Frage, in welche Bahn die Entwicklung zu leiten sei, damit gefährliche und verderbliche Stockungen und Stauungen vermieden werden. Nicht mehr als drei Bahnen scheinen uns offen zu stehen. Die erste wäre die der nationalen Wirtschaftspolitik im strengsten Sinne des Worts. Die Grenzen des heutigen deutschen Staates (wie wir einmal statt Reiches sagen wollen) werden als fest und unveränderlich angenommen. Auf das so um¬ grenzte Gebiet hat sich unser Volk zu beschränken, innerhalb dieser Grenzen seine Bedürfnisse zu befriedigen, sich vom Auslande wirtschaftlich unabhängig zu erhalten. Die äußern Gefahren, die uns bei solcher Selbstbeschränkung aus dem Wachstum der Weltmächte, das nicht stillsteht, erwachsen könnten, wollen wir nicht in Betracht ziehen, sondern nur die innern Schwierigkeiten. Und unter diesen wiederum wollen wir auf die Volksernährung kein Gewicht legen; vielleicht haben die Agrikulturchemiker Recht, daß der deutsche Boden hundert, hundertfünfzig, zweihundert Millionen Menschen zu ernähren vermag; auch darauf nicht, daß die auch im Vildungswesen wütende Konkurrenzhatz alljährlich tausende von unruhigen Köpfen erzeugt, für deren Thätigkeitsdrang „Macedonien" zu klein ist. Wir beschränken uns auf die Schwierigkeit der Besitzverteilung. Nehmen wir mit den Bodenbesitzreformeru etwa den Zustand der normannischen Inseln zum Vorbilde, wo der Landmann und der Handwerker Wand an Wand arbeiten, so müssen bei einer Volksvermehrung von jährlich 600000 Köpfen für die Hälfte, also sür mindestens 60000 Familien, neue Ackernahrungen be¬ schafft werden. Woher die nehmen und nicht stehlen? Und wenn sich die Rittergutsbesitzer und Großbauern geduldig bestehlen oder wenigstens mit Staatsmitteln auslaufen ließen — man weiß ja, welche Schwierigkeit die paar tausend Renten- und Ansiedlungsgüter verursacht haben, die in den letzten Jahren begründet worden sind, und nun Jahr für Jahr 60000, nach zwanzig Jahren 100000! Im Urwald oder auf der Prärie macht sich das ja leichter; eine Blockhütte ist bald gezimmert, Kirche und Schule braucht man vorläufig nicht, das Vieh läßt man frei herumlaufen, und die Hinterwäldlerin macht keine Toilettenansprüche. Aber bei uns, wo jeder Balken gekauft, jedes Kind geschult, jede Frau standesgemäß gekleidet werden muß, wo die Bau-, Gesund- heits- und Sittenpolizei dem Wirtschaftsbetrieb tausenderlei Schwierigkeiten bereitet, wo der Bauer jeden Ersten Geld für Zinsen und Steuern braucht, und wo die Einengung jedes Unwesens durch die Nachbarn die Wirtschaft er¬ schwert! Oder lassen wir die Grundverteilung, wie sie ist: dann müssen alle

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/620>, abgerufen am 08.01.2025.