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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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schwarze Galeere/' "Gedelöcke," "Sankt Thomas." "Des Reiches Krone" (eines
der stärksten Zeugnisse dafür, daß in dem Erzähler in Wahrheit ein ganzer Dichter
steckt, einer von denen, die scheinbar nur zufällig nicht zur rein poetischen Form
der gebundncn Rede durchgedrungen sind) bildet eine Gruppe vou Erzählungen wie
"Das letzte Recht," "Der Marsch nach Hause" und "Die Innerste," von andern
kleinern zu schweigen. Die Lichter, die wechselnd die komischen und die tragischen
Erfindungen Naabes durchleuchten, spielen in den letztgenannten Erzählungen so
charakteristisch ineinander, die Weltanschauung, die diesen bunten Phantasiestücken
zu Grunde liegt, tritt mit so sieghafter Deutlichkeit zu Tage, daß gerade diese Er¬
zählungen das Verständnis der eigentümlichen Dichternatur erschließen können.

Es ist in diesen Blättern vor kurzem darauf aufmerksam gemacht worden,
daß Raabe, wie wenige Dichter, allen deutschen Stammescigentümlichkeiten gerecht
werden könne. Er zeichnet die Frau Fortnnata Madlenerin, die brave Wirtin zur
Taube in Alberschwende im Bregenzerwald nicht weniger gut als den Müller
Christian Bodenhagen an der Innerste im Hannöverschen. Dennoch ist Raabe nach
Blut, Seelenleben, Bildnngsrichtung und Einfluß der Überliefruug ein Norddeutscher j
aber der Umstand, daß er dem Grenzgebiete Norddeutschlands und Mitteldeutsch¬
lands entstammt, verleiht ihm die Fähigkeit, das Wesen der südlicher wohnenden
Stammesnachbarn zu verstehe". Eine Reihe seiner größern Geschichten, wie der
nun gesammelten kleinern Erzählungen, spielt auf dem Boden zwischen Elbe und
Weser, nord- und südwärts vom Harz, und die Art gerade der Deutschen
dieses Landstrichs ist dem Schriftsteller am vertrautesten. Über Thüringen hinaus
in den Süden oder in den Norden Mecklenburgs (wie in den "Gänsen von
Bützow") und Holsteins (wie im "Deutschen Mondschein") unternimmt seine Phan¬
tasie nur gelegentlich Streifzüge, die aber hin und wieder auch über Deutsch¬
land hinaus, bis zum Schloß von Pavaosa auf Sankt Thomas im Guineameer
und bis zur norwegischen Feste Friedrichshall ausgedehnt werden. Den eigent¬
lichen Heimatboden des Dichters aber erkennen wir in den Erzählungen "Die alte
Universität," "Aus dem Lebenslauf des Schulmeisterleins Michael Haas," "Hollunder-
blüte," "Elfe von der Tanne," "Im Siegeskranze," "Die Htimelschen Kinder,"
"Die Innerste"; es ist derselbe Boden, auf dem auch die prächtigsten Gestalten
der größern Werke aus Naabes bester, dritter Periode ("Horacker," "Wuuuigel,"
"Das Horn von Wanza") erwachsen sind. Der Dichter steht überall der Natur
nahe und erlauscht zu Zeiten ihren geheimsten Herzschlag und die Schauer, die von
ihr aus in die Menschenseele übergehen und da Schicksal werden. Dabei kennt er
durchaus nicht den Gegensatz, den, wie wir sehen werden, ein Erzähler wie Hans¬
jakob zwischen der frischen Unmittelbarkeit des Lebens und jeder Erhebung über
die kleinbürgerlich bäuerlichen Lebenskreise ohne weiteres erblickt. Ein emeritirter
Pfarrer oder Schulmonarch, ein Universitätsprofessor, oder Magister kann ihm
ebensowohl der völlig natürliche Held einer Erzählung werden, wie ein Bauer,
Müller oder Jäger, ein Offizier so gut wie ein Korporal oder Gemeiner. Hierin
liegt bei aller Vorliebe Naabes für das Enge,/für Beschränkung und Zurück¬
gezogenheit, bei entschiedner Neigung zum Jdhll doch unzweifelhaft ein Zug zur
Größe; die Breite und Mannichfaltigkeit der Welt überwältigt ihn nie, aber sie
schreckt ihn auch nicht ab, gehört gelegentlich eben auch zur Welt in seinem Sinne.
Wenn Ad. Stern in seiner "Deutschen Nationallitteratur vom Tode Goethes
bis zur Gegenwart" ansdriicklich hervorhebt: "Die poetische Grundstimmung unsers
Schriftstellers erträgt jede Art von Philisterium und gutmütiger Beschränktheit,
von menschlicher Hilfsbedürftigkeit und von Irrtum, jede Art von Lanne und Ab-


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schwarze Galeere/' „Gedelöcke," „Sankt Thomas." „Des Reiches Krone« (eines
der stärksten Zeugnisse dafür, daß in dem Erzähler in Wahrheit ein ganzer Dichter
steckt, einer von denen, die scheinbar nur zufällig nicht zur rein poetischen Form
der gebundncn Rede durchgedrungen sind) bildet eine Gruppe vou Erzählungen wie
„Das letzte Recht," „Der Marsch nach Hause" und „Die Innerste," von andern
kleinern zu schweigen. Die Lichter, die wechselnd die komischen und die tragischen
Erfindungen Naabes durchleuchten, spielen in den letztgenannten Erzählungen so
charakteristisch ineinander, die Weltanschauung, die diesen bunten Phantasiestücken
zu Grunde liegt, tritt mit so sieghafter Deutlichkeit zu Tage, daß gerade diese Er¬
zählungen das Verständnis der eigentümlichen Dichternatur erschließen können.

Es ist in diesen Blättern vor kurzem darauf aufmerksam gemacht worden,
daß Raabe, wie wenige Dichter, allen deutschen Stammescigentümlichkeiten gerecht
werden könne. Er zeichnet die Frau Fortnnata Madlenerin, die brave Wirtin zur
Taube in Alberschwende im Bregenzerwald nicht weniger gut als den Müller
Christian Bodenhagen an der Innerste im Hannöverschen. Dennoch ist Raabe nach
Blut, Seelenleben, Bildnngsrichtung und Einfluß der Überliefruug ein Norddeutscher j
aber der Umstand, daß er dem Grenzgebiete Norddeutschlands und Mitteldeutsch¬
lands entstammt, verleiht ihm die Fähigkeit, das Wesen der südlicher wohnenden
Stammesnachbarn zu verstehe«. Eine Reihe seiner größern Geschichten, wie der
nun gesammelten kleinern Erzählungen, spielt auf dem Boden zwischen Elbe und
Weser, nord- und südwärts vom Harz, und die Art gerade der Deutschen
dieses Landstrichs ist dem Schriftsteller am vertrautesten. Über Thüringen hinaus
in den Süden oder in den Norden Mecklenburgs (wie in den „Gänsen von
Bützow") und Holsteins (wie im „Deutschen Mondschein") unternimmt seine Phan¬
tasie nur gelegentlich Streifzüge, die aber hin und wieder auch über Deutsch¬
land hinaus, bis zum Schloß von Pavaosa auf Sankt Thomas im Guineameer
und bis zur norwegischen Feste Friedrichshall ausgedehnt werden. Den eigent¬
lichen Heimatboden des Dichters aber erkennen wir in den Erzählungen „Die alte
Universität," „Aus dem Lebenslauf des Schulmeisterleins Michael Haas," „Hollunder-
blüte," „Elfe von der Tanne," „Im Siegeskranze," „Die Htimelschen Kinder,"
„Die Innerste"; es ist derselbe Boden, auf dem auch die prächtigsten Gestalten
der größern Werke aus Naabes bester, dritter Periode („Horacker," „Wuuuigel,"
„Das Horn von Wanza") erwachsen sind. Der Dichter steht überall der Natur
nahe und erlauscht zu Zeiten ihren geheimsten Herzschlag und die Schauer, die von
ihr aus in die Menschenseele übergehen und da Schicksal werden. Dabei kennt er
durchaus nicht den Gegensatz, den, wie wir sehen werden, ein Erzähler wie Hans¬
jakob zwischen der frischen Unmittelbarkeit des Lebens und jeder Erhebung über
die kleinbürgerlich bäuerlichen Lebenskreise ohne weiteres erblickt. Ein emeritirter
Pfarrer oder Schulmonarch, ein Universitätsprofessor, oder Magister kann ihm
ebensowohl der völlig natürliche Held einer Erzählung werden, wie ein Bauer,
Müller oder Jäger, ein Offizier so gut wie ein Korporal oder Gemeiner. Hierin
liegt bei aller Vorliebe Naabes für das Enge,/für Beschränkung und Zurück¬
gezogenheit, bei entschiedner Neigung zum Jdhll doch unzweifelhaft ein Zug zur
Größe; die Breite und Mannichfaltigkeit der Welt überwältigt ihn nie, aber sie
schreckt ihn auch nicht ab, gehört gelegentlich eben auch zur Welt in seinem Sinne.
Wenn Ad. Stern in seiner „Deutschen Nationallitteratur vom Tode Goethes
bis zur Gegenwart" ansdriicklich hervorhebt: „Die poetische Grundstimmung unsers
Schriftstellers erträgt jede Art von Philisterium und gutmütiger Beschränktheit,
von menschlicher Hilfsbedürftigkeit und von Irrtum, jede Art von Lanne und Ab-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/578>, abgerufen am 08.01.2025.