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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Line englische Litteraturgeschichte

und da sind sie hinter nebensächliche Bemerkungen versteckt. So sagt er bei
der Besprechung von Sternes Werk ^orik's Zsntiinönwl -Icarus^: "Wir dürfen,
wenn wir gerecht sein wollen, einen Schriftsteller niemals nach unsrer Zeit,
unsern Ansichten beurteilen, sondern darnach, welchen Eindruck er auf seine Mit¬
welt machte." Das ist ein sehr richtiger Grundsatz. Was die meisten unsrer
Litteraturgeschichten so ungenießbar macht, kommt gewöhnlich daher, daß die
Verfasser bei der Kritik einer Dichtung den historischen Wert nicht von dem
sogenannten aktuellen zu unterscheiden verstehen. Die beiden streng zu tren¬
nenden Fragen: welche Bedeutung hat das Werk in seiner Zeit gehabt, und
welchen Wert kann es noch gegenwärtig für uns haben? werden in den meisten
Litteraturgeschichten durcheinander geworfen. Daher bewegt sich der Kritiker
bestündig in einem unerquicklichen Zickzack und kommt bei dieser Verwechslung
des historischen und des ästhetischen Maßstabes zu Urteilen, gegen die sich jeder
urteilsfähige Leser sträubt.

Wülker hat sich davor wohl gehütet. Er will nichts weiter sein als Ge¬
schichtschreiber, der den innern Zusammenhang der litterarischen Erscheinungen
darlegt, ihre Wechselwirkungen, ihre charakteristischen Merkmale, ihre Stellung
in dem Geistesleben der Zeit. Mit Hilfe eines dogmatisch-ästhetischen Gesetz¬
buches darüber zu Gericht zu sitzen, ist nicht seine Absicht. Wo das Bild
eines dichterischen Schaffens noch klarer hervortreten soll, da nimmt er seine
Zuflucht zum Vergleich. So sagt er von dem schwer zu charakterisirenden
Shelley: "Im Pantheismus, nicht im Atheismus lebte und webte er und
ging darin noch weit konsequenter und furchtloser vor als Byron. Hinsichtlich
der Formvollendung steht er gleichfalls über diesem, aber Byron zeichnet seine
Gestalten, Landschaften und Situationen viel klarer und charakteristischer. Nie
findet sich bei Shelley eine Gegend mit bestimmten, nur ihr angehörigen Zügen
gemalt; wie prachtvoll aber weiß er den Westwind, die Wolke, die Nacht, die
zum Himmel aufsteigende Lerche zu besingen und uns in Regionen, die über
der Erde liegen, zu versetzen! Er ist Gefühlsdichter, aber in ganz andrer, in
schwärmerischerer Weise als Byron. Daher wirkte er besonders auf die jungen
Dichter Englands ein, und die Lyriker- der neuesten Zeit haben ihm viel zu
danken, während sich England von Byron bald gänzlich entfernte."

Alle selbstgefällige, geistreichelnde Redeweise ist Wülker in der Seele ver¬
haßt; selbst da, wo ihm das Herz warm wird, hat er eine gewisse Scheu, sich
in ein schvnrednerisches Pathos zu verlieren. Seine Schreibweise hat etwas
Gedrungnes, zuweilen Herdes; aber sie ist stets einfach und natürlich. Als
Beispiel auch für Wülkers sozialpolitische Stellung mag die vortreffliche
Charakteristik seines Lieblingsdichters Charles Dickens dienen: "In der Selbst¬
sucht der Besitzenden, in ihrer Gleichgiltigkeit gegen das Los der Armen er¬
blickt Dickens den Hauptgrund für die schlimme Lage der Besitzlosen. Die
Unwissenheit, in der das Volk gehalten wird, ist ihm weiter eine Ursache für
die häusig vorkommende Unsittlichkeit. Den egoistischen Reichen stehen oft


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und da sind sie hinter nebensächliche Bemerkungen versteckt. So sagt er bei
der Besprechung von Sternes Werk ^orik's Zsntiinönwl -Icarus^: „Wir dürfen,
wenn wir gerecht sein wollen, einen Schriftsteller niemals nach unsrer Zeit,
unsern Ansichten beurteilen, sondern darnach, welchen Eindruck er auf seine Mit¬
welt machte." Das ist ein sehr richtiger Grundsatz. Was die meisten unsrer
Litteraturgeschichten so ungenießbar macht, kommt gewöhnlich daher, daß die
Verfasser bei der Kritik einer Dichtung den historischen Wert nicht von dem
sogenannten aktuellen zu unterscheiden verstehen. Die beiden streng zu tren¬
nenden Fragen: welche Bedeutung hat das Werk in seiner Zeit gehabt, und
welchen Wert kann es noch gegenwärtig für uns haben? werden in den meisten
Litteraturgeschichten durcheinander geworfen. Daher bewegt sich der Kritiker
bestündig in einem unerquicklichen Zickzack und kommt bei dieser Verwechslung
des historischen und des ästhetischen Maßstabes zu Urteilen, gegen die sich jeder
urteilsfähige Leser sträubt.

Wülker hat sich davor wohl gehütet. Er will nichts weiter sein als Ge¬
schichtschreiber, der den innern Zusammenhang der litterarischen Erscheinungen
darlegt, ihre Wechselwirkungen, ihre charakteristischen Merkmale, ihre Stellung
in dem Geistesleben der Zeit. Mit Hilfe eines dogmatisch-ästhetischen Gesetz¬
buches darüber zu Gericht zu sitzen, ist nicht seine Absicht. Wo das Bild
eines dichterischen Schaffens noch klarer hervortreten soll, da nimmt er seine
Zuflucht zum Vergleich. So sagt er von dem schwer zu charakterisirenden
Shelley: „Im Pantheismus, nicht im Atheismus lebte und webte er und
ging darin noch weit konsequenter und furchtloser vor als Byron. Hinsichtlich
der Formvollendung steht er gleichfalls über diesem, aber Byron zeichnet seine
Gestalten, Landschaften und Situationen viel klarer und charakteristischer. Nie
findet sich bei Shelley eine Gegend mit bestimmten, nur ihr angehörigen Zügen
gemalt; wie prachtvoll aber weiß er den Westwind, die Wolke, die Nacht, die
zum Himmel aufsteigende Lerche zu besingen und uns in Regionen, die über
der Erde liegen, zu versetzen! Er ist Gefühlsdichter, aber in ganz andrer, in
schwärmerischerer Weise als Byron. Daher wirkte er besonders auf die jungen
Dichter Englands ein, und die Lyriker- der neuesten Zeit haben ihm viel zu
danken, während sich England von Byron bald gänzlich entfernte."

Alle selbstgefällige, geistreichelnde Redeweise ist Wülker in der Seele ver¬
haßt; selbst da, wo ihm das Herz warm wird, hat er eine gewisse Scheu, sich
in ein schvnrednerisches Pathos zu verlieren. Seine Schreibweise hat etwas
Gedrungnes, zuweilen Herdes; aber sie ist stets einfach und natürlich. Als
Beispiel auch für Wülkers sozialpolitische Stellung mag die vortreffliche
Charakteristik seines Lieblingsdichters Charles Dickens dienen: „In der Selbst¬
sucht der Besitzenden, in ihrer Gleichgiltigkeit gegen das Los der Armen er¬
blickt Dickens den Hauptgrund für die schlimme Lage der Besitzlosen. Die
Unwissenheit, in der das Volk gehalten wird, ist ihm weiter eine Ursache für
die häusig vorkommende Unsittlichkeit. Den egoistischen Reichen stehen oft


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/574>, abgerufen am 08.01.2025.