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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Lin neues Buch über Beethoven und seine Sinfonien

Montcverdi, Schütz, A. Scarlatti, Rameau, Bach, Händel, Gluck, Haydn,
Mozart, Beethoven, so gehört ein gewisser Mut dazu, einen herauszuheben
und zu sagen: der ist großer als die andern. Jeder von ihnen hat sein
Gelnet, auf dein ihn andre nicht erreichen, und keiner kann hinweggenommen
werden, ohne daß die Kunst eine Lücke erleidet. Durch die triviale Sitte, ab¬
solute Zensuren über die Meister abzugeben, berauben wir uns einer Haupt¬
frucht künstlerischer Erziehung: des Verständnisses sür Individualitäten, der
Fähigkeit, in dem Einerlei der Gattung das Hervorragende zu finden. Die
Musik hat sich nicht wie auf eiuer Drahtseilbahn immer aufwärts bewegt.
Ihre Geschichte zeigt, wie die jeder andern Kunst, Ebbe und Flut; jede Zeit
hat ihr eignes und bringt dies in nicht wiederkehrender Art zur Blüte und
zum Abschluß. Wenn wir die Vorgänger nur als Vorläufer ansehen, werden
wir auch über Beethoven selbst nicht klar. Haydn bleibt Hahdn, der Ver¬
treter des 08xi-it der alten Gesellschaft in der Musik, den auch Beethoven im
Witz und in der ganz besondern Beweglichkeit des Geistes nicht erreicht hat.
Aber Beethoven hat Haydns Methode der Motiventwickluug in einer Weise
weitergeführt, die uns die Gewalt und die romantische Mischung seines Geistes
deutlicher als irgend etwas beleuchtet. Beethoven zeigt ähnlich wie Händel
gerade darin seine Große, wie er Anregungen und Ideen früherer Meister be¬
nutzt. Die Originalität seines Finale der L-iuoll-Sinfonie büßt nichts ein, wenn
man weiß, daß die Anlage ziemlich genau in einer v-aur-Sinfonie Dittersdorfs*)
vorkommt, und daß für viele von den vermeintlichen Beethovenschen Neuerungen
ältere Muster vorliegen, die Grove entgangen sind. So knüpfen z. B. die
großen Einleitungen seiner Sinfonien (2, 4, 7) an das Vorbild der alten
französischen Ouverture an. Auch die Ansicht Groves kann nicht auf eignen
geschichtlichen Studien beruhen, daß Österreich und Dentschland vor Beethovens
Eintreten in geistiger Trennung gelebt hätten. In der Musik Norddeutsch-
lands standen Haydn, Mozart und Diedersdorf, also lauter Österreicher, im
Vordergrunde.

Mit der Vergötterung Beethovens ist notgedrungen eine Ungerechtigkeit
gegen das Publikum Beethovens und gegen seine Kritiker verbunden. So
neigt denn auch Grove dazu. Beethoven als eine Art Märtyrer, als einen
Verläumder durchs Leben schreiten zu lassen und trägt emsig Aussprüche herbei,
in denen ein Unrecht oder ein Bedenken zum Ausdruck kommt. Vielleicht wird
nächstens einmal alles gesammelt, was zu Beethovens Lebzeiten über seine Kunst
gesagt worden ist. Es ist wahrscheinlich, daß in diesem Büchlein -- "Beethoven
im Spiegel der Zeitgenossen" könnte es betitelt werden -- noch viel unbekannt
gebliebne Thorheit zutage kommt. Aber an dem Gesamtergebnis können alle
Untersuchungen nichts ändern: Beethoven fand eine so willige Zeit, als es



) Das Werk ist kürzlich bei Breitkopf und Hnrtel in Partitur herausgekommen.
Lin neues Buch über Beethoven und seine Sinfonien

Montcverdi, Schütz, A. Scarlatti, Rameau, Bach, Händel, Gluck, Haydn,
Mozart, Beethoven, so gehört ein gewisser Mut dazu, einen herauszuheben
und zu sagen: der ist großer als die andern. Jeder von ihnen hat sein
Gelnet, auf dein ihn andre nicht erreichen, und keiner kann hinweggenommen
werden, ohne daß die Kunst eine Lücke erleidet. Durch die triviale Sitte, ab¬
solute Zensuren über die Meister abzugeben, berauben wir uns einer Haupt¬
frucht künstlerischer Erziehung: des Verständnisses sür Individualitäten, der
Fähigkeit, in dem Einerlei der Gattung das Hervorragende zu finden. Die
Musik hat sich nicht wie auf eiuer Drahtseilbahn immer aufwärts bewegt.
Ihre Geschichte zeigt, wie die jeder andern Kunst, Ebbe und Flut; jede Zeit
hat ihr eignes und bringt dies in nicht wiederkehrender Art zur Blüte und
zum Abschluß. Wenn wir die Vorgänger nur als Vorläufer ansehen, werden
wir auch über Beethoven selbst nicht klar. Haydn bleibt Hahdn, der Ver¬
treter des 08xi-it der alten Gesellschaft in der Musik, den auch Beethoven im
Witz und in der ganz besondern Beweglichkeit des Geistes nicht erreicht hat.
Aber Beethoven hat Haydns Methode der Motiventwickluug in einer Weise
weitergeführt, die uns die Gewalt und die romantische Mischung seines Geistes
deutlicher als irgend etwas beleuchtet. Beethoven zeigt ähnlich wie Händel
gerade darin seine Große, wie er Anregungen und Ideen früherer Meister be¬
nutzt. Die Originalität seines Finale der L-iuoll-Sinfonie büßt nichts ein, wenn
man weiß, daß die Anlage ziemlich genau in einer v-aur-Sinfonie Dittersdorfs*)
vorkommt, und daß für viele von den vermeintlichen Beethovenschen Neuerungen
ältere Muster vorliegen, die Grove entgangen sind. So knüpfen z. B. die
großen Einleitungen seiner Sinfonien (2, 4, 7) an das Vorbild der alten
französischen Ouverture an. Auch die Ansicht Groves kann nicht auf eignen
geschichtlichen Studien beruhen, daß Österreich und Dentschland vor Beethovens
Eintreten in geistiger Trennung gelebt hätten. In der Musik Norddeutsch-
lands standen Haydn, Mozart und Diedersdorf, also lauter Österreicher, im
Vordergrunde.

Mit der Vergötterung Beethovens ist notgedrungen eine Ungerechtigkeit
gegen das Publikum Beethovens und gegen seine Kritiker verbunden. So
neigt denn auch Grove dazu. Beethoven als eine Art Märtyrer, als einen
Verläumder durchs Leben schreiten zu lassen und trägt emsig Aussprüche herbei,
in denen ein Unrecht oder ein Bedenken zum Ausdruck kommt. Vielleicht wird
nächstens einmal alles gesammelt, was zu Beethovens Lebzeiten über seine Kunst
gesagt worden ist. Es ist wahrscheinlich, daß in diesem Büchlein — „Beethoven
im Spiegel der Zeitgenossen" könnte es betitelt werden — noch viel unbekannt
gebliebne Thorheit zutage kommt. Aber an dem Gesamtergebnis können alle
Untersuchungen nichts ändern: Beethoven fand eine so willige Zeit, als es



) Das Werk ist kürzlich bei Breitkopf und Hnrtel in Partitur herausgekommen.
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[0055] Lin neues Buch über Beethoven und seine Sinfonien Montcverdi, Schütz, A. Scarlatti, Rameau, Bach, Händel, Gluck, Haydn, Mozart, Beethoven, so gehört ein gewisser Mut dazu, einen herauszuheben und zu sagen: der ist großer als die andern. Jeder von ihnen hat sein Gelnet, auf dein ihn andre nicht erreichen, und keiner kann hinweggenommen werden, ohne daß die Kunst eine Lücke erleidet. Durch die triviale Sitte, ab¬ solute Zensuren über die Meister abzugeben, berauben wir uns einer Haupt¬ frucht künstlerischer Erziehung: des Verständnisses sür Individualitäten, der Fähigkeit, in dem Einerlei der Gattung das Hervorragende zu finden. Die Musik hat sich nicht wie auf eiuer Drahtseilbahn immer aufwärts bewegt. Ihre Geschichte zeigt, wie die jeder andern Kunst, Ebbe und Flut; jede Zeit hat ihr eignes und bringt dies in nicht wiederkehrender Art zur Blüte und zum Abschluß. Wenn wir die Vorgänger nur als Vorläufer ansehen, werden wir auch über Beethoven selbst nicht klar. Haydn bleibt Hahdn, der Ver¬ treter des 08xi-it der alten Gesellschaft in der Musik, den auch Beethoven im Witz und in der ganz besondern Beweglichkeit des Geistes nicht erreicht hat. Aber Beethoven hat Haydns Methode der Motiventwickluug in einer Weise weitergeführt, die uns die Gewalt und die romantische Mischung seines Geistes deutlicher als irgend etwas beleuchtet. Beethoven zeigt ähnlich wie Händel gerade darin seine Große, wie er Anregungen und Ideen früherer Meister be¬ nutzt. Die Originalität seines Finale der L-iuoll-Sinfonie büßt nichts ein, wenn man weiß, daß die Anlage ziemlich genau in einer v-aur-Sinfonie Dittersdorfs*) vorkommt, und daß für viele von den vermeintlichen Beethovenschen Neuerungen ältere Muster vorliegen, die Grove entgangen sind. So knüpfen z. B. die großen Einleitungen seiner Sinfonien (2, 4, 7) an das Vorbild der alten französischen Ouverture an. Auch die Ansicht Groves kann nicht auf eignen geschichtlichen Studien beruhen, daß Österreich und Dentschland vor Beethovens Eintreten in geistiger Trennung gelebt hätten. In der Musik Norddeutsch- lands standen Haydn, Mozart und Diedersdorf, also lauter Österreicher, im Vordergrunde. Mit der Vergötterung Beethovens ist notgedrungen eine Ungerechtigkeit gegen das Publikum Beethovens und gegen seine Kritiker verbunden. So neigt denn auch Grove dazu. Beethoven als eine Art Märtyrer, als einen Verläumder durchs Leben schreiten zu lassen und trägt emsig Aussprüche herbei, in denen ein Unrecht oder ein Bedenken zum Ausdruck kommt. Vielleicht wird nächstens einmal alles gesammelt, was zu Beethovens Lebzeiten über seine Kunst gesagt worden ist. Es ist wahrscheinlich, daß in diesem Büchlein — „Beethoven im Spiegel der Zeitgenossen" könnte es betitelt werden — noch viel unbekannt gebliebne Thorheit zutage kommt. Aber an dem Gesamtergebnis können alle Untersuchungen nichts ändern: Beethoven fand eine so willige Zeit, als es ) Das Werk ist kürzlich bei Breitkopf und Hnrtel in Partitur herausgekommen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/55>, abgerufen am 08.01.2025.