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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Englische Zustände

auch Giffen, der seine Zahlen^) aufrecht erhält. Er berechnet, daß in den
letzten fünfzig Jahren das Durchschnittseinkommen des Arbeiters von 40 auf 80,
die Summe aller Arbeitereiukommen von 200 auf 630 Millionen Pfund
Sterling gestiegen sei. Die Preise seien bis 1872 gestiegen, dann wieder ge¬
fallen, sodaß sie heute nicht höher stünden als vor fünfzig Jahren; nur die
Wohnuugsmiete sei natürlich nicht billiger geworden. Die Verbesserung der
Lage der Arbeiter bestehe hauptsächlich darin, daß sich der Prozentsatz der
schlecht bezahlten Arbeiter vermindert habe. Die Gewerkvereine zählen nach
Giffen nur 871000 Mitglieder auf 13 200000 Arbeiter.

Ihr Endurteil gaben die Mehrheit und die Minderheit der Kommission
gesondert ab. Die Mehrheit hebt die Verbesserungen in der Lage der Arbeiter
hervor, namentlich auch die Selbsthilfe durch großartige Konsumvereine und
Häuserbaugeuossenschaften. Die Minderheit, die aus den Kollektivisten, oder
wie wir das gewöhnlich nennen, Sozialisten besteht, giebt die eingetretne
Besserung zwar zu, meint aber, die Lage der Arbeiter sei infolge des großen
Anteils, den das Kapital vom Arbeitserträge beziehe, noch sehr jämmerlich,
und fordert staatssozialistische Maßregeln. Schmid muß dann doch schließlich
auch seinerseits ein Endurteil abgeben und meint, das sei eine sehr ver¬
antwortungsvolle Sache. Soviel sei wohl klar, daß Sozialisten wie Schippel,
die sogar eine Verschlechterung der Lage des englischen Arbeiters behaupteten,
entschieden Unrecht Hütten; schreibe doch sogar Engels in der Vorrede zur
neuen Ausgabe seines Buches "Die Lage der arbeitenden Klassen in England":
"Der in diesem Buche beschrieb"? Stand der Dinge gehört heute -- wenigstens
was England angeht -- größtenteils der Vergangenheit an." Insbesondre
kämen die von Marx, Engels und andern beschriebnen Grausamkeiten nicht
mehr vor. Hierzu möchten wir bemerken, daß die unmöglich geworden sind,
seitdem sie an die Öffentlichkeit gebracht worden und die Arbeiter organisirt
sind; das Volk würde den Geistlichen die Bibel und den Richtern das Straf¬
gesetzbuch an den Kopf werfen, wenn heute uoch Massenverbrechen im Interesse
des Unternehmerprofits gestattet würden. Aber die Besserung zugegeben, fährt
Schmid fort, so sind doch die schlimmsten der mit der kapitalistischen Produktions¬
weise verketteten Übel, die Krisen, weder seltner noch von minder zerstörenden
Wirkungen begleitet als vor fünfzig Jahren. "Die Folge davon und die Folge
der arbeitsparenden Maschinerie ist, daß auch heute die Unregelmäßigkeit und
die Unterbrochenheit schönes Wort!^ der Beschäftigung nicht geringer ist als
früher. Fortwährend sind tausende von Arbeitern arbeitslos und folglich in
größerer oder geringerer Not. Mit der Überproduktion an Gütern geht Hand
in Hand eine Verdrängung der menschlichen Arbeitskraft. Daher die künstliche
Übervölkerung, daher das Elend der Arbeit..... Der Kapitalismus



) Diese sind natürlich für verschied"" Jahre verschieden,
Englische Zustände

auch Giffen, der seine Zahlen^) aufrecht erhält. Er berechnet, daß in den
letzten fünfzig Jahren das Durchschnittseinkommen des Arbeiters von 40 auf 80,
die Summe aller Arbeitereiukommen von 200 auf 630 Millionen Pfund
Sterling gestiegen sei. Die Preise seien bis 1872 gestiegen, dann wieder ge¬
fallen, sodaß sie heute nicht höher stünden als vor fünfzig Jahren; nur die
Wohnuugsmiete sei natürlich nicht billiger geworden. Die Verbesserung der
Lage der Arbeiter bestehe hauptsächlich darin, daß sich der Prozentsatz der
schlecht bezahlten Arbeiter vermindert habe. Die Gewerkvereine zählen nach
Giffen nur 871000 Mitglieder auf 13 200000 Arbeiter.

Ihr Endurteil gaben die Mehrheit und die Minderheit der Kommission
gesondert ab. Die Mehrheit hebt die Verbesserungen in der Lage der Arbeiter
hervor, namentlich auch die Selbsthilfe durch großartige Konsumvereine und
Häuserbaugeuossenschaften. Die Minderheit, die aus den Kollektivisten, oder
wie wir das gewöhnlich nennen, Sozialisten besteht, giebt die eingetretne
Besserung zwar zu, meint aber, die Lage der Arbeiter sei infolge des großen
Anteils, den das Kapital vom Arbeitserträge beziehe, noch sehr jämmerlich,
und fordert staatssozialistische Maßregeln. Schmid muß dann doch schließlich
auch seinerseits ein Endurteil abgeben und meint, das sei eine sehr ver¬
antwortungsvolle Sache. Soviel sei wohl klar, daß Sozialisten wie Schippel,
die sogar eine Verschlechterung der Lage des englischen Arbeiters behaupteten,
entschieden Unrecht Hütten; schreibe doch sogar Engels in der Vorrede zur
neuen Ausgabe seines Buches „Die Lage der arbeitenden Klassen in England":
„Der in diesem Buche beschrieb»? Stand der Dinge gehört heute — wenigstens
was England angeht — größtenteils der Vergangenheit an." Insbesondre
kämen die von Marx, Engels und andern beschriebnen Grausamkeiten nicht
mehr vor. Hierzu möchten wir bemerken, daß die unmöglich geworden sind,
seitdem sie an die Öffentlichkeit gebracht worden und die Arbeiter organisirt
sind; das Volk würde den Geistlichen die Bibel und den Richtern das Straf¬
gesetzbuch an den Kopf werfen, wenn heute uoch Massenverbrechen im Interesse
des Unternehmerprofits gestattet würden. Aber die Besserung zugegeben, fährt
Schmid fort, so sind doch die schlimmsten der mit der kapitalistischen Produktions¬
weise verketteten Übel, die Krisen, weder seltner noch von minder zerstörenden
Wirkungen begleitet als vor fünfzig Jahren. „Die Folge davon und die Folge
der arbeitsparenden Maschinerie ist, daß auch heute die Unregelmäßigkeit und
die Unterbrochenheit schönes Wort!^ der Beschäftigung nicht geringer ist als
früher. Fortwährend sind tausende von Arbeitern arbeitslos und folglich in
größerer oder geringerer Not. Mit der Überproduktion an Gütern geht Hand
in Hand eine Verdrängung der menschlichen Arbeitskraft. Daher die künstliche
Übervölkerung, daher das Elend der Arbeit..... Der Kapitalismus



) Diese sind natürlich für verschied»» Jahre verschieden,
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[0512] Englische Zustände auch Giffen, der seine Zahlen^) aufrecht erhält. Er berechnet, daß in den letzten fünfzig Jahren das Durchschnittseinkommen des Arbeiters von 40 auf 80, die Summe aller Arbeitereiukommen von 200 auf 630 Millionen Pfund Sterling gestiegen sei. Die Preise seien bis 1872 gestiegen, dann wieder ge¬ fallen, sodaß sie heute nicht höher stünden als vor fünfzig Jahren; nur die Wohnuugsmiete sei natürlich nicht billiger geworden. Die Verbesserung der Lage der Arbeiter bestehe hauptsächlich darin, daß sich der Prozentsatz der schlecht bezahlten Arbeiter vermindert habe. Die Gewerkvereine zählen nach Giffen nur 871000 Mitglieder auf 13 200000 Arbeiter. Ihr Endurteil gaben die Mehrheit und die Minderheit der Kommission gesondert ab. Die Mehrheit hebt die Verbesserungen in der Lage der Arbeiter hervor, namentlich auch die Selbsthilfe durch großartige Konsumvereine und Häuserbaugeuossenschaften. Die Minderheit, die aus den Kollektivisten, oder wie wir das gewöhnlich nennen, Sozialisten besteht, giebt die eingetretne Besserung zwar zu, meint aber, die Lage der Arbeiter sei infolge des großen Anteils, den das Kapital vom Arbeitserträge beziehe, noch sehr jämmerlich, und fordert staatssozialistische Maßregeln. Schmid muß dann doch schließlich auch seinerseits ein Endurteil abgeben und meint, das sei eine sehr ver¬ antwortungsvolle Sache. Soviel sei wohl klar, daß Sozialisten wie Schippel, die sogar eine Verschlechterung der Lage des englischen Arbeiters behaupteten, entschieden Unrecht Hütten; schreibe doch sogar Engels in der Vorrede zur neuen Ausgabe seines Buches „Die Lage der arbeitenden Klassen in England": „Der in diesem Buche beschrieb»? Stand der Dinge gehört heute — wenigstens was England angeht — größtenteils der Vergangenheit an." Insbesondre kämen die von Marx, Engels und andern beschriebnen Grausamkeiten nicht mehr vor. Hierzu möchten wir bemerken, daß die unmöglich geworden sind, seitdem sie an die Öffentlichkeit gebracht worden und die Arbeiter organisirt sind; das Volk würde den Geistlichen die Bibel und den Richtern das Straf¬ gesetzbuch an den Kopf werfen, wenn heute uoch Massenverbrechen im Interesse des Unternehmerprofits gestattet würden. Aber die Besserung zugegeben, fährt Schmid fort, so sind doch die schlimmsten der mit der kapitalistischen Produktions¬ weise verketteten Übel, die Krisen, weder seltner noch von minder zerstörenden Wirkungen begleitet als vor fünfzig Jahren. „Die Folge davon und die Folge der arbeitsparenden Maschinerie ist, daß auch heute die Unregelmäßigkeit und die Unterbrochenheit schönes Wort!^ der Beschäftigung nicht geringer ist als früher. Fortwährend sind tausende von Arbeitern arbeitslos und folglich in größerer oder geringerer Not. Mit der Überproduktion an Gütern geht Hand in Hand eine Verdrängung der menschlichen Arbeitskraft. Daher die künstliche Übervölkerung, daher das Elend der Arbeit..... Der Kapitalismus ) Diese sind natürlich für verschied»» Jahre verschieden,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/512>, abgerufen am 08.01.2025.