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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Englische Zustände

Roß und Reisige, nicht Armee und Polizei, auch nicht allein der besonnene
Sinn (sodsr laste) der Engländer, sondern die moralische Kraft einer christ¬
lichen Minorität, die mit der Fackel eines wahrhaft glaubensfeurigen Enthu¬
siasmus der Hydra des Riesenübels je länger je erfolgreicher die Häupter ab¬
schlägt." Das glauben wir nun dem Verfasser nicht. Wir wissen gar wohl, welche
Verdienste sich die Christlich-Sozialen um das Gewerkschafts- und Genossenschafts¬
wesen erworben haben, aber eben dieses, nicht die bloß mithelfende Religion
ist es gewesen, was Erfolge erzielt hat, die ins Gewicht fallen. Wir sind
auch überzeugt, daß die aufrichtige Frömmigkeit, die neben der heuchlerischen
in England thätig ist, und die Werke der Nächstenliebe, die aus ihr hervor¬
gehen, vielfach versöhnend wirken, und jedermann sieht ein, daß in einem Lande,
wo bei Arbeiteraufständen Gaben für die Streitenden an den Kirchthüren ein¬
gesammelt werden, die Arbeiterschaft ein ganz andres Verhältnis zur Kirche
haben muß als in Deutschland, wo sich die Geistlichkeit vielfach zur schwarzen
Garde des Polizeistaats erniedrigt hat, und daß das freundlichere Verhältnis
der Arbeiter zur Kirche auch der bürgerlichen Ordnung zu gute kommt. Aber
die Ansicht, daß es der christliche Glaube und die christliche Nächstenliebe sei.
was in England die Revolution verhüte, wird damit noch lange nicht gerecht¬
fertigt; angesichts der Thatsache, daß die Engländer gerade im Namen der
Religion und in einem Zeitalter fanatischer Gläubigkeit ihre große Revolution
durchgeführt und ihren König enthauptet haben, sollte man auf so eine Ansicht
gar nicht erst verfallen. Die politische Haltung des englischen Arbeiterstandes
ist ganz leicht zu verstehen, ohne daß man die Religion zu Hilfe nimmt. Der
englische Arbeiterstand ist bis in die neuere Zeit hinein nichts weniger als
lammfromm, sondern sehr gewaltthätig und zu Exzessen geneigt gewesen. Revo¬
lutionär konnte er jedoch nicht sein, weil er viel zu ungebildet war; er bestand
doch durchweg aus Leuten, die weder schreiben noch lesen konnten. Pöbelrevolten
zu unterdrücken genügt immer und überall die allerkleinste Militärmacht; das galt
schon vor der Erfindung der modernen Waffen, um wie viel mehr heute! Die
Wirksamkeit der Gewerkvereine war nun u. a. darauf gerichtet, die Arbeiter von
der Nutzlosigkeit und Schädlichkeit aller Gewaltthätigkeiten zu überzeugen und
sie für den unblutigen Lohnkampf und für die genossenschaftliche Selbsthilfe
zu erziehen. Das ist ihnen gelungen und konnte um so leichter gelingen, als
ihnen der mittlerweile eingeführte Schulzwang zu Hilfe gekommen war und
unter den Arbeitern die Kunst des Lesens verbreitet hatte. Die englischen
Arbeiter sind also freilich nicht in dem Sinne revolutionär, daß sie London
in die Luft zu sprengen oder den Soldaten eine Schlacht zu liefern gedächten;
in diesem Sinne sind es aber die deutschen auch nicht, und die romanischen
nur manchmal wider Willen, indem sie ihr Temperament hinreißt. Dagegen
in dem Sinne, daß sie eine Umgestaltung der Gesellschaft anstreben, sind die
englischen Arbeiter so gut revolutionär wie die deutschen; der Unterschied be-


Englische Zustände

Roß und Reisige, nicht Armee und Polizei, auch nicht allein der besonnene
Sinn (sodsr laste) der Engländer, sondern die moralische Kraft einer christ¬
lichen Minorität, die mit der Fackel eines wahrhaft glaubensfeurigen Enthu¬
siasmus der Hydra des Riesenübels je länger je erfolgreicher die Häupter ab¬
schlägt." Das glauben wir nun dem Verfasser nicht. Wir wissen gar wohl, welche
Verdienste sich die Christlich-Sozialen um das Gewerkschafts- und Genossenschafts¬
wesen erworben haben, aber eben dieses, nicht die bloß mithelfende Religion
ist es gewesen, was Erfolge erzielt hat, die ins Gewicht fallen. Wir sind
auch überzeugt, daß die aufrichtige Frömmigkeit, die neben der heuchlerischen
in England thätig ist, und die Werke der Nächstenliebe, die aus ihr hervor¬
gehen, vielfach versöhnend wirken, und jedermann sieht ein, daß in einem Lande,
wo bei Arbeiteraufständen Gaben für die Streitenden an den Kirchthüren ein¬
gesammelt werden, die Arbeiterschaft ein ganz andres Verhältnis zur Kirche
haben muß als in Deutschland, wo sich die Geistlichkeit vielfach zur schwarzen
Garde des Polizeistaats erniedrigt hat, und daß das freundlichere Verhältnis
der Arbeiter zur Kirche auch der bürgerlichen Ordnung zu gute kommt. Aber
die Ansicht, daß es der christliche Glaube und die christliche Nächstenliebe sei.
was in England die Revolution verhüte, wird damit noch lange nicht gerecht¬
fertigt; angesichts der Thatsache, daß die Engländer gerade im Namen der
Religion und in einem Zeitalter fanatischer Gläubigkeit ihre große Revolution
durchgeführt und ihren König enthauptet haben, sollte man auf so eine Ansicht
gar nicht erst verfallen. Die politische Haltung des englischen Arbeiterstandes
ist ganz leicht zu verstehen, ohne daß man die Religion zu Hilfe nimmt. Der
englische Arbeiterstand ist bis in die neuere Zeit hinein nichts weniger als
lammfromm, sondern sehr gewaltthätig und zu Exzessen geneigt gewesen. Revo¬
lutionär konnte er jedoch nicht sein, weil er viel zu ungebildet war; er bestand
doch durchweg aus Leuten, die weder schreiben noch lesen konnten. Pöbelrevolten
zu unterdrücken genügt immer und überall die allerkleinste Militärmacht; das galt
schon vor der Erfindung der modernen Waffen, um wie viel mehr heute! Die
Wirksamkeit der Gewerkvereine war nun u. a. darauf gerichtet, die Arbeiter von
der Nutzlosigkeit und Schädlichkeit aller Gewaltthätigkeiten zu überzeugen und
sie für den unblutigen Lohnkampf und für die genossenschaftliche Selbsthilfe
zu erziehen. Das ist ihnen gelungen und konnte um so leichter gelingen, als
ihnen der mittlerweile eingeführte Schulzwang zu Hilfe gekommen war und
unter den Arbeitern die Kunst des Lesens verbreitet hatte. Die englischen
Arbeiter sind also freilich nicht in dem Sinne revolutionär, daß sie London
in die Luft zu sprengen oder den Soldaten eine Schlacht zu liefern gedächten;
in diesem Sinne sind es aber die deutschen auch nicht, und die romanischen
nur manchmal wider Willen, indem sie ihr Temperament hinreißt. Dagegen
in dem Sinne, daß sie eine Umgestaltung der Gesellschaft anstreben, sind die
englischen Arbeiter so gut revolutionär wie die deutschen; der Unterschied be-


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[0468] Englische Zustände Roß und Reisige, nicht Armee und Polizei, auch nicht allein der besonnene Sinn (sodsr laste) der Engländer, sondern die moralische Kraft einer christ¬ lichen Minorität, die mit der Fackel eines wahrhaft glaubensfeurigen Enthu¬ siasmus der Hydra des Riesenübels je länger je erfolgreicher die Häupter ab¬ schlägt." Das glauben wir nun dem Verfasser nicht. Wir wissen gar wohl, welche Verdienste sich die Christlich-Sozialen um das Gewerkschafts- und Genossenschafts¬ wesen erworben haben, aber eben dieses, nicht die bloß mithelfende Religion ist es gewesen, was Erfolge erzielt hat, die ins Gewicht fallen. Wir sind auch überzeugt, daß die aufrichtige Frömmigkeit, die neben der heuchlerischen in England thätig ist, und die Werke der Nächstenliebe, die aus ihr hervor¬ gehen, vielfach versöhnend wirken, und jedermann sieht ein, daß in einem Lande, wo bei Arbeiteraufständen Gaben für die Streitenden an den Kirchthüren ein¬ gesammelt werden, die Arbeiterschaft ein ganz andres Verhältnis zur Kirche haben muß als in Deutschland, wo sich die Geistlichkeit vielfach zur schwarzen Garde des Polizeistaats erniedrigt hat, und daß das freundlichere Verhältnis der Arbeiter zur Kirche auch der bürgerlichen Ordnung zu gute kommt. Aber die Ansicht, daß es der christliche Glaube und die christliche Nächstenliebe sei. was in England die Revolution verhüte, wird damit noch lange nicht gerecht¬ fertigt; angesichts der Thatsache, daß die Engländer gerade im Namen der Religion und in einem Zeitalter fanatischer Gläubigkeit ihre große Revolution durchgeführt und ihren König enthauptet haben, sollte man auf so eine Ansicht gar nicht erst verfallen. Die politische Haltung des englischen Arbeiterstandes ist ganz leicht zu verstehen, ohne daß man die Religion zu Hilfe nimmt. Der englische Arbeiterstand ist bis in die neuere Zeit hinein nichts weniger als lammfromm, sondern sehr gewaltthätig und zu Exzessen geneigt gewesen. Revo¬ lutionär konnte er jedoch nicht sein, weil er viel zu ungebildet war; er bestand doch durchweg aus Leuten, die weder schreiben noch lesen konnten. Pöbelrevolten zu unterdrücken genügt immer und überall die allerkleinste Militärmacht; das galt schon vor der Erfindung der modernen Waffen, um wie viel mehr heute! Die Wirksamkeit der Gewerkvereine war nun u. a. darauf gerichtet, die Arbeiter von der Nutzlosigkeit und Schädlichkeit aller Gewaltthätigkeiten zu überzeugen und sie für den unblutigen Lohnkampf und für die genossenschaftliche Selbsthilfe zu erziehen. Das ist ihnen gelungen und konnte um so leichter gelingen, als ihnen der mittlerweile eingeführte Schulzwang zu Hilfe gekommen war und unter den Arbeitern die Kunst des Lesens verbreitet hatte. Die englischen Arbeiter sind also freilich nicht in dem Sinne revolutionär, daß sie London in die Luft zu sprengen oder den Soldaten eine Schlacht zu liefern gedächten; in diesem Sinne sind es aber die deutschen auch nicht, und die romanischen nur manchmal wider Willen, indem sie ihr Temperament hinreißt. Dagegen in dem Sinne, daß sie eine Umgestaltung der Gesellschaft anstreben, sind die englischen Arbeiter so gut revolutionär wie die deutschen; der Unterschied be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/468>, abgerufen am 08.01.2025.