Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Die ungerechte Verteilung der Prozeßkosten im Strafverfahren Weit gehen, zu sagen: "Der Laie muß besser als das Gericht wissen, was Recht Aus dem ganzen Wesen des Strafrechts ergiebt sich aber, daß ein Ver¬ Nicht einmal indem er die etwa verwirkten Strafen anbietet, wenn er die Man sage nicht, daß Fülle, wie der hier erwähnte, ganz vereinzelt Die ungerechte Verteilung der Prozeßkosten im Strafverfahren Weit gehen, zu sagen: „Der Laie muß besser als das Gericht wissen, was Recht Aus dem ganzen Wesen des Strafrechts ergiebt sich aber, daß ein Ver¬ Nicht einmal indem er die etwa verwirkten Strafen anbietet, wenn er die Man sage nicht, daß Fülle, wie der hier erwähnte, ganz vereinzelt <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0439" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224023"/> <fw type="header" place="top"> Die ungerechte Verteilung der Prozeßkosten im Strafverfahren</fw><lb/> <p xml:id="ID_1326" prev="#ID_1325"> Weit gehen, zu sagen: „Der Laie muß besser als das Gericht wissen, was Recht<lb/> ist?" Thut man das, so muß man auch dem Angeklagten das Recht geben,<lb/> seine Nechtsttberzeugung dem Gericht aufzuzwingen, wenn sich dieses zu seinen<lb/> Gunsten irrt. Herr Stegwart hätte also das Recht haben müssen, zu sagen:<lb/> „Ich sehe ein, daß das Gesetz vom Jahre 1842 noch in Kraft ist, ich ver¬<lb/> lange keine Prüfung seiner Rechtsgiltigkeit, sondern bitte, nur über meine<lb/> sonstigen Einwände zu entscheiden." Dadurch hätte er das Verfahren in die<lb/> erste Instanz gebannt, und alle weitern Kosten wären ihm erspart geblieben.</p><lb/> <p xml:id="ID_1327"> Aus dem ganzen Wesen des Strafrechts ergiebt sich aber, daß ein Ver¬<lb/> zicht des Angeklagten auf Prüfung solcher Umstünde, die nach der Auffassung<lb/> des Gerichts zu seiner Freisprechung führen müssen, unzulässig ist. Demnach<lb/> kann der Angeklagte, auch wenn er sieht, daß sich das Gericht in der Aus¬<lb/> legung des Gesetzes zu seinen Gunsten irrt, in keiner Weise hindern, daß er<lb/> freigesprochen und dann das Verfahren von der Staatsanwaltschaft durch alle<lb/> Instanzen getrieben wird.</p><lb/> <p xml:id="ID_1328"> Nicht einmal indem er die etwa verwirkten Strafen anbietet, wenn er die<lb/> drohenden Kosten scheut, kann er den Fortgang des Prozesses abwenden. Und<lb/> da soll der schließlich Verurteilte die Nachteile tragen, die aus einem Rechts-<lb/> irrtum der Richter entstanden sind, dem er schlechterdings machtlos gegenüber¬<lb/> steht? Das ist theoretisch in keiner Weise zu rechtfertigen, und praktisch ergeben<lb/> sich Folgen daraus, die zu ernsten Bedenken Anlaß geben. Abgesehen davon,<lb/> daß, wie der vorliegende Fall zeigt, schließlich ohne ein Verschulden des An¬<lb/> geklagten die Kostcnlast häufig in gar keinem Verhältnis zu der Strafe und<lb/> Zu dem Vergehen steht, müssen solche Urteile auch unsre Rechtspflege unpopulär<lb/> wachen, wenn sie nicht gar das Mißtrauen des Volkes wachrufen. Denn der<lb/> schlichte Mann aus dem Volke sieht nur, daß Rechtsanwälte, Staatsanwälte<lb/> und Richter unkontrollirbare juristische Spitzfindigkeiten erörtern, und daß er<lb/> den hohen Herrn die Spesen dafür zahlen muß. Eine Freisprechung durch<lb/> die Vorinstanzen aus Nechtsgründen, eine Ehrenerklärung also gewissermaßen,<lb/> die die Gerichte dem Angeklagten geben, wird zu einer solchen Härte für ihn,<lb/> daß er nichts besseres thun kann, als Gott bitten, daß er ihn vor einer Frei¬<lb/> sprechung bewahren möge.</p><lb/> <p xml:id="ID_1329" next="#ID_1330"> Man sage nicht, daß Fülle, wie der hier erwähnte, ganz vereinzelt<lb/> dastünden. Der Mörder, der Einbrecher, der zu seiner Strafe eine große<lb/> Kostenlast erhült, wird unser Mitleid allerdings kaum erwecken. Endlos aber<lb/> ist die Zahl der durch unsre Gesetze, Polizei- und sonstige Verordnungen ge¬<lb/> schaffenen kleinen Vergehen, die mit geringen Geldstrafen bedroht sind. Und<lb/> der kleine Mann, der Händler, der Gewerbetreibende ist es vor allem, der der<lb/> Begehung solcher Vergehen ausgesetzt ist. Gerade solche Fälle geben aber teils<lb/> wegen der nicht immer scharfen Fassung der Verordnungen, teils wegen der<lb/> schwierigen Zustündigkeitsfrage die beste Gelegenheit zu den spitzfindigsten</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0439]
Die ungerechte Verteilung der Prozeßkosten im Strafverfahren
Weit gehen, zu sagen: „Der Laie muß besser als das Gericht wissen, was Recht
ist?" Thut man das, so muß man auch dem Angeklagten das Recht geben,
seine Nechtsttberzeugung dem Gericht aufzuzwingen, wenn sich dieses zu seinen
Gunsten irrt. Herr Stegwart hätte also das Recht haben müssen, zu sagen:
„Ich sehe ein, daß das Gesetz vom Jahre 1842 noch in Kraft ist, ich ver¬
lange keine Prüfung seiner Rechtsgiltigkeit, sondern bitte, nur über meine
sonstigen Einwände zu entscheiden." Dadurch hätte er das Verfahren in die
erste Instanz gebannt, und alle weitern Kosten wären ihm erspart geblieben.
Aus dem ganzen Wesen des Strafrechts ergiebt sich aber, daß ein Ver¬
zicht des Angeklagten auf Prüfung solcher Umstünde, die nach der Auffassung
des Gerichts zu seiner Freisprechung führen müssen, unzulässig ist. Demnach
kann der Angeklagte, auch wenn er sieht, daß sich das Gericht in der Aus¬
legung des Gesetzes zu seinen Gunsten irrt, in keiner Weise hindern, daß er
freigesprochen und dann das Verfahren von der Staatsanwaltschaft durch alle
Instanzen getrieben wird.
Nicht einmal indem er die etwa verwirkten Strafen anbietet, wenn er die
drohenden Kosten scheut, kann er den Fortgang des Prozesses abwenden. Und
da soll der schließlich Verurteilte die Nachteile tragen, die aus einem Rechts-
irrtum der Richter entstanden sind, dem er schlechterdings machtlos gegenüber¬
steht? Das ist theoretisch in keiner Weise zu rechtfertigen, und praktisch ergeben
sich Folgen daraus, die zu ernsten Bedenken Anlaß geben. Abgesehen davon,
daß, wie der vorliegende Fall zeigt, schließlich ohne ein Verschulden des An¬
geklagten die Kostcnlast häufig in gar keinem Verhältnis zu der Strafe und
Zu dem Vergehen steht, müssen solche Urteile auch unsre Rechtspflege unpopulär
wachen, wenn sie nicht gar das Mißtrauen des Volkes wachrufen. Denn der
schlichte Mann aus dem Volke sieht nur, daß Rechtsanwälte, Staatsanwälte
und Richter unkontrollirbare juristische Spitzfindigkeiten erörtern, und daß er
den hohen Herrn die Spesen dafür zahlen muß. Eine Freisprechung durch
die Vorinstanzen aus Nechtsgründen, eine Ehrenerklärung also gewissermaßen,
die die Gerichte dem Angeklagten geben, wird zu einer solchen Härte für ihn,
daß er nichts besseres thun kann, als Gott bitten, daß er ihn vor einer Frei¬
sprechung bewahren möge.
Man sage nicht, daß Fülle, wie der hier erwähnte, ganz vereinzelt
dastünden. Der Mörder, der Einbrecher, der zu seiner Strafe eine große
Kostenlast erhült, wird unser Mitleid allerdings kaum erwecken. Endlos aber
ist die Zahl der durch unsre Gesetze, Polizei- und sonstige Verordnungen ge¬
schaffenen kleinen Vergehen, die mit geringen Geldstrafen bedroht sind. Und
der kleine Mann, der Händler, der Gewerbetreibende ist es vor allem, der der
Begehung solcher Vergehen ausgesetzt ist. Gerade solche Fälle geben aber teils
wegen der nicht immer scharfen Fassung der Verordnungen, teils wegen der
schwierigen Zustündigkeitsfrage die beste Gelegenheit zu den spitzfindigsten
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