Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Die Mißstände in der Kleider- und Wäscheindustrie doch als Luftstoß endet. Was ist denn das Sweatingsystem? Ein Newyorker Die Zwischenmeisterbetriebe in dem weitesten Sinne des Worts, den auch ") Flensburg, Fr. Holzhäusfler, 18"!).
Die Mißstände in der Kleider- und Wäscheindustrie doch als Luftstoß endet. Was ist denn das Sweatingsystem? Ein Newyorker Die Zwischenmeisterbetriebe in dem weitesten Sinne des Worts, den auch ") Flensburg, Fr. Holzhäusfler, 18«!).
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Die Mißstände in der Kleider- und Wäscheindustrie
doch als Luftstoß endet. Was ist denn das Sweatingsystem? Ein Newyorker
Schneider hat in der Senatsenquete von 1883 darüber ausgesagt, das erste,
was man beim Studium dieses „Systems" entdecke, sei das, daß es gar nicht
bestehe. Das ist nun einmal die berechtigte Eigentümlichkeit des Schlagworts,
und Herr von Heyl hätte sich durch den „Sweater" nicht nasführen lassen
sollen. Besteht aber das Sweatingsystem nicht in Amerika, so besteht es erst
recht nicht in Deutschland, man müßte denn, wie es der Berliner Schneider
Timm in seiner Agitationsschrift „Das Sweatingsystem in der deutschen Kon¬
fektionsindustrie"*) thut, es für eine „genaue Definition" halten, wenn man
fagt, daß dabei unter folgenden Bedingungen gearbeitet werde: „1. außer¬
ordentlich niedrige Löhne; 2. außerordentlich lange Arbeitszeit; 3. ungesunde
Werkstätten; 4. Unregelmäßigkeit der Arbeit." Wenn definiren, statt begrenzen,
alle Grenzen entfernen bedeutete, so wäre das eine Definition. In Wirk¬
lichkeit geht es den Berliner Schneider wie dem Newyorker, nur daß der
Newyorker Schneider kein Agitator war, sondern die Dinge beim rechten Namen
nannte. Es giebt ohne Zweifel eine Reihe arger Mißstände in der deutschen
Konfektionsindustrie, aber ein „System" bilden doch die Punkte des Herrn
Timm gewiß nicht, auch das Schwitzsystem oder Zwischenmeistersystem nicht.
Sehen wir uns einmal die Sache selbst an.
Die Zwischenmeisterbetriebe in dem weitesten Sinne des Worts, den auch
die Kommission angenommen hatte, sind zum großen Teile reine Werkstatt¬
betriebe. Nichts in den Aussagen vor der Kommission giebt ein Recht, anzu¬
nehmen, daß diese Werkstätten im Vergleich mit den Fabrikbetrieben die wirt¬
schaftliche Lage der Arbeiter besonders herunterdrückten, wie dies nach den be¬
kannten Schilderungen in Amerika und England in den Arbeitsstuben der Fall
sein soll, wo russische Juden und andre neueingewcmderte, in Not gercitnc
Männer, Frauen und Kinder dicht zusammengedrängt arbeiten, schlafen und
essen. Ja es hat sich sogar durch die Vernehmungen wider Erwarten ergeben,
daß die wirtschaftlichen und gesundheitlichen Verhältnisse der Arbeiter in den
modernen nord- und ostdeutschen Konfektionswerkstätten mit Frauenarbeit und
zahlreichen ungelernten Meistern nicht schlechter, sondern zum Teil besser waren
als die in den süddeutschen, durchaus handwerksmäßigen Betrieben gelernter
Schneidermeister, die nur mit gelernten Schneidergesellen arbeiten. Die Kon¬
fektionsarbeit ist in Deutschland, wenigstens in der Schneiderei, aus dem Hand¬
werk hervorgegangen. Die Konfektionsmeister sind zum großen Teile heute noch
sogenannte „verlegte" Handwerksmeister, die die Arbeit für Konfektionsgeschäfte
als Lückenbüßer gern übernehmen, freilich die Nachteile des „Verlagsystems"
dabei mit in den Kauf nehmen müssen. In der Wäschekonfektion entstand die
Konfektionswerkstatt oder Arbeitsstube aus der hauswirtschaftlichen Arbeit, zum
") Flensburg, Fr. Holzhäusfler, 18«!).
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