Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Flecke hat, der kann es sehen, wenn er nur will, was der Familienzusammen¬ Aber deshalb darf man doch nicht blind sein gegen die große Gefahr, die Flecke hat, der kann es sehen, wenn er nur will, was der Familienzusammen¬ Aber deshalb darf man doch nicht blind sein gegen die große Gefahr, die <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0363" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223947"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_1104" prev="#ID_1103"> Flecke hat, der kann es sehen, wenn er nur will, was der Familienzusammen¬<lb/> halt und die „gute Freundschaft" unter unsern Arbeitern, Gott sei Dank, noch<lb/> bedeutet, und gerade auch bei den Arbeiterinnen. Hier spielt sich ein Arbeits¬<lb/> nachweis ab von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, oft nur nach Pfennigen<lb/> rechnend, aber Goldes wert. Hier begegnen wir naturalwirtschaftlichen, auch<lb/> Patriarchalischen Überresten mitten im modernsten Getriebe der Großstadt und<lb/> vor allem einem ganz gewaltigen Stück von gesundesten Sozialismus, das heißt<lb/> einfach von unmittelbarer, hilfsbereiter, aufopfernder Nächstenliebe, die in ihrer<lb/> Selbstverständlichkeit und Natürlichkeit eine Menge Sünden deckt und als ein<lb/> volkswirtschaftlicher Faktor von ganz gewaltiger praktischer Bedeutung in<lb/> Rechnung zu stellen ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_1105" next="#ID_1106"> Aber deshalb darf man doch nicht blind sein gegen die große Gefahr, die<lb/> aus einem Lohne, der die Produktionskosten der Arbeit nicht deckt, für Hundert¬<lb/> tausende von fleißigen Händen mit Notwendigkeit erwachsen muß. Zunächst<lb/> ist nach den vorhandnen zuverlässigen Auskünften nicht daran zu zweifeln,<lb/> daß der in der Konfektionsarbeit erzielte Arbeitsverdienst auch als Zubuße¬<lb/> verdienst in der großen Mehrzahl der Fülle viel zu gering ist. Wenn Arbeiter¬<lb/> frauen in Vreslau das Dutzend Fraueuhemden für neunzig Pfennige nähen<lb/> müssen und dabei die Nähmaschine abzahlen und unterhalten, auch das Nähgarn<lb/> selbst bezahlen, wenn in Berlin Hosenhandnäherinnen in der Werkstatt mit<lb/> nachträglicher Arbeit zu Hause bis in die Nacht hinein neun bis zehn Mark<lb/> die Woche, in schlechter Zeit nur fünf bis sechs Mark verdienen, und Hosen¬<lb/> stepperinnen bei zehn bis dreißig Pfennigen für das Stück von morgens sieben<lb/> Uhr bis abends zehn Uhr ohne Pausen auch nur auf zehn bis zwölf Mark<lb/> kommen, so liegt es auf der Hand, daß solche Löhne auch als Zubußeverdicuste<lb/> die Arbeiterschaft in ihrer Lebenshaltung nicht fördern, sondern herabdrücken<lb/> müssen, wenn sie unentbehrlich sind. Die Arbeitslast dieser armen Frauen<lb/> und Mütter ist teilweise ganz entsetzlich, freilich durchaus uicht immer in den<lb/> sogenannten „Verhältnissen" begründet, sondern sehr häufig Schuld des Ehe¬<lb/> mannes, der in Kneipe und Verein eine Leuchte uuter den Genossen spielt, aber<lb/> von seinem Wochenverdienst von 27 Mark, wie die Protokolle in einem Falle aus¬<lb/> weisen, sür den Familienunterhalt, es sind fünf Kinder im Hause, im ganzen nur<lb/> sechs bis sieben Mark abgiebt. Solche Fülle haben wir persönlich leider recht<lb/> viele kennen gelernt, haben aber nie erfahren, daß sich die „Genossen" der armen<lb/> Weiber angenommen hätten. Hier war eben die Rücksicht auf die Familie schon<lb/> überwundncr Standpunkt. Aber auch abgesehen von der unzureichenden Höhe<lb/> des Arbeitslohns als Zubußeverdienst muß die weitere Entwicklung der Zustünde<lb/> verhängnisvoll werden, indem die Zahl derer, die ausschließlich auf diesen unzu¬<lb/> reichenden Lohn angewiesen sind, stark anwächst. War bei der Mutter und auch<lb/> bei den Töchtern, solange diese im Elternhause eine Heimat haben, der Lohn<lb/> em Zubußeverdienst, mit den Jahren hört er für die junge Generation auf,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0363]
Flecke hat, der kann es sehen, wenn er nur will, was der Familienzusammen¬
halt und die „gute Freundschaft" unter unsern Arbeitern, Gott sei Dank, noch
bedeutet, und gerade auch bei den Arbeiterinnen. Hier spielt sich ein Arbeits¬
nachweis ab von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, oft nur nach Pfennigen
rechnend, aber Goldes wert. Hier begegnen wir naturalwirtschaftlichen, auch
Patriarchalischen Überresten mitten im modernsten Getriebe der Großstadt und
vor allem einem ganz gewaltigen Stück von gesundesten Sozialismus, das heißt
einfach von unmittelbarer, hilfsbereiter, aufopfernder Nächstenliebe, die in ihrer
Selbstverständlichkeit und Natürlichkeit eine Menge Sünden deckt und als ein
volkswirtschaftlicher Faktor von ganz gewaltiger praktischer Bedeutung in
Rechnung zu stellen ist.
Aber deshalb darf man doch nicht blind sein gegen die große Gefahr, die
aus einem Lohne, der die Produktionskosten der Arbeit nicht deckt, für Hundert¬
tausende von fleißigen Händen mit Notwendigkeit erwachsen muß. Zunächst
ist nach den vorhandnen zuverlässigen Auskünften nicht daran zu zweifeln,
daß der in der Konfektionsarbeit erzielte Arbeitsverdienst auch als Zubuße¬
verdienst in der großen Mehrzahl der Fülle viel zu gering ist. Wenn Arbeiter¬
frauen in Vreslau das Dutzend Fraueuhemden für neunzig Pfennige nähen
müssen und dabei die Nähmaschine abzahlen und unterhalten, auch das Nähgarn
selbst bezahlen, wenn in Berlin Hosenhandnäherinnen in der Werkstatt mit
nachträglicher Arbeit zu Hause bis in die Nacht hinein neun bis zehn Mark
die Woche, in schlechter Zeit nur fünf bis sechs Mark verdienen, und Hosen¬
stepperinnen bei zehn bis dreißig Pfennigen für das Stück von morgens sieben
Uhr bis abends zehn Uhr ohne Pausen auch nur auf zehn bis zwölf Mark
kommen, so liegt es auf der Hand, daß solche Löhne auch als Zubußeverdicuste
die Arbeiterschaft in ihrer Lebenshaltung nicht fördern, sondern herabdrücken
müssen, wenn sie unentbehrlich sind. Die Arbeitslast dieser armen Frauen
und Mütter ist teilweise ganz entsetzlich, freilich durchaus uicht immer in den
sogenannten „Verhältnissen" begründet, sondern sehr häufig Schuld des Ehe¬
mannes, der in Kneipe und Verein eine Leuchte uuter den Genossen spielt, aber
von seinem Wochenverdienst von 27 Mark, wie die Protokolle in einem Falle aus¬
weisen, sür den Familienunterhalt, es sind fünf Kinder im Hause, im ganzen nur
sechs bis sieben Mark abgiebt. Solche Fülle haben wir persönlich leider recht
viele kennen gelernt, haben aber nie erfahren, daß sich die „Genossen" der armen
Weiber angenommen hätten. Hier war eben die Rücksicht auf die Familie schon
überwundncr Standpunkt. Aber auch abgesehen von der unzureichenden Höhe
des Arbeitslohns als Zubußeverdienst muß die weitere Entwicklung der Zustünde
verhängnisvoll werden, indem die Zahl derer, die ausschließlich auf diesen unzu¬
reichenden Lohn angewiesen sind, stark anwächst. War bei der Mutter und auch
bei den Töchtern, solange diese im Elternhause eine Heimat haben, der Lohn
em Zubußeverdienst, mit den Jahren hört er für die junge Generation auf,
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