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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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sparung eines Notgroschens ermöglichen, niemals aber den allernotdürftigsten
Unterhalt für die Zeit dauernder Arbeitslosigkeit und Arbeitsunfähigkeit sichern.
Sie teilen dieses Los freilich mit der großen Zahl der neuerdings auch im kauf¬
männischen Berufe thätigen Arbeiterinnen mit besserer Bildung, aber das kann
nicht hindern, sie nnter den Konfektionsarbeiterinnen, die, auf ihren Arbeits¬
verdienst allein angewiesen, einer wahrhaft trostlosen Zukunft entgegensehen,
an erster Stelle zu nennen. Und was will schließlich diese ganze männliche
und weibliche Elite, die sich in Deutschland vielleicht auf tausend und einige
beläuft, besagen gegenüber der nach einigen Hunderttausenden zahlenden Masse
der übrigen Konfektionsarbeiterschaft! Freilich giebt es auch unter diesen sicher
noch eine ganze Anzahl -- jede Schätzung wäre hier müßige Spielerei --
von Arbeitern und Arbeiterinnen, die, auch wenn sie allein von dem Verdienst
aus der Konfektionsarbeit leben müssen, ihr auskömmliches Brot haben. So
sehen wir z. B. die jungen, unverheirateten Werkstattarbeiter in den süd¬
deutschen Handwerksbetrieben, die für Konfektionsgeschäfte arbeiten, durchweg ge¬
lernte Schneidergesellen, sei es mit oder ohne Kost und Wohnung beim Meister,
so ziemlich in sicherer und ausreichender Nahrung. Aber die ganze Lebens¬
weise dieser jungen Leute, gerade auch in des Meisters Hause, ist ersichtlich
immer so ausgesucht ungemütlich, daß man es ihnen wahrhaftig nicht ver¬
denken kann, wenn sie sich so zeitig als irgend möglich durch Gründung
eines eignen Hausstands aus ihr zu befreien suchen und dann freilich als ver¬
heiratete "Sitzgcsellen," d. h. Heimarbeiter, sofort aufs schwerste von der
Unauskömmlichkeit des Arbeitsverdienstes betroffen werden. Und nicht anders
steht es mit den "auf sich selbst gestellten" Werkstattarbeiterinnen mit auskömm¬
licher Bezahlung in Norddeutschland, namentlich in Berlin. Mögen viele von
ihnen in der "Hochsaison" auch zwanzig bis fünfundzwanzig Mark wöchentlich
verdienen, die stille Zeit zwingt sie zum Zusetzen, und der Lebensunterhalt ist schon
wegen der Mietpreise recht teuer. Nur wenige können dabei einen Notgroschen
für längere Arbeitslosigkeit in spätern Jahren oder eine bescheidne Ausstattung
für die Ehe sparen, noch viel wenigere thun es, weil ihnen Schleier und Feder¬
hut in der Regel mehr wert ist als ein ganzes Hemd auf dem Leibe. Jedes
halbwegs ordentlich gehaltne Dienstmädchen hat bei weit besserer Ernährung
nach fünf Jahren zehnmal mehr im Sparkassenbuch als eine gutbezahlte
Berliner Konfektionsnähcrin nach zehn Jahren. Aber auch diese auskömmlich
bezahlten Arbeiter und Arbeiterinnen sind doch immer wieder nur eine Aus¬
nahme gegenüber der Masse der Werkstattarbeiterinnen mit schlechtem Wochen-
Verdienst und regelmäßig wiederkehrenden Arbeitsmangel, und vollends gegen¬
über der Masse der Heimarbeiterinnen, die, man möchte sagen, nur dazu da
sind, bei jedem flauem Geschäftsgang außer Dienst gestellt zu werden.

Der Wechsel zwischen "Saison" und stiller Zeit für die Arbeiter ist
natürlich in den verschiednen Zweigen der Konfektion, anch in den verschiednen


sparung eines Notgroschens ermöglichen, niemals aber den allernotdürftigsten
Unterhalt für die Zeit dauernder Arbeitslosigkeit und Arbeitsunfähigkeit sichern.
Sie teilen dieses Los freilich mit der großen Zahl der neuerdings auch im kauf¬
männischen Berufe thätigen Arbeiterinnen mit besserer Bildung, aber das kann
nicht hindern, sie nnter den Konfektionsarbeiterinnen, die, auf ihren Arbeits¬
verdienst allein angewiesen, einer wahrhaft trostlosen Zukunft entgegensehen,
an erster Stelle zu nennen. Und was will schließlich diese ganze männliche
und weibliche Elite, die sich in Deutschland vielleicht auf tausend und einige
beläuft, besagen gegenüber der nach einigen Hunderttausenden zahlenden Masse
der übrigen Konfektionsarbeiterschaft! Freilich giebt es auch unter diesen sicher
noch eine ganze Anzahl — jede Schätzung wäre hier müßige Spielerei —
von Arbeitern und Arbeiterinnen, die, auch wenn sie allein von dem Verdienst
aus der Konfektionsarbeit leben müssen, ihr auskömmliches Brot haben. So
sehen wir z. B. die jungen, unverheirateten Werkstattarbeiter in den süd¬
deutschen Handwerksbetrieben, die für Konfektionsgeschäfte arbeiten, durchweg ge¬
lernte Schneidergesellen, sei es mit oder ohne Kost und Wohnung beim Meister,
so ziemlich in sicherer und ausreichender Nahrung. Aber die ganze Lebens¬
weise dieser jungen Leute, gerade auch in des Meisters Hause, ist ersichtlich
immer so ausgesucht ungemütlich, daß man es ihnen wahrhaftig nicht ver¬
denken kann, wenn sie sich so zeitig als irgend möglich durch Gründung
eines eignen Hausstands aus ihr zu befreien suchen und dann freilich als ver¬
heiratete „Sitzgcsellen," d. h. Heimarbeiter, sofort aufs schwerste von der
Unauskömmlichkeit des Arbeitsverdienstes betroffen werden. Und nicht anders
steht es mit den „auf sich selbst gestellten" Werkstattarbeiterinnen mit auskömm¬
licher Bezahlung in Norddeutschland, namentlich in Berlin. Mögen viele von
ihnen in der „Hochsaison" auch zwanzig bis fünfundzwanzig Mark wöchentlich
verdienen, die stille Zeit zwingt sie zum Zusetzen, und der Lebensunterhalt ist schon
wegen der Mietpreise recht teuer. Nur wenige können dabei einen Notgroschen
für längere Arbeitslosigkeit in spätern Jahren oder eine bescheidne Ausstattung
für die Ehe sparen, noch viel wenigere thun es, weil ihnen Schleier und Feder¬
hut in der Regel mehr wert ist als ein ganzes Hemd auf dem Leibe. Jedes
halbwegs ordentlich gehaltne Dienstmädchen hat bei weit besserer Ernährung
nach fünf Jahren zehnmal mehr im Sparkassenbuch als eine gutbezahlte
Berliner Konfektionsnähcrin nach zehn Jahren. Aber auch diese auskömmlich
bezahlten Arbeiter und Arbeiterinnen sind doch immer wieder nur eine Aus¬
nahme gegenüber der Masse der Werkstattarbeiterinnen mit schlechtem Wochen-
Verdienst und regelmäßig wiederkehrenden Arbeitsmangel, und vollends gegen¬
über der Masse der Heimarbeiterinnen, die, man möchte sagen, nur dazu da
sind, bei jedem flauem Geschäftsgang außer Dienst gestellt zu werden.

Der Wechsel zwischen „Saison" und stiller Zeit für die Arbeiter ist
natürlich in den verschiednen Zweigen der Konfektion, anch in den verschiednen


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[0360] sparung eines Notgroschens ermöglichen, niemals aber den allernotdürftigsten Unterhalt für die Zeit dauernder Arbeitslosigkeit und Arbeitsunfähigkeit sichern. Sie teilen dieses Los freilich mit der großen Zahl der neuerdings auch im kauf¬ männischen Berufe thätigen Arbeiterinnen mit besserer Bildung, aber das kann nicht hindern, sie nnter den Konfektionsarbeiterinnen, die, auf ihren Arbeits¬ verdienst allein angewiesen, einer wahrhaft trostlosen Zukunft entgegensehen, an erster Stelle zu nennen. Und was will schließlich diese ganze männliche und weibliche Elite, die sich in Deutschland vielleicht auf tausend und einige beläuft, besagen gegenüber der nach einigen Hunderttausenden zahlenden Masse der übrigen Konfektionsarbeiterschaft! Freilich giebt es auch unter diesen sicher noch eine ganze Anzahl — jede Schätzung wäre hier müßige Spielerei — von Arbeitern und Arbeiterinnen, die, auch wenn sie allein von dem Verdienst aus der Konfektionsarbeit leben müssen, ihr auskömmliches Brot haben. So sehen wir z. B. die jungen, unverheirateten Werkstattarbeiter in den süd¬ deutschen Handwerksbetrieben, die für Konfektionsgeschäfte arbeiten, durchweg ge¬ lernte Schneidergesellen, sei es mit oder ohne Kost und Wohnung beim Meister, so ziemlich in sicherer und ausreichender Nahrung. Aber die ganze Lebens¬ weise dieser jungen Leute, gerade auch in des Meisters Hause, ist ersichtlich immer so ausgesucht ungemütlich, daß man es ihnen wahrhaftig nicht ver¬ denken kann, wenn sie sich so zeitig als irgend möglich durch Gründung eines eignen Hausstands aus ihr zu befreien suchen und dann freilich als ver¬ heiratete „Sitzgcsellen," d. h. Heimarbeiter, sofort aufs schwerste von der Unauskömmlichkeit des Arbeitsverdienstes betroffen werden. Und nicht anders steht es mit den „auf sich selbst gestellten" Werkstattarbeiterinnen mit auskömm¬ licher Bezahlung in Norddeutschland, namentlich in Berlin. Mögen viele von ihnen in der „Hochsaison" auch zwanzig bis fünfundzwanzig Mark wöchentlich verdienen, die stille Zeit zwingt sie zum Zusetzen, und der Lebensunterhalt ist schon wegen der Mietpreise recht teuer. Nur wenige können dabei einen Notgroschen für längere Arbeitslosigkeit in spätern Jahren oder eine bescheidne Ausstattung für die Ehe sparen, noch viel wenigere thun es, weil ihnen Schleier und Feder¬ hut in der Regel mehr wert ist als ein ganzes Hemd auf dem Leibe. Jedes halbwegs ordentlich gehaltne Dienstmädchen hat bei weit besserer Ernährung nach fünf Jahren zehnmal mehr im Sparkassenbuch als eine gutbezahlte Berliner Konfektionsnähcrin nach zehn Jahren. Aber auch diese auskömmlich bezahlten Arbeiter und Arbeiterinnen sind doch immer wieder nur eine Aus¬ nahme gegenüber der Masse der Werkstattarbeiterinnen mit schlechtem Wochen- Verdienst und regelmäßig wiederkehrenden Arbeitsmangel, und vollends gegen¬ über der Masse der Heimarbeiterinnen, die, man möchte sagen, nur dazu da sind, bei jedem flauem Geschäftsgang außer Dienst gestellt zu werden. Der Wechsel zwischen „Saison" und stiller Zeit für die Arbeiter ist natürlich in den verschiednen Zweigen der Konfektion, anch in den verschiednen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/360>, abgerufen am 08.01.2025.