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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

bild der Erinnerung wird von einer Erinnerung entlehnt, die mit dem
Bewußtsein der Wahrnehmung selbst zusammenfällt. Wie man mit der Hand
nichts auffassen kann, ohne es zugleich festzuhalten, so kann auch geistig nichts
aufgefaßt werden, das nicht zugleich festgehalten würde, deshalb findet sich
auch jede Trübung in dem Bilde der Wahrnehmung in den Bildern der Er¬
innerung wieder. Es kann also die Frage, ob die Wahrheit auf Seiten der
Aussage der Sozialdemokraten oder auf Seiten des Gendarms und der Mit¬
glieder des christlichen Bergarbeitervereins steht, oder ob vielleicht die Aus¬
sagen beider Parteien die Wahrheit nicht vollständig getroffen haben, ent¬
schieden werden, wie sie will, ohne daß dadurch ein Beweis für die Schuld
der damaligen Angeklagten gewonnen werden kann. Man wende nicht ein,
daß mit jedem falschen Zeugnis ein gewisses Maß von strafrechtlicher Schuld
verbunden sei, weil sich jeder rechtschaffene und besonnene Mensch durch Vor¬
sicht vor dem Meineide schützen und in demütiger Selbsterkenntnis seiner Jrr-
fähigkeit unter dem Eide immer die Möglichkeit des Irrtums offen halten
müsse, namentlich wenn ihm das Bedenkliche der eignen Aussage durch ab¬
weichende Aussagen andrer nahegelegt werde. Ein solcher Einwand beruht
auf einer gedankenschwachen, leider anch unter Juristen verbreiteten Irrlehre.
Wer von der Richtigkeit seiner Wahrnehmung fest überzeugt ist und sich trotz¬
dem als Zeuge schwankend ausdrückt, handelt wider seine Überzeugung und begeht
dadurch eiuen Meineid. Ein Irrtum, der sich bei der Wahrnehmung eingeschlichen
hat, ist strafrechtlich ganz gleichgiltig, wenn keine besondre rechtliche Verpflichtung
zu einer richtigen Wahrnehmung vorlag. In der irrtümlichen Wahrnehmung
liegt auch keineswegs eine strafbare Fahrlässigkeit, der Zeuge begeht vielmehr
nur dann einen fahrlässigen Falscheid, wenn seine Aussage bei gehöriger Prü¬
fung und Überlegung anders ausgefallen wäre, als sie ausgefallen ist, wenn
sie also mit seiner festen Überzeugung nicht übereinstimmt. Es muß sich
in jedem Falle die eidliche Aussage mit der Überzeugung des Schwörenden
vollständig decken; daß sich aber diese Überzeugung mit der Wahrheit decke,
kann nicht verlangt werden. Gewöhnlich ist die Fähigkeit zu einer richtigen
Wahrnehmung Sache des Erkenntnisvermögens und nicht des Willens. Bei
einem gebildeten und reifen Mann ist freilich die Einsicht so entwickelt, daß
er sich je nach Lage des Falls einem mehr oder weniger berechtigten Vorwurf
aussetzt, wenn er eine mit der Wahrheit nicht übereinstimmende Überzeugung
gewinnt. Daß er durch die eidliche Erhärtung dieser Überzeugung eine Mein¬
eidsschuld auf sich lade, wäre eine unbedachte Behauptung. Wie sehr sind
wir aber noch zu solcher Unbedcichtsamkeit geneigt! Die Zahl der Meineids-
prozesfe, die mit Verurteilung enden, obgleich in ihnen nicht einmal die ob¬
jektive Unwahrheit des Schwures, geschweige denn die Verschuldung des An¬
geklagten zu erweise" ist, wird nicht abnehmen, bevor das allgemein anerkannt
und besonders auch von den Berussjuristen der Staatsanwaltschaft, die die


Grenzboten IV 18W 40
Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

bild der Erinnerung wird von einer Erinnerung entlehnt, die mit dem
Bewußtsein der Wahrnehmung selbst zusammenfällt. Wie man mit der Hand
nichts auffassen kann, ohne es zugleich festzuhalten, so kann auch geistig nichts
aufgefaßt werden, das nicht zugleich festgehalten würde, deshalb findet sich
auch jede Trübung in dem Bilde der Wahrnehmung in den Bildern der Er¬
innerung wieder. Es kann also die Frage, ob die Wahrheit auf Seiten der
Aussage der Sozialdemokraten oder auf Seiten des Gendarms und der Mit¬
glieder des christlichen Bergarbeitervereins steht, oder ob vielleicht die Aus¬
sagen beider Parteien die Wahrheit nicht vollständig getroffen haben, ent¬
schieden werden, wie sie will, ohne daß dadurch ein Beweis für die Schuld
der damaligen Angeklagten gewonnen werden kann. Man wende nicht ein,
daß mit jedem falschen Zeugnis ein gewisses Maß von strafrechtlicher Schuld
verbunden sei, weil sich jeder rechtschaffene und besonnene Mensch durch Vor¬
sicht vor dem Meineide schützen und in demütiger Selbsterkenntnis seiner Jrr-
fähigkeit unter dem Eide immer die Möglichkeit des Irrtums offen halten
müsse, namentlich wenn ihm das Bedenkliche der eignen Aussage durch ab¬
weichende Aussagen andrer nahegelegt werde. Ein solcher Einwand beruht
auf einer gedankenschwachen, leider anch unter Juristen verbreiteten Irrlehre.
Wer von der Richtigkeit seiner Wahrnehmung fest überzeugt ist und sich trotz¬
dem als Zeuge schwankend ausdrückt, handelt wider seine Überzeugung und begeht
dadurch eiuen Meineid. Ein Irrtum, der sich bei der Wahrnehmung eingeschlichen
hat, ist strafrechtlich ganz gleichgiltig, wenn keine besondre rechtliche Verpflichtung
zu einer richtigen Wahrnehmung vorlag. In der irrtümlichen Wahrnehmung
liegt auch keineswegs eine strafbare Fahrlässigkeit, der Zeuge begeht vielmehr
nur dann einen fahrlässigen Falscheid, wenn seine Aussage bei gehöriger Prü¬
fung und Überlegung anders ausgefallen wäre, als sie ausgefallen ist, wenn
sie also mit seiner festen Überzeugung nicht übereinstimmt. Es muß sich
in jedem Falle die eidliche Aussage mit der Überzeugung des Schwörenden
vollständig decken; daß sich aber diese Überzeugung mit der Wahrheit decke,
kann nicht verlangt werden. Gewöhnlich ist die Fähigkeit zu einer richtigen
Wahrnehmung Sache des Erkenntnisvermögens und nicht des Willens. Bei
einem gebildeten und reifen Mann ist freilich die Einsicht so entwickelt, daß
er sich je nach Lage des Falls einem mehr oder weniger berechtigten Vorwurf
aussetzt, wenn er eine mit der Wahrheit nicht übereinstimmende Überzeugung
gewinnt. Daß er durch die eidliche Erhärtung dieser Überzeugung eine Mein¬
eidsschuld auf sich lade, wäre eine unbedachte Behauptung. Wie sehr sind
wir aber noch zu solcher Unbedcichtsamkeit geneigt! Die Zahl der Meineids-
prozesfe, die mit Verurteilung enden, obgleich in ihnen nicht einmal die ob¬
jektive Unwahrheit des Schwures, geschweige denn die Verschuldung des An¬
geklagten zu erweise» ist, wird nicht abnehmen, bevor das allgemein anerkannt
und besonders auch von den Berussjuristen der Staatsanwaltschaft, die die


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[0321] Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg bild der Erinnerung wird von einer Erinnerung entlehnt, die mit dem Bewußtsein der Wahrnehmung selbst zusammenfällt. Wie man mit der Hand nichts auffassen kann, ohne es zugleich festzuhalten, so kann auch geistig nichts aufgefaßt werden, das nicht zugleich festgehalten würde, deshalb findet sich auch jede Trübung in dem Bilde der Wahrnehmung in den Bildern der Er¬ innerung wieder. Es kann also die Frage, ob die Wahrheit auf Seiten der Aussage der Sozialdemokraten oder auf Seiten des Gendarms und der Mit¬ glieder des christlichen Bergarbeitervereins steht, oder ob vielleicht die Aus¬ sagen beider Parteien die Wahrheit nicht vollständig getroffen haben, ent¬ schieden werden, wie sie will, ohne daß dadurch ein Beweis für die Schuld der damaligen Angeklagten gewonnen werden kann. Man wende nicht ein, daß mit jedem falschen Zeugnis ein gewisses Maß von strafrechtlicher Schuld verbunden sei, weil sich jeder rechtschaffene und besonnene Mensch durch Vor¬ sicht vor dem Meineide schützen und in demütiger Selbsterkenntnis seiner Jrr- fähigkeit unter dem Eide immer die Möglichkeit des Irrtums offen halten müsse, namentlich wenn ihm das Bedenkliche der eignen Aussage durch ab¬ weichende Aussagen andrer nahegelegt werde. Ein solcher Einwand beruht auf einer gedankenschwachen, leider anch unter Juristen verbreiteten Irrlehre. Wer von der Richtigkeit seiner Wahrnehmung fest überzeugt ist und sich trotz¬ dem als Zeuge schwankend ausdrückt, handelt wider seine Überzeugung und begeht dadurch eiuen Meineid. Ein Irrtum, der sich bei der Wahrnehmung eingeschlichen hat, ist strafrechtlich ganz gleichgiltig, wenn keine besondre rechtliche Verpflichtung zu einer richtigen Wahrnehmung vorlag. In der irrtümlichen Wahrnehmung liegt auch keineswegs eine strafbare Fahrlässigkeit, der Zeuge begeht vielmehr nur dann einen fahrlässigen Falscheid, wenn seine Aussage bei gehöriger Prü¬ fung und Überlegung anders ausgefallen wäre, als sie ausgefallen ist, wenn sie also mit seiner festen Überzeugung nicht übereinstimmt. Es muß sich in jedem Falle die eidliche Aussage mit der Überzeugung des Schwörenden vollständig decken; daß sich aber diese Überzeugung mit der Wahrheit decke, kann nicht verlangt werden. Gewöhnlich ist die Fähigkeit zu einer richtigen Wahrnehmung Sache des Erkenntnisvermögens und nicht des Willens. Bei einem gebildeten und reifen Mann ist freilich die Einsicht so entwickelt, daß er sich je nach Lage des Falls einem mehr oder weniger berechtigten Vorwurf aussetzt, wenn er eine mit der Wahrheit nicht übereinstimmende Überzeugung gewinnt. Daß er durch die eidliche Erhärtung dieser Überzeugung eine Mein¬ eidsschuld auf sich lade, wäre eine unbedachte Behauptung. Wie sehr sind wir aber noch zu solcher Unbedcichtsamkeit geneigt! Die Zahl der Meineids- prozesfe, die mit Verurteilung enden, obgleich in ihnen nicht einmal die ob¬ jektive Unwahrheit des Schwures, geschweige denn die Verschuldung des An¬ geklagten zu erweise» ist, wird nicht abnehmen, bevor das allgemein anerkannt und besonders auch von den Berussjuristen der Staatsanwaltschaft, die die Grenzboten IV 18W 40

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/321>, abgerufen am 08.01.2025.