Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg sondern auch die Pflicht des Entlastungsbeweises zusteht, also auch ihm eine Wie sehr die Schranken unsrer menschlichen Fähigkeit zu bedauern sein Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg sondern auch die Pflicht des Entlastungsbeweises zusteht, also auch ihm eine Wie sehr die Schranken unsrer menschlichen Fähigkeit zu bedauern sein <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0317" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223901"/> <fw type="header" place="top"> Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg</fw><lb/> <p xml:id="ID_970" prev="#ID_969"> sondern auch die Pflicht des Entlastungsbeweises zusteht, also auch ihm eine<lb/> Beweispflicht obliegt, deren Grenze und Inhalt sehr schwer bestimmbar sein<lb/> wird, die aber freilich bisher gesetzlich überhaupt uoch nicht anerkannt ist, und<lb/> die zur Zeit auch kein Ankläger oder Richter offen zu behaupten wagt, während<lb/> sie von dem Verteidiger mit dem Brustton der Überzeugung geleugnet wird.<lb/> Ans diesem unklaren und unwahren Zustande ergeben sich notwendig falsche oder<lb/> nur mit einer gewissen Heuchelei zu begründende Urteile.</p><lb/> <p xml:id="ID_971" next="#ID_972"> Wie sehr die Schranken unsrer menschlichen Fähigkeit zu bedauern sein<lb/> mögen, mit stiller oder lauter Selbsttäuschung kommen wir nicht drüber weg.<lb/> Ohne Überführungen, bei denen wenigstens theoretisch die Möglichkeit des Irr¬<lb/> tums offen bleibt, kann die Strafrechtspflege nicht auskommen. Das müssen<lb/> wir als ein unvermeidliches Übel anerkennen und offen aussprechen. Im<lb/> vorigen Jahre äußerte einmal ein sonst gewandter und tüchtiger Staatsanwalt<lb/> zu den Geschwornen, daß sie, um die Schuldfrage zu bejahen, nicht die volle<lb/> Überzeugung von der Schuld des Angeklagten zu haben brauchten. Vertei¬<lb/> digung und Presse haben gewiß mit Recht diese Äußerung zurückgewiesen, denn<lb/> allerdings muß der Richter, um zu verurteilen, die volle Überzeugung von der<lb/> Schuld haben. Aber was wollte eigentlich der Staatsanwalt mit jener Wen¬<lb/> dung sagen? Er wollte dem Gedanken Ausdruck geben, dem berechtigten Ge¬<lb/> danken, daß der menschliche Richter seine Überzeugung gewinnen kann und muß,<lb/> auch ohne daß jede wenigstens theoretische Möglichkeit eines Irrtums aus-<lb/> geschlossen ist, ohne daß er für die objektive Wahrheit der von ihm und fester<lb/> Überzeugung als erwiesen angenommenen Thatsachen etwa mit einem Eide<lb/> einstehen kann. Wir wollen ein krasses Beispiel geben. Die Brandstiftung<lb/> wird mit Zuchthaus nicht unter zehn Jahren oder mit lebenslänglichem Zucht¬<lb/> haus bestraft, wenn durch den Brand ein Mensch getötet worden ist, der sich<lb/> zur Zeit der That in einer der in Brand gesetzten Räumlichkeiten befand.<lb/> Nun verdient eine Brandstiftung, die ein so großes Unheil anrichtet, daß ein<lb/> Menschenleben zu beklagen ist, gewiß die schwerste Strafe, wenn auch die<lb/> Tötung nicht geplant war. (War sie geplant, so würde ein mit dem Tode<lb/> zu strafender Mord vorliegen, es also keiner besondern Strafandrohung be¬<lb/> dürfen.) Aber aus dem verbrannten Leichnam läßt sich nicht feststellen, daß<lb/> der Brand den Tod verursacht habe; es bleibt die ganz fernliegende theoretische<lb/> Möglichkeit, daß uoch bevor die Flamme die Räumlichkeit ergriffen, in der sich<lb/> der Verblichene befand, dieser eines plötzlichen mit der Brandstiftung nicht im<lb/> Zusammenhange stehenden Todes gestorben sei. Gewiß nur die größte Zweifel-<lb/> sucht, die nicht viel besser als leichtfertige Übereilung in der Gewinnung von<lb/> Überzeugungen ist, könnte so schnöde Thaten ungesühnt lassen wollen. Die<lb/> übertriebne Zweifelsucht kommt gerade dem gefährlichsten Verbrecher, der am<lb/> schwersten zu entlarven ist, am meisten zu gute. Die Verurteilung eines<lb/> Unschuldigen ist gewiß das größte Unglück für die Rechtspflege, wenn sich aber<lb/> der verschmitzte Verbrecher der gegründeten Hoffnung hingeben darf, für nicht</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0317]
Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg
sondern auch die Pflicht des Entlastungsbeweises zusteht, also auch ihm eine
Beweispflicht obliegt, deren Grenze und Inhalt sehr schwer bestimmbar sein
wird, die aber freilich bisher gesetzlich überhaupt uoch nicht anerkannt ist, und
die zur Zeit auch kein Ankläger oder Richter offen zu behaupten wagt, während
sie von dem Verteidiger mit dem Brustton der Überzeugung geleugnet wird.
Ans diesem unklaren und unwahren Zustande ergeben sich notwendig falsche oder
nur mit einer gewissen Heuchelei zu begründende Urteile.
Wie sehr die Schranken unsrer menschlichen Fähigkeit zu bedauern sein
mögen, mit stiller oder lauter Selbsttäuschung kommen wir nicht drüber weg.
Ohne Überführungen, bei denen wenigstens theoretisch die Möglichkeit des Irr¬
tums offen bleibt, kann die Strafrechtspflege nicht auskommen. Das müssen
wir als ein unvermeidliches Übel anerkennen und offen aussprechen. Im
vorigen Jahre äußerte einmal ein sonst gewandter und tüchtiger Staatsanwalt
zu den Geschwornen, daß sie, um die Schuldfrage zu bejahen, nicht die volle
Überzeugung von der Schuld des Angeklagten zu haben brauchten. Vertei¬
digung und Presse haben gewiß mit Recht diese Äußerung zurückgewiesen, denn
allerdings muß der Richter, um zu verurteilen, die volle Überzeugung von der
Schuld haben. Aber was wollte eigentlich der Staatsanwalt mit jener Wen¬
dung sagen? Er wollte dem Gedanken Ausdruck geben, dem berechtigten Ge¬
danken, daß der menschliche Richter seine Überzeugung gewinnen kann und muß,
auch ohne daß jede wenigstens theoretische Möglichkeit eines Irrtums aus-
geschlossen ist, ohne daß er für die objektive Wahrheit der von ihm und fester
Überzeugung als erwiesen angenommenen Thatsachen etwa mit einem Eide
einstehen kann. Wir wollen ein krasses Beispiel geben. Die Brandstiftung
wird mit Zuchthaus nicht unter zehn Jahren oder mit lebenslänglichem Zucht¬
haus bestraft, wenn durch den Brand ein Mensch getötet worden ist, der sich
zur Zeit der That in einer der in Brand gesetzten Räumlichkeiten befand.
Nun verdient eine Brandstiftung, die ein so großes Unheil anrichtet, daß ein
Menschenleben zu beklagen ist, gewiß die schwerste Strafe, wenn auch die
Tötung nicht geplant war. (War sie geplant, so würde ein mit dem Tode
zu strafender Mord vorliegen, es also keiner besondern Strafandrohung be¬
dürfen.) Aber aus dem verbrannten Leichnam läßt sich nicht feststellen, daß
der Brand den Tod verursacht habe; es bleibt die ganz fernliegende theoretische
Möglichkeit, daß uoch bevor die Flamme die Räumlichkeit ergriffen, in der sich
der Verblichene befand, dieser eines plötzlichen mit der Brandstiftung nicht im
Zusammenhange stehenden Todes gestorben sei. Gewiß nur die größte Zweifel-
sucht, die nicht viel besser als leichtfertige Übereilung in der Gewinnung von
Überzeugungen ist, könnte so schnöde Thaten ungesühnt lassen wollen. Die
übertriebne Zweifelsucht kommt gerade dem gefährlichsten Verbrecher, der am
schwersten zu entlarven ist, am meisten zu gute. Die Verurteilung eines
Unschuldigen ist gewiß das größte Unglück für die Rechtspflege, wenn sich aber
der verschmitzte Verbrecher der gegründeten Hoffnung hingeben darf, für nicht
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