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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Willibald Boyschlags Lebenserinnerungen

Theologie" und die vorzüglichen Lebensbilder "Karl Immanuel Nitzsch" und
"Aus dem Leben eines Frühvollendeten, des evangelischen Pfarrers Franz
Beyschlag" entwarf, sondern vielmehr die Lehr- und Wanderjahre Beyschlags,
in denen er zu seiner spätern einflußreichen und umfassenden Thätigkeit reifte
und erstarkte, die in dem Bande "Aus meinem Leben" in gewinnender Ein¬
fachheit und Klarheit geschildert werden. Gerade diese Jahre haben bekanntlich
für den nächsten Zweck jeder Selbstbiographie besondern Wert, sie zeigen die
Wurzeln, aus denen eine selbständige, eigentümliche Persönlichkeit erwächst, sie
lassen erkennen, wo sich diese Wurzeln mit andern berühren und verschränken,
sie machen am deutlichsten, was der einzelne dem Boden, ans dem er stammt,
und der Luft, die ihn umfing, zu danken hatte, ohne daß man darum den
jüngsten Aberglauben an das "Milieu" zu teilen hat, nach dem alles Umgebung
ist und zuletzt von der Kraft, dem Lebenstrieb und dem unberechenbar
Unbewußten des Menschen so gut wie nichts übrig bleibt. In diesem
Sinne ist es nicht zufällig, wenn in den meisten Selbstbiographien die erste
Lebenshälfte einen breitern Raum einnimmt als die zweite, obwohl doch fast
in jedem tüchtigen Leben die Thaten und Wirkungen der zweiten Hälfte die
der erstern überwiegen. Beyschlags Erinnerungen haben das Verdienst, daß sie,
hier im Einklang mit unzähligen voransgegangnen deutschen Lebensläufen, eine
Entwicklung aus der Tiefe kleinbürgerlichen Ursprungs, bescheidner Verhältnisse
zu den Höhen des Lebens darstellen, auch zu den äußern Höhen, obschon ganz
andre ius Auge gefaßt und erstrebt und die äußern nur nebenher mit erreicht
wurden. Auch diese Selbstbiographie bestätigt in entscheidender Weise, daß
nach wie vor, wie Immermann es ausdrückte: "nur im Mittelstande die
Freiheit des Individuums gilt und der Strom der Selbstbestimmung nach
Charakter, Talent, Laune und Willkür fließt." Sie hilft bezeuge", daß die an¬
gebliche tiefe und hoffnungslose Korruption unsrer bürgerlichen Welt, die vor
einem Menschenalter von den ersten Wortführern des radikalen Sozialismus
behauptet wurde, wenigstens damals eine Lüge war und hoffentlich für große
bürgerliche Schichten, zweifellos für tausende von bürgerlichen Familien, auch
heute eine Lüge geblieben ist. Beyschlags Buch erinnert überdies an ganze
Reihen vergessener und dennoch denkwürdiger Persönlichkeiten, an Anfänge,
Entwicklungen, Kämpfe und Siege, von denen ein guter Teil unsrer heutigen
Lage und Bildung ausgeht, es offenbart in bunter Mannichfaltigkeit, welcher
große Lebensernst, welche frohe Entsagung, welche vielseitige Tüchtigkeit und
welche rastlose Arbeit in Lebensverhältnissen zu finden waren (wir setzen
hinzu: zu finden sind), von denen nie ein Laut in die Zeitungsöffentlichkeit
gedrungen ist.

Der evangelische Theolog, dem wir diese wertvollen Erinnerungen ver¬
danken, stammt aus einer süddeutschen, ursprünglich in Schwaben heimischen
Familie, Jahrhunderte hindurch "ehrsame Handwerksmeister," zwischen denen


Grenzboten IV 1396 3"
Willibald Boyschlags Lebenserinnerungen

Theologie" und die vorzüglichen Lebensbilder „Karl Immanuel Nitzsch" und
„Aus dem Leben eines Frühvollendeten, des evangelischen Pfarrers Franz
Beyschlag" entwarf, sondern vielmehr die Lehr- und Wanderjahre Beyschlags,
in denen er zu seiner spätern einflußreichen und umfassenden Thätigkeit reifte
und erstarkte, die in dem Bande „Aus meinem Leben" in gewinnender Ein¬
fachheit und Klarheit geschildert werden. Gerade diese Jahre haben bekanntlich
für den nächsten Zweck jeder Selbstbiographie besondern Wert, sie zeigen die
Wurzeln, aus denen eine selbständige, eigentümliche Persönlichkeit erwächst, sie
lassen erkennen, wo sich diese Wurzeln mit andern berühren und verschränken,
sie machen am deutlichsten, was der einzelne dem Boden, ans dem er stammt,
und der Luft, die ihn umfing, zu danken hatte, ohne daß man darum den
jüngsten Aberglauben an das „Milieu" zu teilen hat, nach dem alles Umgebung
ist und zuletzt von der Kraft, dem Lebenstrieb und dem unberechenbar
Unbewußten des Menschen so gut wie nichts übrig bleibt. In diesem
Sinne ist es nicht zufällig, wenn in den meisten Selbstbiographien die erste
Lebenshälfte einen breitern Raum einnimmt als die zweite, obwohl doch fast
in jedem tüchtigen Leben die Thaten und Wirkungen der zweiten Hälfte die
der erstern überwiegen. Beyschlags Erinnerungen haben das Verdienst, daß sie,
hier im Einklang mit unzähligen voransgegangnen deutschen Lebensläufen, eine
Entwicklung aus der Tiefe kleinbürgerlichen Ursprungs, bescheidner Verhältnisse
zu den Höhen des Lebens darstellen, auch zu den äußern Höhen, obschon ganz
andre ius Auge gefaßt und erstrebt und die äußern nur nebenher mit erreicht
wurden. Auch diese Selbstbiographie bestätigt in entscheidender Weise, daß
nach wie vor, wie Immermann es ausdrückte: „nur im Mittelstande die
Freiheit des Individuums gilt und der Strom der Selbstbestimmung nach
Charakter, Talent, Laune und Willkür fließt." Sie hilft bezeuge«, daß die an¬
gebliche tiefe und hoffnungslose Korruption unsrer bürgerlichen Welt, die vor
einem Menschenalter von den ersten Wortführern des radikalen Sozialismus
behauptet wurde, wenigstens damals eine Lüge war und hoffentlich für große
bürgerliche Schichten, zweifellos für tausende von bürgerlichen Familien, auch
heute eine Lüge geblieben ist. Beyschlags Buch erinnert überdies an ganze
Reihen vergessener und dennoch denkwürdiger Persönlichkeiten, an Anfänge,
Entwicklungen, Kämpfe und Siege, von denen ein guter Teil unsrer heutigen
Lage und Bildung ausgeht, es offenbart in bunter Mannichfaltigkeit, welcher
große Lebensernst, welche frohe Entsagung, welche vielseitige Tüchtigkeit und
welche rastlose Arbeit in Lebensverhältnissen zu finden waren (wir setzen
hinzu: zu finden sind), von denen nie ein Laut in die Zeitungsöffentlichkeit
gedrungen ist.

Der evangelische Theolog, dem wir diese wertvollen Erinnerungen ver¬
danken, stammt aus einer süddeutschen, ursprünglich in Schwaben heimischen
Familie, Jahrhunderte hindurch „ehrsame Handwerksmeister," zwischen denen


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[0289] Willibald Boyschlags Lebenserinnerungen Theologie" und die vorzüglichen Lebensbilder „Karl Immanuel Nitzsch" und „Aus dem Leben eines Frühvollendeten, des evangelischen Pfarrers Franz Beyschlag" entwarf, sondern vielmehr die Lehr- und Wanderjahre Beyschlags, in denen er zu seiner spätern einflußreichen und umfassenden Thätigkeit reifte und erstarkte, die in dem Bande „Aus meinem Leben" in gewinnender Ein¬ fachheit und Klarheit geschildert werden. Gerade diese Jahre haben bekanntlich für den nächsten Zweck jeder Selbstbiographie besondern Wert, sie zeigen die Wurzeln, aus denen eine selbständige, eigentümliche Persönlichkeit erwächst, sie lassen erkennen, wo sich diese Wurzeln mit andern berühren und verschränken, sie machen am deutlichsten, was der einzelne dem Boden, ans dem er stammt, und der Luft, die ihn umfing, zu danken hatte, ohne daß man darum den jüngsten Aberglauben an das „Milieu" zu teilen hat, nach dem alles Umgebung ist und zuletzt von der Kraft, dem Lebenstrieb und dem unberechenbar Unbewußten des Menschen so gut wie nichts übrig bleibt. In diesem Sinne ist es nicht zufällig, wenn in den meisten Selbstbiographien die erste Lebenshälfte einen breitern Raum einnimmt als die zweite, obwohl doch fast in jedem tüchtigen Leben die Thaten und Wirkungen der zweiten Hälfte die der erstern überwiegen. Beyschlags Erinnerungen haben das Verdienst, daß sie, hier im Einklang mit unzähligen voransgegangnen deutschen Lebensläufen, eine Entwicklung aus der Tiefe kleinbürgerlichen Ursprungs, bescheidner Verhältnisse zu den Höhen des Lebens darstellen, auch zu den äußern Höhen, obschon ganz andre ius Auge gefaßt und erstrebt und die äußern nur nebenher mit erreicht wurden. Auch diese Selbstbiographie bestätigt in entscheidender Weise, daß nach wie vor, wie Immermann es ausdrückte: „nur im Mittelstande die Freiheit des Individuums gilt und der Strom der Selbstbestimmung nach Charakter, Talent, Laune und Willkür fließt." Sie hilft bezeuge«, daß die an¬ gebliche tiefe und hoffnungslose Korruption unsrer bürgerlichen Welt, die vor einem Menschenalter von den ersten Wortführern des radikalen Sozialismus behauptet wurde, wenigstens damals eine Lüge war und hoffentlich für große bürgerliche Schichten, zweifellos für tausende von bürgerlichen Familien, auch heute eine Lüge geblieben ist. Beyschlags Buch erinnert überdies an ganze Reihen vergessener und dennoch denkwürdiger Persönlichkeiten, an Anfänge, Entwicklungen, Kämpfe und Siege, von denen ein guter Teil unsrer heutigen Lage und Bildung ausgeht, es offenbart in bunter Mannichfaltigkeit, welcher große Lebensernst, welche frohe Entsagung, welche vielseitige Tüchtigkeit und welche rastlose Arbeit in Lebensverhältnissen zu finden waren (wir setzen hinzu: zu finden sind), von denen nie ein Laut in die Zeitungsöffentlichkeit gedrungen ist. Der evangelische Theolog, dem wir diese wertvollen Erinnerungen ver¬ danken, stammt aus einer süddeutschen, ursprünglich in Schwaben heimischen Familie, Jahrhunderte hindurch „ehrsame Handwerksmeister," zwischen denen Grenzboten IV 1396 3«

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/289>, abgerufen am 08.01.2025.