Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Skizzen aus unserm heutigen Volksleben aber die Frau Generalin erhob ihre Stimme und fuhr fort: Man sollte doch den Jetzt kam endlich der Herr Pastor zu Worte. Das Eude aber war, daß die Von diesem Tage an blieb der Patronatsstuhl leer. Patronat und Pfarre Jedermann weiß, daß die Statistik eine außerordentlich große Menge Mit einem Bleistift und einer dicken Mappe bewaffnet ging er nun von Haus Skizzen aus unserm heutigen Volksleben aber die Frau Generalin erhob ihre Stimme und fuhr fort: Man sollte doch den Jetzt kam endlich der Herr Pastor zu Worte. Das Eude aber war, daß die Von diesem Tage an blieb der Patronatsstuhl leer. Patronat und Pfarre Jedermann weiß, daß die Statistik eine außerordentlich große Menge Mit einem Bleistift und einer dicken Mappe bewaffnet ging er nun von Haus <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0244" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223828"/> <fw type="header" place="top"> Skizzen aus unserm heutigen Volksleben</fw><lb/> <p xml:id="ID_739" prev="#ID_738"> aber die Frau Generalin erhob ihre Stimme und fuhr fort: Man sollte doch den<lb/> Leuten nicht Vorreden, daß sie Wohlthaten fordern dürfte». Sonst hört ja das<lb/> Fordern nicht auf, und wo bleibt die freie christliche Liebesthätigkeit? Arme und<lb/> Reiche müssen untereinander sein. Nicht wahr? Das ist eine Gottesorduuug.<lb/> Die Kirche hat doch die Aufgabe, solche Ordnungen zu stützen und nicht gegen sie<lb/> zu kämpfen. Die Reichen haben die Pflicht der Wohlthätigkeit, und die Armen<lb/> haben die Pflicht der Dankbarkeit und des Gehorsams. Nicht wahr? — Der Herr<lb/> Pastor bemühte sich wieder vergebens, zu Worte zu kommen. — Sie reden immer<lb/> von der sozialen Frage. Eine soziale Frage giebt es in Wcizendorf nicht. Was<lb/> fehlt denn den Leute»? Es giebt nur Gottlosigkeit und Übermut. Daraus ent¬<lb/> stehen die Sozialdemokraten. So etwas darf man doch nicht fördern.</p><lb/> <p xml:id="ID_740"> Jetzt kam endlich der Herr Pastor zu Worte. Das Eude aber war, daß die<lb/> Frau Generalin stolz zur Thür hinausrauschte, und der Herr Pastor mit rotem<lb/> Kopfe unzähligemal im Zimmer auf- und ablief.</p><lb/> <p xml:id="ID_741"> Von diesem Tage an blieb der Patronatsstuhl leer. Patronat und Pfarre<lb/> hatten mit einander gebrochen. Dem Herrn Pastor war es ja nicht lieb, aber er<lb/> fühlte sich zu sehr als Streiter für eine gute Sache, als daß er darauf hätte achten<lb/> dürfen, was rechts und links fiel. Über eins ärgerte er sich aber: über die Be¬<lb/> hauptung, daß es in Grvßweizendorf keine soziale Frage gebe, und daß er nichts<lb/> begründetes darauf zu antworten gewußt hatte. Seine eigne Überzeugung stand ja<lb/> fest, aber zu einem triftigen Beweise ist doch eine statistische „Erhebung" unerlässig,<lb/> und diese war allerdings noch nicht angestellt worden. Deshalb mußte sie schleunigst<lb/> nachgeholt werden.</p><lb/> <p xml:id="ID_742"> Jedermann weiß, daß die Statistik eine außerordentlich große Menge<lb/> Papier fordert. Aber der Herr Pastor wandte sie daran, und dazu manche Stunde<lb/> angestrengter Arbeit, um ein Schema aufzustellen, das ans 35 Haupt-, 69 Untcr-<lb/> uud 28 Unter-Uuter-Fragen bestand. Es war ein Meisterstück von Gründlichkeit<lb/> und Logik; es erstreckte sich nicht nur auf das Salzen der Suppe und den Henkel<lb/> am Rocke, souderu auch auf alle denkbaren geistigen Bedürfnisse, ans das Familien-<lb/> und Eheleben, kurz auf alles, wonach man nur fragen konnte.</p><lb/> <p xml:id="ID_743"> Mit einem Bleistift und einer dicken Mappe bewaffnet ging er nun von Haus<lb/> zu Haus. Aber es zeigte sich bald, daß es leichter ist, zu fragen als zu antworten,<lb/> und daß es uoch viel schwerer ist, aus den Antworten brauchbare Folgerungen zu<lb/> ziehen. Häufig widersprachen sich die Angaben. Man mußte vermuten, daß die<lb/> Gefragten selbst uicht wußten, was sie einnahmen, was sie ausgaben, und wie hoch<lb/> sie beim Kaufmann im Borgbnche standen, und daß sie nur das allgemeine Gefühl<lb/> hatten, es wäre doch eine schöne Sache, mehr ausgeben zu können. Die eiuen<lb/> redeten dem Herrn Pastor nach dem Munde, und die andern hielten hinterm Berge<lb/> oder machten falsche Angaben, weil sie das Mißtrauen hatten, es möchte wohl eine<lb/> neue Steuer hinter der Fragerei lauern. Doch das schadete ja alles nichts, denn<lb/> da sich bekanntlich bei statistischen Angaben die Fehler ausgleichen, so hat man ja<lb/> Fehler nicht zu fürchten. Überdem trat mit großer Bestimmtheit hervor, was von<lb/> vorn herein feststand, daß sich die Arbeiter den Besitzern gegenüber in einer un¬<lb/> günstigen wirtschaftlichen Lage befanden, daß das eine soziale Frage bedeute, und<lb/> daß es die Aufgabe sei, diese Frage zu lösen. Ob diese Lösung durch Organisation<lb/> der ländlichen Arbeiter zu erzwingen, oder ob Staatsgesetze zu erlassen seien, durch<lb/> die der Bodenbesitz in andrer Weise geregelt werden solle, war noch eine offne<lb/> Frage. Jedenfalls fühlte sich der Herr Pastor mit seinem statistischen Material<lb/> mehr denn je zum Reformator berufen.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0244]
Skizzen aus unserm heutigen Volksleben
aber die Frau Generalin erhob ihre Stimme und fuhr fort: Man sollte doch den
Leuten nicht Vorreden, daß sie Wohlthaten fordern dürfte». Sonst hört ja das
Fordern nicht auf, und wo bleibt die freie christliche Liebesthätigkeit? Arme und
Reiche müssen untereinander sein. Nicht wahr? Das ist eine Gottesorduuug.
Die Kirche hat doch die Aufgabe, solche Ordnungen zu stützen und nicht gegen sie
zu kämpfen. Die Reichen haben die Pflicht der Wohlthätigkeit, und die Armen
haben die Pflicht der Dankbarkeit und des Gehorsams. Nicht wahr? — Der Herr
Pastor bemühte sich wieder vergebens, zu Worte zu kommen. — Sie reden immer
von der sozialen Frage. Eine soziale Frage giebt es in Wcizendorf nicht. Was
fehlt denn den Leute»? Es giebt nur Gottlosigkeit und Übermut. Daraus ent¬
stehen die Sozialdemokraten. So etwas darf man doch nicht fördern.
Jetzt kam endlich der Herr Pastor zu Worte. Das Eude aber war, daß die
Frau Generalin stolz zur Thür hinausrauschte, und der Herr Pastor mit rotem
Kopfe unzähligemal im Zimmer auf- und ablief.
Von diesem Tage an blieb der Patronatsstuhl leer. Patronat und Pfarre
hatten mit einander gebrochen. Dem Herrn Pastor war es ja nicht lieb, aber er
fühlte sich zu sehr als Streiter für eine gute Sache, als daß er darauf hätte achten
dürfen, was rechts und links fiel. Über eins ärgerte er sich aber: über die Be¬
hauptung, daß es in Grvßweizendorf keine soziale Frage gebe, und daß er nichts
begründetes darauf zu antworten gewußt hatte. Seine eigne Überzeugung stand ja
fest, aber zu einem triftigen Beweise ist doch eine statistische „Erhebung" unerlässig,
und diese war allerdings noch nicht angestellt worden. Deshalb mußte sie schleunigst
nachgeholt werden.
Jedermann weiß, daß die Statistik eine außerordentlich große Menge
Papier fordert. Aber der Herr Pastor wandte sie daran, und dazu manche Stunde
angestrengter Arbeit, um ein Schema aufzustellen, das ans 35 Haupt-, 69 Untcr-
uud 28 Unter-Uuter-Fragen bestand. Es war ein Meisterstück von Gründlichkeit
und Logik; es erstreckte sich nicht nur auf das Salzen der Suppe und den Henkel
am Rocke, souderu auch auf alle denkbaren geistigen Bedürfnisse, ans das Familien-
und Eheleben, kurz auf alles, wonach man nur fragen konnte.
Mit einem Bleistift und einer dicken Mappe bewaffnet ging er nun von Haus
zu Haus. Aber es zeigte sich bald, daß es leichter ist, zu fragen als zu antworten,
und daß es uoch viel schwerer ist, aus den Antworten brauchbare Folgerungen zu
ziehen. Häufig widersprachen sich die Angaben. Man mußte vermuten, daß die
Gefragten selbst uicht wußten, was sie einnahmen, was sie ausgaben, und wie hoch
sie beim Kaufmann im Borgbnche standen, und daß sie nur das allgemeine Gefühl
hatten, es wäre doch eine schöne Sache, mehr ausgeben zu können. Die eiuen
redeten dem Herrn Pastor nach dem Munde, und die andern hielten hinterm Berge
oder machten falsche Angaben, weil sie das Mißtrauen hatten, es möchte wohl eine
neue Steuer hinter der Fragerei lauern. Doch das schadete ja alles nichts, denn
da sich bekanntlich bei statistischen Angaben die Fehler ausgleichen, so hat man ja
Fehler nicht zu fürchten. Überdem trat mit großer Bestimmtheit hervor, was von
vorn herein feststand, daß sich die Arbeiter den Besitzern gegenüber in einer un¬
günstigen wirtschaftlichen Lage befanden, daß das eine soziale Frage bedeute, und
daß es die Aufgabe sei, diese Frage zu lösen. Ob diese Lösung durch Organisation
der ländlichen Arbeiter zu erzwingen, oder ob Staatsgesetze zu erlassen seien, durch
die der Bodenbesitz in andrer Weise geregelt werden solle, war noch eine offne
Frage. Jedenfalls fühlte sich der Herr Pastor mit seinem statistischen Material
mehr denn je zum Reformator berufen.
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