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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland

Unheil war, die Überspannung des Nationalgefühls, sozusagen der Pan-
russismus unter Alexander III,, der Fremdenhaß, die Deutschenhetze in den
baltischen Provinzen, die Judenhetzen in Südwestrußland. Solche Ablenkungen
sind leider nötig, sonst wendet sich die überschüssige Kraft zur Kritik der
russischen Zustände und Einrichtungen, der russischen Negierung und des
russischen Staats. Und eine solche Kritik kann der russische Staat und die
in ihm herrschende verdorbne Gesellschaft nicht vertragen. Das Beamtentum,
das die Vertretung dieser Gesellschaft bildet, ist ohne sittliche Kraft, ohne
sittlichen Ernst, ohne Pflichtgefühl; es ist, mau kann es nicht in Abrede
stellen, mit geringen Ausnahmen bestechlich, wenn auch die Bestechungen hente
meist eine feinere, verhülltere Form annehmen. Man "opfert" ein paar tausend
Rubel für eine Wvhlthütigkeitsgesellschaft, weil man weiß, daß dieser oder
jener Staatsrat, den man gerade braucht, ihr Sekretär ist; man weiß ja doch,
daß von den geopferten Tausenden etwas in seinen Fingern zurückbleibt. Der
Beamte sieht sich als einen Teil des Staates an. und was dem Staate zu
gute kommen soll, das kann doch auch ihm, dem Teil des Staates, einigen
Nutzen bringen -- das ist so ihre Ansicht. Diese "Tschinowniks" sind über¬
haupt unglaublich naiv in der Austastung ihrer Stellung und ihres Ver¬
hältnisses zum Staat einerseits und zum Publikum andrerseits. Ich habe
zwar auch Beamte kennen lernen, die die größte Achtung verdienten, aber die
Ausnahme" bestätigen eben nur die Regel. So lange das heutige Beamtentum
am Ruder bleibt, ist ein Parlament in Nußland unmöglich; ein Parlament,
also eine Kritik der öffentlichen Dinge, würde beim ersten Stoß den ganzen
morschen Bau des heutigen Systems in den Staub legen. Und doch, je
mehr neue, unverdorbne Elemente emporkommen, um so schwerer wird es,
eine solche Kritik zu verhindern, um so deutlicher wird der Wunsch und das
Bedürfnis nach einem Parlament oder auch nur nach einer Möglichkeit des
Verkehrs zwischen Volk und Herrscher, ohne die Vermittlung der Beamten-
Hierarchie, zum Ausdruck kommen.

An den jetzigen jungen Kaiser knüpfen sich große, vielleicht überschwängliche
Hoffnungen, auch auf die schöne und, wie man sagt, kluge und energische
Kaiserin setzt man sein Vertrauen. Kleine Enttäuschungen, die nach den über¬
triebnen Erwartungen der ersten Regierungszeit uicht ausblieben, führt man
auf den Einfluß der alten Kaiserin zurück, die durchaus nicht gewillt sein soll,
das Heft aus der Hand zu geben. Der junge Kaiser ist ohne Zweifel wohl¬
meinend und von dem besten Willen beseelt. Es wäre ein Wunder, wenn er
nicht liberaler dächte als sein Vater, denn, wie es Treitschke einmal ausführte,
die Natur schafft sich selbst ein Korrektiv, die unerträgliche Härte des despotischen
Systems zu mildern: die Kronprinzenvpposition. Auf den schroff konser¬
vativen Nikolaus I., der nichts als Rüste sein wollte, folgte Alexander II.
mit seinem ungemäßigten Liberalismus und seiner Vorliebe für Europa. Ihn


Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland

Unheil war, die Überspannung des Nationalgefühls, sozusagen der Pan-
russismus unter Alexander III,, der Fremdenhaß, die Deutschenhetze in den
baltischen Provinzen, die Judenhetzen in Südwestrußland. Solche Ablenkungen
sind leider nötig, sonst wendet sich die überschüssige Kraft zur Kritik der
russischen Zustände und Einrichtungen, der russischen Negierung und des
russischen Staats. Und eine solche Kritik kann der russische Staat und die
in ihm herrschende verdorbne Gesellschaft nicht vertragen. Das Beamtentum,
das die Vertretung dieser Gesellschaft bildet, ist ohne sittliche Kraft, ohne
sittlichen Ernst, ohne Pflichtgefühl; es ist, mau kann es nicht in Abrede
stellen, mit geringen Ausnahmen bestechlich, wenn auch die Bestechungen hente
meist eine feinere, verhülltere Form annehmen. Man „opfert" ein paar tausend
Rubel für eine Wvhlthütigkeitsgesellschaft, weil man weiß, daß dieser oder
jener Staatsrat, den man gerade braucht, ihr Sekretär ist; man weiß ja doch,
daß von den geopferten Tausenden etwas in seinen Fingern zurückbleibt. Der
Beamte sieht sich als einen Teil des Staates an. und was dem Staate zu
gute kommen soll, das kann doch auch ihm, dem Teil des Staates, einigen
Nutzen bringen — das ist so ihre Ansicht. Diese „Tschinowniks" sind über¬
haupt unglaublich naiv in der Austastung ihrer Stellung und ihres Ver¬
hältnisses zum Staat einerseits und zum Publikum andrerseits. Ich habe
zwar auch Beamte kennen lernen, die die größte Achtung verdienten, aber die
Ausnahme» bestätigen eben nur die Regel. So lange das heutige Beamtentum
am Ruder bleibt, ist ein Parlament in Nußland unmöglich; ein Parlament,
also eine Kritik der öffentlichen Dinge, würde beim ersten Stoß den ganzen
morschen Bau des heutigen Systems in den Staub legen. Und doch, je
mehr neue, unverdorbne Elemente emporkommen, um so schwerer wird es,
eine solche Kritik zu verhindern, um so deutlicher wird der Wunsch und das
Bedürfnis nach einem Parlament oder auch nur nach einer Möglichkeit des
Verkehrs zwischen Volk und Herrscher, ohne die Vermittlung der Beamten-
Hierarchie, zum Ausdruck kommen.

An den jetzigen jungen Kaiser knüpfen sich große, vielleicht überschwängliche
Hoffnungen, auch auf die schöne und, wie man sagt, kluge und energische
Kaiserin setzt man sein Vertrauen. Kleine Enttäuschungen, die nach den über¬
triebnen Erwartungen der ersten Regierungszeit uicht ausblieben, führt man
auf den Einfluß der alten Kaiserin zurück, die durchaus nicht gewillt sein soll,
das Heft aus der Hand zu geben. Der junge Kaiser ist ohne Zweifel wohl¬
meinend und von dem besten Willen beseelt. Es wäre ein Wunder, wenn er
nicht liberaler dächte als sein Vater, denn, wie es Treitschke einmal ausführte,
die Natur schafft sich selbst ein Korrektiv, die unerträgliche Härte des despotischen
Systems zu mildern: die Kronprinzenvpposition. Auf den schroff konser¬
vativen Nikolaus I., der nichts als Rüste sein wollte, folgte Alexander II.
mit seinem ungemäßigten Liberalismus und seiner Vorliebe für Europa. Ihn


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[0234] Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland Unheil war, die Überspannung des Nationalgefühls, sozusagen der Pan- russismus unter Alexander III,, der Fremdenhaß, die Deutschenhetze in den baltischen Provinzen, die Judenhetzen in Südwestrußland. Solche Ablenkungen sind leider nötig, sonst wendet sich die überschüssige Kraft zur Kritik der russischen Zustände und Einrichtungen, der russischen Negierung und des russischen Staats. Und eine solche Kritik kann der russische Staat und die in ihm herrschende verdorbne Gesellschaft nicht vertragen. Das Beamtentum, das die Vertretung dieser Gesellschaft bildet, ist ohne sittliche Kraft, ohne sittlichen Ernst, ohne Pflichtgefühl; es ist, mau kann es nicht in Abrede stellen, mit geringen Ausnahmen bestechlich, wenn auch die Bestechungen hente meist eine feinere, verhülltere Form annehmen. Man „opfert" ein paar tausend Rubel für eine Wvhlthütigkeitsgesellschaft, weil man weiß, daß dieser oder jener Staatsrat, den man gerade braucht, ihr Sekretär ist; man weiß ja doch, daß von den geopferten Tausenden etwas in seinen Fingern zurückbleibt. Der Beamte sieht sich als einen Teil des Staates an. und was dem Staate zu gute kommen soll, das kann doch auch ihm, dem Teil des Staates, einigen Nutzen bringen — das ist so ihre Ansicht. Diese „Tschinowniks" sind über¬ haupt unglaublich naiv in der Austastung ihrer Stellung und ihres Ver¬ hältnisses zum Staat einerseits und zum Publikum andrerseits. Ich habe zwar auch Beamte kennen lernen, die die größte Achtung verdienten, aber die Ausnahme» bestätigen eben nur die Regel. So lange das heutige Beamtentum am Ruder bleibt, ist ein Parlament in Nußland unmöglich; ein Parlament, also eine Kritik der öffentlichen Dinge, würde beim ersten Stoß den ganzen morschen Bau des heutigen Systems in den Staub legen. Und doch, je mehr neue, unverdorbne Elemente emporkommen, um so schwerer wird es, eine solche Kritik zu verhindern, um so deutlicher wird der Wunsch und das Bedürfnis nach einem Parlament oder auch nur nach einer Möglichkeit des Verkehrs zwischen Volk und Herrscher, ohne die Vermittlung der Beamten- Hierarchie, zum Ausdruck kommen. An den jetzigen jungen Kaiser knüpfen sich große, vielleicht überschwängliche Hoffnungen, auch auf die schöne und, wie man sagt, kluge und energische Kaiserin setzt man sein Vertrauen. Kleine Enttäuschungen, die nach den über¬ triebnen Erwartungen der ersten Regierungszeit uicht ausblieben, führt man auf den Einfluß der alten Kaiserin zurück, die durchaus nicht gewillt sein soll, das Heft aus der Hand zu geben. Der junge Kaiser ist ohne Zweifel wohl¬ meinend und von dem besten Willen beseelt. Es wäre ein Wunder, wenn er nicht liberaler dächte als sein Vater, denn, wie es Treitschke einmal ausführte, die Natur schafft sich selbst ein Korrektiv, die unerträgliche Härte des despotischen Systems zu mildern: die Kronprinzenvpposition. Auf den schroff konser¬ vativen Nikolaus I., der nichts als Rüste sein wollte, folgte Alexander II. mit seinem ungemäßigten Liberalismus und seiner Vorliebe für Europa. Ihn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/234>, abgerufen am 08.01.2025.