Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Die preußischen Richter und Gerichtsassessoren giermig nach dem Caprivischen Rezept für sich behalten hat, und wenn sie diese An eine andre Art uuausgesprochner Gründe der Regierung glauben wir Die Männer dazu sind vorhanden, aber der preußische Richterstand leidet Diese Novelle will die Einführung der Berufung. Sie will aber gleichzeitig die
Stellung der Vorsitzenden gegenüber den Richter" stärken, die Schwurgerichte abschaffen und nicht durch die groszen Schöffengerichte, sondern durch die Strafkammern ersetzen. Sie ver¬ meidet in Text und Motiven aufs peinlichste jede Berührung mit der Idee der großen Schöffengerichte, die sich der Volksüberzeugung mit der unwiderstehlichen Gewalt eines natür¬ lichen Bedürfnisses als das Gericht der Zukunft aufdrängen, und sie macht künstlich die Straf¬ kammern mit ihren vom Staate abhängigen Richtern zu Trägern der Strnfjustiz. Um dieses Gericht schmackhaft zu machen, bietet sie die praktisch völlig wertlose Entschädigung Unschuldiger und verbindet sie mit der langersehnten Berufung. Die preußischen Richter und Gerichtsassessoren giermig nach dem Caprivischen Rezept für sich behalten hat, und wenn sie diese An eine andre Art uuausgesprochner Gründe der Regierung glauben wir Die Männer dazu sind vorhanden, aber der preußische Richterstand leidet Diese Novelle will die Einführung der Berufung. Sie will aber gleichzeitig die
Stellung der Vorsitzenden gegenüber den Richter» stärken, die Schwurgerichte abschaffen und nicht durch die groszen Schöffengerichte, sondern durch die Strafkammern ersetzen. Sie ver¬ meidet in Text und Motiven aufs peinlichste jede Berührung mit der Idee der großen Schöffengerichte, die sich der Volksüberzeugung mit der unwiderstehlichen Gewalt eines natür¬ lichen Bedürfnisses als das Gericht der Zukunft aufdrängen, und sie macht künstlich die Straf¬ kammern mit ihren vom Staate abhängigen Richtern zu Trägern der Strnfjustiz. Um dieses Gericht schmackhaft zu machen, bietet sie die praktisch völlig wertlose Entschädigung Unschuldiger und verbindet sie mit der langersehnten Berufung. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0196" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223780"/> <fw type="header" place="top"> Die preußischen Richter und Gerichtsassessoren</fw><lb/> <p xml:id="ID_575" prev="#ID_574"> giermig nach dem Caprivischen Rezept für sich behalten hat, und wenn sie diese<lb/> Gründe auf dem politischen Gebiete sucht. Wir glauben an solche Gründe<lb/> nicht, aber nahe lag es jedenfalls bei dem eigentümlichen Verhalten der Re¬<lb/> gierung, in der Umsturzvorlage, der gleichzeitigen Strafprvzeßnovelle*) und dem<lb/> jüngsten Nichtergesetz einen Zusammenhang zu sehen, der auf strammere Hand¬<lb/> habung der Volksdisziplin abzielte. Bei solchen Absichten würde man aller¬<lb/> dings einer Nichterauswahl bedürfen, nicht unter halb entwickelten Leuten, die<lb/> die Universität verlassen, sondern unter solchen, die schon eine gewisse Praxis<lb/> hinter sich haben und schon Gelegenheit geboten haben, ihren „zweckentsprechen¬<lb/> den" Takt zu beobachten. Bei ihnen würde sich auch das auffallend lebhafte<lb/> Eintreten der konservativen Partei sür die Gesetzesvorlage mit dem so regen<lb/> Interesse des Herrn von Limburg-Stirnen für das Wohl der Richter leicht<lb/> erklären.</p><lb/> <p xml:id="ID_576"> An eine andre Art uuausgesprochner Gründe der Regierung glauben wir<lb/> aber allerdings — im Hinblick auf das bürgerliche Gesetzbuch. Nie hat ein<lb/> Gesetz soviel neue Grundsätze aufgestellt, nie so viele und so wichtige Fragen<lb/> der Entscheidung nach völlig freiem Ermessen des Richters überlassen, wie es<lb/> dieses größte Gesetzgebungswerk des Jahrhunderts thut. Wenn nicht hohe<lb/> Erwartungen an die Lebenserfahrung, den richtigen Takt und die Umsicht der<lb/> Richter geknüpft werden können, dann gefährdet man das Volk durch eine solche<lb/> Gesetzgebung. Will man den Richterstand für diese Aufgaben geschickt machen,<lb/> dann handelt es sich nicht darum, sein Sinken zu verhüten, sondern ihn ans<lb/> eine nie zuvor erreichte Höhe zu heben.</p><lb/> <p xml:id="ID_577" next="#ID_578"> Die Männer dazu sind vorhanden, aber der preußische Richterstand leidet<lb/> unter der Schablone, in der er nach altprenßischer Überlieferung aufgezogen<lb/> war. Nur wenn er von dieser befreit wird, wird sich der Zug der Zeit,<lb/> der auf immer weitere Beschränkung der Justizrechtsprechung zu Gunsten der<lb/> Verwaltungsrechtsprechuug nicht bloß im öffentlichen, sondern auch im Privat¬<lb/> recht gerichtet ist, ändern. Wie kann man es der Neuzeit bei ihren großartigen<lb/> Verkehrsverhältnissen verdenken, wenn sie nach schnellen, lebenswahren Ent¬<lb/> scheidungen strebt und dem pedantischen Verfahren der Instanzen zu entfliehen<lb/> sucht, der Instanzen mit ihren unendlichen Beweisaufnahmen über kleine und</p><lb/> <note xml:id="FID_33" place="foot"> Diese Novelle will die Einführung der Berufung. Sie will aber gleichzeitig die<lb/> Stellung der Vorsitzenden gegenüber den Richter» stärken, die Schwurgerichte abschaffen und<lb/> nicht durch die groszen Schöffengerichte, sondern durch die Strafkammern ersetzen. Sie ver¬<lb/> meidet in Text und Motiven aufs peinlichste jede Berührung mit der Idee der großen<lb/> Schöffengerichte, die sich der Volksüberzeugung mit der unwiderstehlichen Gewalt eines natür¬<lb/> lichen Bedürfnisses als das Gericht der Zukunft aufdrängen, und sie macht künstlich die Straf¬<lb/> kammern mit ihren vom Staate abhängigen Richtern zu Trägern der Strnfjustiz. Um dieses<lb/> Gericht schmackhaft zu machen, bietet sie die praktisch völlig wertlose Entschädigung Unschuldiger<lb/> und verbindet sie mit der langersehnten Berufung.</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0196]
Die preußischen Richter und Gerichtsassessoren
giermig nach dem Caprivischen Rezept für sich behalten hat, und wenn sie diese
Gründe auf dem politischen Gebiete sucht. Wir glauben an solche Gründe
nicht, aber nahe lag es jedenfalls bei dem eigentümlichen Verhalten der Re¬
gierung, in der Umsturzvorlage, der gleichzeitigen Strafprvzeßnovelle*) und dem
jüngsten Nichtergesetz einen Zusammenhang zu sehen, der auf strammere Hand¬
habung der Volksdisziplin abzielte. Bei solchen Absichten würde man aller¬
dings einer Nichterauswahl bedürfen, nicht unter halb entwickelten Leuten, die
die Universität verlassen, sondern unter solchen, die schon eine gewisse Praxis
hinter sich haben und schon Gelegenheit geboten haben, ihren „zweckentsprechen¬
den" Takt zu beobachten. Bei ihnen würde sich auch das auffallend lebhafte
Eintreten der konservativen Partei sür die Gesetzesvorlage mit dem so regen
Interesse des Herrn von Limburg-Stirnen für das Wohl der Richter leicht
erklären.
An eine andre Art uuausgesprochner Gründe der Regierung glauben wir
aber allerdings — im Hinblick auf das bürgerliche Gesetzbuch. Nie hat ein
Gesetz soviel neue Grundsätze aufgestellt, nie so viele und so wichtige Fragen
der Entscheidung nach völlig freiem Ermessen des Richters überlassen, wie es
dieses größte Gesetzgebungswerk des Jahrhunderts thut. Wenn nicht hohe
Erwartungen an die Lebenserfahrung, den richtigen Takt und die Umsicht der
Richter geknüpft werden können, dann gefährdet man das Volk durch eine solche
Gesetzgebung. Will man den Richterstand für diese Aufgaben geschickt machen,
dann handelt es sich nicht darum, sein Sinken zu verhüten, sondern ihn ans
eine nie zuvor erreichte Höhe zu heben.
Die Männer dazu sind vorhanden, aber der preußische Richterstand leidet
unter der Schablone, in der er nach altprenßischer Überlieferung aufgezogen
war. Nur wenn er von dieser befreit wird, wird sich der Zug der Zeit,
der auf immer weitere Beschränkung der Justizrechtsprechung zu Gunsten der
Verwaltungsrechtsprechuug nicht bloß im öffentlichen, sondern auch im Privat¬
recht gerichtet ist, ändern. Wie kann man es der Neuzeit bei ihren großartigen
Verkehrsverhältnissen verdenken, wenn sie nach schnellen, lebenswahren Ent¬
scheidungen strebt und dem pedantischen Verfahren der Instanzen zu entfliehen
sucht, der Instanzen mit ihren unendlichen Beweisaufnahmen über kleine und
Diese Novelle will die Einführung der Berufung. Sie will aber gleichzeitig die
Stellung der Vorsitzenden gegenüber den Richter» stärken, die Schwurgerichte abschaffen und
nicht durch die groszen Schöffengerichte, sondern durch die Strafkammern ersetzen. Sie ver¬
meidet in Text und Motiven aufs peinlichste jede Berührung mit der Idee der großen
Schöffengerichte, die sich der Volksüberzeugung mit der unwiderstehlichen Gewalt eines natür¬
lichen Bedürfnisses als das Gericht der Zukunft aufdrängen, und sie macht künstlich die Straf¬
kammern mit ihren vom Staate abhängigen Richtern zu Trägern der Strnfjustiz. Um dieses
Gericht schmackhaft zu machen, bietet sie die praktisch völlig wertlose Entschädigung Unschuldiger
und verbindet sie mit der langersehnten Berufung.
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