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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Die preußischen Richter und Gerichtsassessoren

daß die Justiz überall hintangesetzt wird, daß auf Form und Höflichkeit dort
wenig gegeben wird, daß der Herabsetzung des Richterstandes nicht ernst¬
licher widersprochen wird,*) daß sich Mangel an Form in den gerichtlichen
Geschäftsverkehr selbst einbürgert, und daß der Verkehr der angeblich so
unabhängigen Richter mit den unmittelbaren Vorgesetzten häufig nicht leicht
und freundlich, sondern lästig und unbequem ist. Wer irgend etwas auf
Lebensstellung und rücksichtsvolle Behandlung giebt, der flieht schon aus
diesen Gründen die Justiz, und ehe hier nicht gründlich Wandel geschafft
wird, wird der Justizminister vergeblich nach Mitteln suchen, sich die "erste
Auswahl" zu sichern.

Natürlich wird gegen diese Ausführungen die alles aufwiegende viel ge¬
priesene Unabhängigkeit der Richter ins Feld geführt werden. Aber das verrät
nur völlige Unkenntnis der Verhältnisse. Früher, als in der Verwaltung
die Willkür noch mehr Spielraum hatte, kounte man mit einem Schein von
Grund auf die Unabhängigkeit der Richter hinweisen, aber auch schon damals
nur mit einem Schein. Denn man beachtete nicht, daß sie lediglich von
der Abstimmung in den zur Entscheidung stehenden Sachen gilt, daß zu ihrer
Wahrung oft ein starkes "Rückgrat" gehört, dessen Bethätigung nicht selten
mit Ärger und Verdruß verbunden ist, daß sie aber nicht von der Behandlung
der Sache und ganz und gar nicht von den Verhältnissen gilt, von denen
das persönliche Wohl und Wehe des Richters abhängt. In Bezug auf Ge¬
schäftsverteilung, Beförderung^, Versetzungs-, Urlaubswünnsche usw. ist der
Richter gerade so abhängig von einzelnen Persönlichkeiten wie der Verwaltungs¬
beamte. Und nicht viel anders steht es mit seiner Unversetzbarkeit. Die letztere
bezieht sich z. B. nicht auf Fälle der Justizreorganisation, wie sie die in
Aussicht stehende Strafprozeßnovelle mit sich bringt, und wie sie in jedem
Falle vorliegt, wenn eine Richterstelle eingezogen und auf ein andres Gericht
übertragen wird. Die Unabsetzbarkeit aber findet ihre Grenzen in den
überall gleichen Regeln der Disziplin und dient allerdings den ältesten, "über¬
ständiger" Richter zum Vorteil, aber dem Staate und besonders den jüngern
Kräften zum Nachteil, und zwar gerade auf Stufen, wo ihnen eine Wahl
zwischen Justiz und Verwaltung noch möglich ist.

Alle diese Erwägungen liegen so nahe, daß sie der Regierung unmöglich
entgangen sein können- Wenn sie dennoch an der Auswahl nach bestandner
Richterprüfung und an der Verbindung des Assessorparagraphen mit der
Finanzvorlage festhielt, so kann sie es der Volksvertretung nicht verdenken,
wenn diese an das Vorhandensein gewisset letzter Gründe glaubt, die die Re-



Der Herr Justizminister Hai zwar kürzlich behauptet, "das; es in der preußischen Justiz
kein Strebertum gebe." Die Übertreibung dieses Lobes nimmt ihm aber wieder den Charakter
eines ernsthaft gemeinten Schutzes.
Die preußischen Richter und Gerichtsassessoren

daß die Justiz überall hintangesetzt wird, daß auf Form und Höflichkeit dort
wenig gegeben wird, daß der Herabsetzung des Richterstandes nicht ernst¬
licher widersprochen wird,*) daß sich Mangel an Form in den gerichtlichen
Geschäftsverkehr selbst einbürgert, und daß der Verkehr der angeblich so
unabhängigen Richter mit den unmittelbaren Vorgesetzten häufig nicht leicht
und freundlich, sondern lästig und unbequem ist. Wer irgend etwas auf
Lebensstellung und rücksichtsvolle Behandlung giebt, der flieht schon aus
diesen Gründen die Justiz, und ehe hier nicht gründlich Wandel geschafft
wird, wird der Justizminister vergeblich nach Mitteln suchen, sich die „erste
Auswahl" zu sichern.

Natürlich wird gegen diese Ausführungen die alles aufwiegende viel ge¬
priesene Unabhängigkeit der Richter ins Feld geführt werden. Aber das verrät
nur völlige Unkenntnis der Verhältnisse. Früher, als in der Verwaltung
die Willkür noch mehr Spielraum hatte, kounte man mit einem Schein von
Grund auf die Unabhängigkeit der Richter hinweisen, aber auch schon damals
nur mit einem Schein. Denn man beachtete nicht, daß sie lediglich von
der Abstimmung in den zur Entscheidung stehenden Sachen gilt, daß zu ihrer
Wahrung oft ein starkes „Rückgrat" gehört, dessen Bethätigung nicht selten
mit Ärger und Verdruß verbunden ist, daß sie aber nicht von der Behandlung
der Sache und ganz und gar nicht von den Verhältnissen gilt, von denen
das persönliche Wohl und Wehe des Richters abhängt. In Bezug auf Ge¬
schäftsverteilung, Beförderung^, Versetzungs-, Urlaubswünnsche usw. ist der
Richter gerade so abhängig von einzelnen Persönlichkeiten wie der Verwaltungs¬
beamte. Und nicht viel anders steht es mit seiner Unversetzbarkeit. Die letztere
bezieht sich z. B. nicht auf Fälle der Justizreorganisation, wie sie die in
Aussicht stehende Strafprozeßnovelle mit sich bringt, und wie sie in jedem
Falle vorliegt, wenn eine Richterstelle eingezogen und auf ein andres Gericht
übertragen wird. Die Unabsetzbarkeit aber findet ihre Grenzen in den
überall gleichen Regeln der Disziplin und dient allerdings den ältesten, „über¬
ständiger" Richter zum Vorteil, aber dem Staate und besonders den jüngern
Kräften zum Nachteil, und zwar gerade auf Stufen, wo ihnen eine Wahl
zwischen Justiz und Verwaltung noch möglich ist.

Alle diese Erwägungen liegen so nahe, daß sie der Regierung unmöglich
entgangen sein können- Wenn sie dennoch an der Auswahl nach bestandner
Richterprüfung und an der Verbindung des Assessorparagraphen mit der
Finanzvorlage festhielt, so kann sie es der Volksvertretung nicht verdenken,
wenn diese an das Vorhandensein gewisset letzter Gründe glaubt, die die Re-



Der Herr Justizminister Hai zwar kürzlich behauptet, „das; es in der preußischen Justiz
kein Strebertum gebe." Die Übertreibung dieses Lobes nimmt ihm aber wieder den Charakter
eines ernsthaft gemeinten Schutzes.
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[0195] Die preußischen Richter und Gerichtsassessoren daß die Justiz überall hintangesetzt wird, daß auf Form und Höflichkeit dort wenig gegeben wird, daß der Herabsetzung des Richterstandes nicht ernst¬ licher widersprochen wird,*) daß sich Mangel an Form in den gerichtlichen Geschäftsverkehr selbst einbürgert, und daß der Verkehr der angeblich so unabhängigen Richter mit den unmittelbaren Vorgesetzten häufig nicht leicht und freundlich, sondern lästig und unbequem ist. Wer irgend etwas auf Lebensstellung und rücksichtsvolle Behandlung giebt, der flieht schon aus diesen Gründen die Justiz, und ehe hier nicht gründlich Wandel geschafft wird, wird der Justizminister vergeblich nach Mitteln suchen, sich die „erste Auswahl" zu sichern. Natürlich wird gegen diese Ausführungen die alles aufwiegende viel ge¬ priesene Unabhängigkeit der Richter ins Feld geführt werden. Aber das verrät nur völlige Unkenntnis der Verhältnisse. Früher, als in der Verwaltung die Willkür noch mehr Spielraum hatte, kounte man mit einem Schein von Grund auf die Unabhängigkeit der Richter hinweisen, aber auch schon damals nur mit einem Schein. Denn man beachtete nicht, daß sie lediglich von der Abstimmung in den zur Entscheidung stehenden Sachen gilt, daß zu ihrer Wahrung oft ein starkes „Rückgrat" gehört, dessen Bethätigung nicht selten mit Ärger und Verdruß verbunden ist, daß sie aber nicht von der Behandlung der Sache und ganz und gar nicht von den Verhältnissen gilt, von denen das persönliche Wohl und Wehe des Richters abhängt. In Bezug auf Ge¬ schäftsverteilung, Beförderung^, Versetzungs-, Urlaubswünnsche usw. ist der Richter gerade so abhängig von einzelnen Persönlichkeiten wie der Verwaltungs¬ beamte. Und nicht viel anders steht es mit seiner Unversetzbarkeit. Die letztere bezieht sich z. B. nicht auf Fälle der Justizreorganisation, wie sie die in Aussicht stehende Strafprozeßnovelle mit sich bringt, und wie sie in jedem Falle vorliegt, wenn eine Richterstelle eingezogen und auf ein andres Gericht übertragen wird. Die Unabsetzbarkeit aber findet ihre Grenzen in den überall gleichen Regeln der Disziplin und dient allerdings den ältesten, „über¬ ständiger" Richter zum Vorteil, aber dem Staate und besonders den jüngern Kräften zum Nachteil, und zwar gerade auf Stufen, wo ihnen eine Wahl zwischen Justiz und Verwaltung noch möglich ist. Alle diese Erwägungen liegen so nahe, daß sie der Regierung unmöglich entgangen sein können- Wenn sie dennoch an der Auswahl nach bestandner Richterprüfung und an der Verbindung des Assessorparagraphen mit der Finanzvorlage festhielt, so kann sie es der Volksvertretung nicht verdenken, wenn diese an das Vorhandensein gewisset letzter Gründe glaubt, die die Re- Der Herr Justizminister Hai zwar kürzlich behauptet, „das; es in der preußischen Justiz kein Strebertum gebe." Die Übertreibung dieses Lobes nimmt ihm aber wieder den Charakter eines ernsthaft gemeinten Schutzes.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/195>, abgerufen am 08.01.2025.