Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die preußischen Richter und Gerichtsassessoren

Abgeordnete Hobrecht die Lage mit den Worten: "Gerade die Form hat uns
aufs äußerste mißfallen. Die Sache ist ganz verfehlt und unmöglich, und in
der Verbindung ist sie uns unannehmbar."

Schließlich hat die offenbare Unerreichbarreit des amtlich verkündeten
Gesetzeszweckes bewußt oder unbewußt die Entschließung der Landboten be¬
einflußt, und die Regierung und ihre Parteien haben in dem Streben, alle diese
Fehler im Laufe der Debatte zu beseitigen, nur neue Fehler hinzugefügt.

Unangenehm berührten besonders die Äußerungen eines Abgeordneten,
der ohne nähere Begründung die Behauptung aufstellte, "daß der Richterstand
im Sinken begriffen sei, sowohl i.n Auftreten, wie in den Leistungen. Die
Kritik wage sich immer dreister an die richterlichen Erkenntnisse, weil der
Richter nicht mehr für eine unparteiische Autorität gelte." Seit wann und
im Verhältnis zu welcher frühern Zeit dieses Sinken stattgefunden haben soll,
hat er nicht gesagt. Findet er vielleicht die Höhe, von der der Richterstand
herabgesunken ist, in der Zeit der Patrimonialgerichte, wo man die Richter
aus der Zahl der Referendare nahm, wo unter den Mitgliedern des Kollegial¬
gerichts eines dem Subalterndienste angehören durfte? Oder findet er die
Höhe in der Zeit von 1849 bis 1869, wo jene alten Verhältnisse abstarben
und drei Prüfungen zur Erlangung der Nichterbefähigung nötig waren? Oder
findet er sie in der Zeit bis 1879, wo die neueste Reorganisation eintrat?
Rechnet er von da an den Verfall? Seine Rechnung würde überall ver¬
fehlt sein.

Daß die Leistungen in Zivilsachen, dem eigentlichen Sitze der Jurisprudenz,
nicht schlechter geworden sind, ergiebt sich einfach daraus, daß bis zum
Jahre 1879 den Einzelrichtern nur Streitsachen bis zum Werte von 150 Mark
anvertraut waren, und daß bis zum Jahre 1872 (oder 1876) alle nicht
streitigen Sachen kollegialisch behandelt wurden, dagegen seit dieser Zeit die
ganze nicht streitige Gerichtsbarkeit in den Händen von Einzelrichtern liegt und
ihre Zuständigkeit in Streitsachen auf 300 Mark erhöht ist. Wären ihre
Leistungen schlechter geworden, so würde mau ihre Zuständigkeit jetzt wieder be¬
schränken; der Justizminister hat aber ausgesprochen, daß man beabsichtige, sie
abermals zu erweitern. Während die Kvllegialkreisgerichte früher nur in erster
Instanz urteilten, hat man seit 1879 den an ihre Stelle getretenen Land¬
gerichten die Entscheidung zweiter Instanz über die Sachen der Einzelrichter
übertragen, und das wird so bleiben, auch wenn die Zuständigkeit der Einzel¬
richter erweitert wird. Ebenso steht es mit den Strafsachen. Bis 1879 ur¬
teilte der Eiuzelrichter nnr über Übertretungen, seit der Zeit aber -- freilich
unter Zuziehung von zwei Schöffen -- über eine große Zahl von Vergehen,
und auch sie soll uach dem jetzt vorgelegten Entwurf der Strafprozeß-
uovelle wieder bedeutend erweitert werden. So bleibt nur noch die Justiz
der Strafkammern. Wenn das Vertrauen zu den Leistungen der Einzelrichter


Die preußischen Richter und Gerichtsassessoren

Abgeordnete Hobrecht die Lage mit den Worten: „Gerade die Form hat uns
aufs äußerste mißfallen. Die Sache ist ganz verfehlt und unmöglich, und in
der Verbindung ist sie uns unannehmbar."

Schließlich hat die offenbare Unerreichbarreit des amtlich verkündeten
Gesetzeszweckes bewußt oder unbewußt die Entschließung der Landboten be¬
einflußt, und die Regierung und ihre Parteien haben in dem Streben, alle diese
Fehler im Laufe der Debatte zu beseitigen, nur neue Fehler hinzugefügt.

Unangenehm berührten besonders die Äußerungen eines Abgeordneten,
der ohne nähere Begründung die Behauptung aufstellte, „daß der Richterstand
im Sinken begriffen sei, sowohl i.n Auftreten, wie in den Leistungen. Die
Kritik wage sich immer dreister an die richterlichen Erkenntnisse, weil der
Richter nicht mehr für eine unparteiische Autorität gelte." Seit wann und
im Verhältnis zu welcher frühern Zeit dieses Sinken stattgefunden haben soll,
hat er nicht gesagt. Findet er vielleicht die Höhe, von der der Richterstand
herabgesunken ist, in der Zeit der Patrimonialgerichte, wo man die Richter
aus der Zahl der Referendare nahm, wo unter den Mitgliedern des Kollegial¬
gerichts eines dem Subalterndienste angehören durfte? Oder findet er die
Höhe in der Zeit von 1849 bis 1869, wo jene alten Verhältnisse abstarben
und drei Prüfungen zur Erlangung der Nichterbefähigung nötig waren? Oder
findet er sie in der Zeit bis 1879, wo die neueste Reorganisation eintrat?
Rechnet er von da an den Verfall? Seine Rechnung würde überall ver¬
fehlt sein.

Daß die Leistungen in Zivilsachen, dem eigentlichen Sitze der Jurisprudenz,
nicht schlechter geworden sind, ergiebt sich einfach daraus, daß bis zum
Jahre 1879 den Einzelrichtern nur Streitsachen bis zum Werte von 150 Mark
anvertraut waren, und daß bis zum Jahre 1872 (oder 1876) alle nicht
streitigen Sachen kollegialisch behandelt wurden, dagegen seit dieser Zeit die
ganze nicht streitige Gerichtsbarkeit in den Händen von Einzelrichtern liegt und
ihre Zuständigkeit in Streitsachen auf 300 Mark erhöht ist. Wären ihre
Leistungen schlechter geworden, so würde mau ihre Zuständigkeit jetzt wieder be¬
schränken; der Justizminister hat aber ausgesprochen, daß man beabsichtige, sie
abermals zu erweitern. Während die Kvllegialkreisgerichte früher nur in erster
Instanz urteilten, hat man seit 1879 den an ihre Stelle getretenen Land¬
gerichten die Entscheidung zweiter Instanz über die Sachen der Einzelrichter
übertragen, und das wird so bleiben, auch wenn die Zuständigkeit der Einzel¬
richter erweitert wird. Ebenso steht es mit den Strafsachen. Bis 1879 ur¬
teilte der Eiuzelrichter nnr über Übertretungen, seit der Zeit aber — freilich
unter Zuziehung von zwei Schöffen — über eine große Zahl von Vergehen,
und auch sie soll uach dem jetzt vorgelegten Entwurf der Strafprozeß-
uovelle wieder bedeutend erweitert werden. So bleibt nur noch die Justiz
der Strafkammern. Wenn das Vertrauen zu den Leistungen der Einzelrichter


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0184" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223768"/>
          <fw type="header" place="top"> Die preußischen Richter und Gerichtsassessoren</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_530" prev="#ID_529"> Abgeordnete Hobrecht die Lage mit den Worten: &#x201E;Gerade die Form hat uns<lb/>
aufs äußerste mißfallen. Die Sache ist ganz verfehlt und unmöglich, und in<lb/>
der Verbindung ist sie uns unannehmbar."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_531"> Schließlich hat die offenbare Unerreichbarreit des amtlich verkündeten<lb/>
Gesetzeszweckes bewußt oder unbewußt die Entschließung der Landboten be¬<lb/>
einflußt, und die Regierung und ihre Parteien haben in dem Streben, alle diese<lb/>
Fehler im Laufe der Debatte zu beseitigen, nur neue Fehler hinzugefügt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_532"> Unangenehm berührten besonders die Äußerungen eines Abgeordneten,<lb/>
der ohne nähere Begründung die Behauptung aufstellte, &#x201E;daß der Richterstand<lb/>
im Sinken begriffen sei, sowohl i.n Auftreten, wie in den Leistungen. Die<lb/>
Kritik wage sich immer dreister an die richterlichen Erkenntnisse, weil der<lb/>
Richter nicht mehr für eine unparteiische Autorität gelte." Seit wann und<lb/>
im Verhältnis zu welcher frühern Zeit dieses Sinken stattgefunden haben soll,<lb/>
hat er nicht gesagt. Findet er vielleicht die Höhe, von der der Richterstand<lb/>
herabgesunken ist, in der Zeit der Patrimonialgerichte, wo man die Richter<lb/>
aus der Zahl der Referendare nahm, wo unter den Mitgliedern des Kollegial¬<lb/>
gerichts eines dem Subalterndienste angehören durfte? Oder findet er die<lb/>
Höhe in der Zeit von 1849 bis 1869, wo jene alten Verhältnisse abstarben<lb/>
und drei Prüfungen zur Erlangung der Nichterbefähigung nötig waren? Oder<lb/>
findet er sie in der Zeit bis 1879, wo die neueste Reorganisation eintrat?<lb/>
Rechnet er von da an den Verfall? Seine Rechnung würde überall ver¬<lb/>
fehlt sein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_533" next="#ID_534"> Daß die Leistungen in Zivilsachen, dem eigentlichen Sitze der Jurisprudenz,<lb/>
nicht schlechter geworden sind, ergiebt sich einfach daraus, daß bis zum<lb/>
Jahre 1879 den Einzelrichtern nur Streitsachen bis zum Werte von 150 Mark<lb/>
anvertraut waren, und daß bis zum Jahre 1872 (oder 1876) alle nicht<lb/>
streitigen Sachen kollegialisch behandelt wurden, dagegen seit dieser Zeit die<lb/>
ganze nicht streitige Gerichtsbarkeit in den Händen von Einzelrichtern liegt und<lb/>
ihre Zuständigkeit in Streitsachen auf 300 Mark erhöht ist. Wären ihre<lb/>
Leistungen schlechter geworden, so würde mau ihre Zuständigkeit jetzt wieder be¬<lb/>
schränken; der Justizminister hat aber ausgesprochen, daß man beabsichtige, sie<lb/>
abermals zu erweitern. Während die Kvllegialkreisgerichte früher nur in erster<lb/>
Instanz urteilten, hat man seit 1879 den an ihre Stelle getretenen Land¬<lb/>
gerichten die Entscheidung zweiter Instanz über die Sachen der Einzelrichter<lb/>
übertragen, und das wird so bleiben, auch wenn die Zuständigkeit der Einzel¬<lb/>
richter erweitert wird. Ebenso steht es mit den Strafsachen. Bis 1879 ur¬<lb/>
teilte der Eiuzelrichter nnr über Übertretungen, seit der Zeit aber &#x2014; freilich<lb/>
unter Zuziehung von zwei Schöffen &#x2014; über eine große Zahl von Vergehen,<lb/>
und auch sie soll uach dem jetzt vorgelegten Entwurf der Strafprozeß-<lb/>
uovelle wieder bedeutend erweitert werden. So bleibt nur noch die Justiz<lb/>
der Strafkammern. Wenn das Vertrauen zu den Leistungen der Einzelrichter</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0184] Die preußischen Richter und Gerichtsassessoren Abgeordnete Hobrecht die Lage mit den Worten: „Gerade die Form hat uns aufs äußerste mißfallen. Die Sache ist ganz verfehlt und unmöglich, und in der Verbindung ist sie uns unannehmbar." Schließlich hat die offenbare Unerreichbarreit des amtlich verkündeten Gesetzeszweckes bewußt oder unbewußt die Entschließung der Landboten be¬ einflußt, und die Regierung und ihre Parteien haben in dem Streben, alle diese Fehler im Laufe der Debatte zu beseitigen, nur neue Fehler hinzugefügt. Unangenehm berührten besonders die Äußerungen eines Abgeordneten, der ohne nähere Begründung die Behauptung aufstellte, „daß der Richterstand im Sinken begriffen sei, sowohl i.n Auftreten, wie in den Leistungen. Die Kritik wage sich immer dreister an die richterlichen Erkenntnisse, weil der Richter nicht mehr für eine unparteiische Autorität gelte." Seit wann und im Verhältnis zu welcher frühern Zeit dieses Sinken stattgefunden haben soll, hat er nicht gesagt. Findet er vielleicht die Höhe, von der der Richterstand herabgesunken ist, in der Zeit der Patrimonialgerichte, wo man die Richter aus der Zahl der Referendare nahm, wo unter den Mitgliedern des Kollegial¬ gerichts eines dem Subalterndienste angehören durfte? Oder findet er die Höhe in der Zeit von 1849 bis 1869, wo jene alten Verhältnisse abstarben und drei Prüfungen zur Erlangung der Nichterbefähigung nötig waren? Oder findet er sie in der Zeit bis 1879, wo die neueste Reorganisation eintrat? Rechnet er von da an den Verfall? Seine Rechnung würde überall ver¬ fehlt sein. Daß die Leistungen in Zivilsachen, dem eigentlichen Sitze der Jurisprudenz, nicht schlechter geworden sind, ergiebt sich einfach daraus, daß bis zum Jahre 1879 den Einzelrichtern nur Streitsachen bis zum Werte von 150 Mark anvertraut waren, und daß bis zum Jahre 1872 (oder 1876) alle nicht streitigen Sachen kollegialisch behandelt wurden, dagegen seit dieser Zeit die ganze nicht streitige Gerichtsbarkeit in den Händen von Einzelrichtern liegt und ihre Zuständigkeit in Streitsachen auf 300 Mark erhöht ist. Wären ihre Leistungen schlechter geworden, so würde mau ihre Zuständigkeit jetzt wieder be¬ schränken; der Justizminister hat aber ausgesprochen, daß man beabsichtige, sie abermals zu erweitern. Während die Kvllegialkreisgerichte früher nur in erster Instanz urteilten, hat man seit 1879 den an ihre Stelle getretenen Land¬ gerichten die Entscheidung zweiter Instanz über die Sachen der Einzelrichter übertragen, und das wird so bleiben, auch wenn die Zuständigkeit der Einzel¬ richter erweitert wird. Ebenso steht es mit den Strafsachen. Bis 1879 ur¬ teilte der Eiuzelrichter nnr über Übertretungen, seit der Zeit aber — freilich unter Zuziehung von zwei Schöffen — über eine große Zahl von Vergehen, und auch sie soll uach dem jetzt vorgelegten Entwurf der Strafprozeß- uovelle wieder bedeutend erweitert werden. So bleibt nur noch die Justiz der Strafkammern. Wenn das Vertrauen zu den Leistungen der Einzelrichter

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/184
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/184>, abgerufen am 08.01.2025.