Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Die englischen Gewerkvereine Wird einer zum Bezirksdelegirten oder zum Verbandssekretär ernannt, so muß Die englischen Gewerkvereine Wird einer zum Bezirksdelegirten oder zum Verbandssekretär ernannt, so muß <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0176" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223760"/> <fw type="header" place="top"> Die englischen Gewerkvereine</fw><lb/> <p xml:id="ID_511" prev="#ID_510" next="#ID_512"> Wird einer zum Bezirksdelegirten oder zum Verbandssekretär ernannt, so muß<lb/> er seinen bisherigen Broterwerb aufgeben und bekommt einen bescheidnen Gehalt,<lb/> der Bezirksdelegirte vierzig bis fünfzig Mark die Woche, der Generalsekretär<lb/> viertausend bis sechstausend Mark jährlich. Schon die Kassenverwaltung er¬<lb/> fordert sehr viel Arbeit; hatten doch die „amalgamirten" Maschinenbauer schon<lb/> im Jahre 1861 beinahe anderthalb Millionen Mark Vereinsvermögen. Den<lb/> Mitgliedern dieser neuen Vereinsbüreaukratie drohen, wie die Webbs darlegen,<lb/> drei Gefahren. Einige verknöchern in einseitiger Kassen- und Büreciuarbeit<lb/> und verlieren die großen Ziele der Arbeiterbewegung aus den Augen. Manche<lb/> Delegirte und Generalsekretäre ergeben sich dem Trunk, weil sie genötigt sind,<lb/> beständig im Lande herumzureisen und in Wirtshäusern zu verkehren. Doch<lb/> kommt der Fall nicht hüusig vor, da die Arbeiter solche Genossen, bei denen<lb/> sie Neigung zum Trinken bemerken, nicht in den Vorstand wählen. Eine stetig<lb/> wachsende Zahl von Vereinsbeamten bekennt sich — als Teatotaler — zu<lb/> strengster Enthaltsamkeit, während andre, ohne gerade das Mäßigkeitsgelübde<lb/> abzulegen, auf die Gefahr hin, an Popularität einzubüßen, alle Einladungen<lb/> zu Trinkgelagen ausschlagen. Noch andre endlich fallen ab und werden<lb/> „Bourgeois." So ein Mann geht täglich von morgens bis abends in sauberer,<lb/> seiner Kleidung einher, und bald bezieht er auch ein Häuschen in einem der<lb/> Stadtviertel der kleinen Bourgeoisie und nimmt deren Lebensgewohnheiten an,<lb/> wobei ihm seine Frau immer um einige Schritte voraus ist. Mit den äußern<lb/> Lebensgewohnheiten vollzieht sich, ihm selbst unbewußt und unbemerkt, eine<lb/> Wandlung seines Innern. „Er fängt an, auf die Vereinsmitglieder als »ge¬<lb/> wöhnliche Arbeiter« herabzusehen, die Arbeitlosen aber verachtet er als Leute,<lb/> die durch eigne Schuld Schiffbruch gelitten haben, und seine Verachtung tritt<lb/> möglicherweise unverhüllt zu Tage"; die Arbeitlosen aber murmeln ihm, wenn<lb/> sie ihn geschniegelt und gebügelt zum Vereiuslokale schreiten sehn, leise Flüche<lb/> nach. Beim nächsten Streik führt er die Sache seiner Genossen nur mit halbem<lb/> Herzen, und der Ausgleich, den er zustande bringt, trügt ihm den Vorwurf<lb/> der Verrätcrei ein. Nachdem man sich gegenseitig noch ein paar Jahre ge¬<lb/> quält und geärgert hat, geht er endlich und nimmt in der Bourgeoiswelt eine<lb/> bescheidne Anstellung an. Das Buch schildert das Leben und Treiben der<lb/> heutigen Gewertvereinler in der Form der Lebensgeschichte eines solchen von<lb/> der Lehrlingszeit bis zum Generalsekretariat, zu dem er sich aufschwingt, sehr<lb/> anschaulich. In den „Logen," wo es sehr ehrbar und anständig zugeht, werden<lb/> Formen beobachtet, die sowohl an die Freimaurerlogen wie an die alten Zunft¬<lb/> stuben erinnern. Die Brüder kommen nicht gleich von der Arbeit dahin, son¬<lb/> dern gehen vorher nach Hanse, um sich zu reinigen und ihren Thee zu<lb/> trinken. Ältere Mitglieder, heißt es u. a., spreche» noch oft von den Zeiten,<lb/> wo die Leute gleich von der Arbeit weg und in ihrem Arbeitsschmutz in den<lb/> Klub kamen. „Das anständige Benehmen in den Versammlungen, wie es hente</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0176]
Die englischen Gewerkvereine
Wird einer zum Bezirksdelegirten oder zum Verbandssekretär ernannt, so muß
er seinen bisherigen Broterwerb aufgeben und bekommt einen bescheidnen Gehalt,
der Bezirksdelegirte vierzig bis fünfzig Mark die Woche, der Generalsekretär
viertausend bis sechstausend Mark jährlich. Schon die Kassenverwaltung er¬
fordert sehr viel Arbeit; hatten doch die „amalgamirten" Maschinenbauer schon
im Jahre 1861 beinahe anderthalb Millionen Mark Vereinsvermögen. Den
Mitgliedern dieser neuen Vereinsbüreaukratie drohen, wie die Webbs darlegen,
drei Gefahren. Einige verknöchern in einseitiger Kassen- und Büreciuarbeit
und verlieren die großen Ziele der Arbeiterbewegung aus den Augen. Manche
Delegirte und Generalsekretäre ergeben sich dem Trunk, weil sie genötigt sind,
beständig im Lande herumzureisen und in Wirtshäusern zu verkehren. Doch
kommt der Fall nicht hüusig vor, da die Arbeiter solche Genossen, bei denen
sie Neigung zum Trinken bemerken, nicht in den Vorstand wählen. Eine stetig
wachsende Zahl von Vereinsbeamten bekennt sich — als Teatotaler — zu
strengster Enthaltsamkeit, während andre, ohne gerade das Mäßigkeitsgelübde
abzulegen, auf die Gefahr hin, an Popularität einzubüßen, alle Einladungen
zu Trinkgelagen ausschlagen. Noch andre endlich fallen ab und werden
„Bourgeois." So ein Mann geht täglich von morgens bis abends in sauberer,
seiner Kleidung einher, und bald bezieht er auch ein Häuschen in einem der
Stadtviertel der kleinen Bourgeoisie und nimmt deren Lebensgewohnheiten an,
wobei ihm seine Frau immer um einige Schritte voraus ist. Mit den äußern
Lebensgewohnheiten vollzieht sich, ihm selbst unbewußt und unbemerkt, eine
Wandlung seines Innern. „Er fängt an, auf die Vereinsmitglieder als »ge¬
wöhnliche Arbeiter« herabzusehen, die Arbeitlosen aber verachtet er als Leute,
die durch eigne Schuld Schiffbruch gelitten haben, und seine Verachtung tritt
möglicherweise unverhüllt zu Tage"; die Arbeitlosen aber murmeln ihm, wenn
sie ihn geschniegelt und gebügelt zum Vereiuslokale schreiten sehn, leise Flüche
nach. Beim nächsten Streik führt er die Sache seiner Genossen nur mit halbem
Herzen, und der Ausgleich, den er zustande bringt, trügt ihm den Vorwurf
der Verrätcrei ein. Nachdem man sich gegenseitig noch ein paar Jahre ge¬
quält und geärgert hat, geht er endlich und nimmt in der Bourgeoiswelt eine
bescheidne Anstellung an. Das Buch schildert das Leben und Treiben der
heutigen Gewertvereinler in der Form der Lebensgeschichte eines solchen von
der Lehrlingszeit bis zum Generalsekretariat, zu dem er sich aufschwingt, sehr
anschaulich. In den „Logen," wo es sehr ehrbar und anständig zugeht, werden
Formen beobachtet, die sowohl an die Freimaurerlogen wie an die alten Zunft¬
stuben erinnern. Die Brüder kommen nicht gleich von der Arbeit dahin, son¬
dern gehen vorher nach Hanse, um sich zu reinigen und ihren Thee zu
trinken. Ältere Mitglieder, heißt es u. a., spreche» noch oft von den Zeiten,
wo die Leute gleich von der Arbeit weg und in ihrem Arbeitsschmutz in den
Klub kamen. „Das anständige Benehmen in den Versammlungen, wie es hente
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