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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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evangelisch-soziale" Bewegung, in der sich bisher politische und religivssittliche
Bestrebungen ungeschieden gemengt haben. In der Scheidung beider Elemente
erblickt Göhre die eigentliche Aufgabe, die den Evangelisch-sozialen augenblick¬
lich gestellt ist. Er fordert, daß sich die evangelisch-soziale Bewegung in zwei
teile, eine sozialpolitische und eine sozialethische. Die sozialethische würde
ihren Mittelpunkt im Evangelisch-sozialen Kongreß haben; ihre Aufgabe wäre
es, durch Beleuchtung unsrer sozialen Verhältnisse die Gewissen zu schärfen,
in den wirtschaftlichen Kämpfen der Zeit versöhnend zu wirken und durch
kirchliche, gemeindliche Thätigkeit Hilfe zu leisten, soweit es ohne politische
Thätigkeit möglich ist. Mit solcher Arbeit würde sich die Richtung ähnlich
wie die Innere Mission der Kirche angliedern. Göhre fürchtet, wohl mit
Recht, daß die Kirche dann leicht der Vorwurf treffen werde, "Schleppen¬
träger der heutigen Gesellschaft" zu sein. Jedenfalls wird sie diesen Vorwurf
nur dann vermeiden können, wenn sie wirklich selbständig, von staatlichem Ein¬
fluß frei wird, wenn also die Einrichtung der Landeskirchen und des Summ¬
episkopats aufhört. Die preußische Kirchenpolitik der Behörden sowohl wie
der kirchlichen Parteien ist, wie Göhre sagt, der schablonenhafte Abklatsch der
preußischen Staats- und Parteipolitik. Andre Kirchenregierungen, wie das
hessische Oberkonsistorium, haben ja geradezu ihren Geistlichen bestimmte sozial¬
politische Anschauungen verboten. Erst die Freiheit von solcher Bevormundung
kann der Kirche das rechte Vertrauen im Volke gewinnen, dessen sie zur Lösung
ihrer sozialethischen Aufgabe bedarf.

Was aber an politischen Ideen und Bestrebungen in der evangelisch¬
sozialen Bewegung vorhanden ist, das muß sich zu einer eignen politischen
Partei ausbilden. Göhre nennt sie die soziale Reformpartei aller kleinen Leute.
In ihr soll die arbeiterfreundliche, proletarische Richtung des evangelisch-
sozialen Gedankens Ausdruck finden. Naumann hat dieses Jahr in der Januar-
uummer seiner "Hilfe" eine gleiche Spaltung vorausgesehen und damals zwischen
der politischen und der religiösen Aufgabe der Christlich-sozialen geschieden.
Mit glücklicheren Ausdruck als Göhre stellt er als politische Aufgabe hin,
"einen regierungsfähigen Sozialismus" zu schaffen, eine große mächtige Partei,
deren zwei Grundzüge sein würden: unbedingte Arbeiterfreundlichkeit und un¬
bedingtes Eintreten für die nationale Macht und Größe des Reichs, die allein
die Durchführung großer Reformen zu Gunsten der Arbeiter verbürgen kann.
Ob die Trennung der bisher ziemlich einheitlichen Bewegung schon jetzt ein¬
treten muß, wie Göhre meint, ist freilich nicht so sicher wie die Thatsache,
daß sie kommen muß.

Mit der Trennung würde sich die Bewegung zugleich von jener Ver¬
wischung von Christentum und Sozialpolitik losmachen, die in ihr doch immer
Wieder bald hier bald da hervorbricht. Auch sie ist ein Erbteil der kon¬
servativen Vergangenheit, und je weiter sich die Evangelisch-sozialen von den


Grenzboten III 1896 11
Gvangelisch-sozial

evangelisch-soziale« Bewegung, in der sich bisher politische und religivssittliche
Bestrebungen ungeschieden gemengt haben. In der Scheidung beider Elemente
erblickt Göhre die eigentliche Aufgabe, die den Evangelisch-sozialen augenblick¬
lich gestellt ist. Er fordert, daß sich die evangelisch-soziale Bewegung in zwei
teile, eine sozialpolitische und eine sozialethische. Die sozialethische würde
ihren Mittelpunkt im Evangelisch-sozialen Kongreß haben; ihre Aufgabe wäre
es, durch Beleuchtung unsrer sozialen Verhältnisse die Gewissen zu schärfen,
in den wirtschaftlichen Kämpfen der Zeit versöhnend zu wirken und durch
kirchliche, gemeindliche Thätigkeit Hilfe zu leisten, soweit es ohne politische
Thätigkeit möglich ist. Mit solcher Arbeit würde sich die Richtung ähnlich
wie die Innere Mission der Kirche angliedern. Göhre fürchtet, wohl mit
Recht, daß die Kirche dann leicht der Vorwurf treffen werde, „Schleppen¬
träger der heutigen Gesellschaft" zu sein. Jedenfalls wird sie diesen Vorwurf
nur dann vermeiden können, wenn sie wirklich selbständig, von staatlichem Ein¬
fluß frei wird, wenn also die Einrichtung der Landeskirchen und des Summ¬
episkopats aufhört. Die preußische Kirchenpolitik der Behörden sowohl wie
der kirchlichen Parteien ist, wie Göhre sagt, der schablonenhafte Abklatsch der
preußischen Staats- und Parteipolitik. Andre Kirchenregierungen, wie das
hessische Oberkonsistorium, haben ja geradezu ihren Geistlichen bestimmte sozial¬
politische Anschauungen verboten. Erst die Freiheit von solcher Bevormundung
kann der Kirche das rechte Vertrauen im Volke gewinnen, dessen sie zur Lösung
ihrer sozialethischen Aufgabe bedarf.

Was aber an politischen Ideen und Bestrebungen in der evangelisch¬
sozialen Bewegung vorhanden ist, das muß sich zu einer eignen politischen
Partei ausbilden. Göhre nennt sie die soziale Reformpartei aller kleinen Leute.
In ihr soll die arbeiterfreundliche, proletarische Richtung des evangelisch-
sozialen Gedankens Ausdruck finden. Naumann hat dieses Jahr in der Januar-
uummer seiner „Hilfe" eine gleiche Spaltung vorausgesehen und damals zwischen
der politischen und der religiösen Aufgabe der Christlich-sozialen geschieden.
Mit glücklicheren Ausdruck als Göhre stellt er als politische Aufgabe hin,
»einen regierungsfähigen Sozialismus" zu schaffen, eine große mächtige Partei,
deren zwei Grundzüge sein würden: unbedingte Arbeiterfreundlichkeit und un¬
bedingtes Eintreten für die nationale Macht und Größe des Reichs, die allein
die Durchführung großer Reformen zu Gunsten der Arbeiter verbürgen kann.
Ob die Trennung der bisher ziemlich einheitlichen Bewegung schon jetzt ein¬
treten muß, wie Göhre meint, ist freilich nicht so sicher wie die Thatsache,
daß sie kommen muß.

Mit der Trennung würde sich die Bewegung zugleich von jener Ver¬
wischung von Christentum und Sozialpolitik losmachen, die in ihr doch immer
Wieder bald hier bald da hervorbricht. Auch sie ist ein Erbteil der kon¬
servativen Vergangenheit, und je weiter sich die Evangelisch-sozialen von den


Grenzboten III 1896 11
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[0089] Gvangelisch-sozial evangelisch-soziale« Bewegung, in der sich bisher politische und religivssittliche Bestrebungen ungeschieden gemengt haben. In der Scheidung beider Elemente erblickt Göhre die eigentliche Aufgabe, die den Evangelisch-sozialen augenblick¬ lich gestellt ist. Er fordert, daß sich die evangelisch-soziale Bewegung in zwei teile, eine sozialpolitische und eine sozialethische. Die sozialethische würde ihren Mittelpunkt im Evangelisch-sozialen Kongreß haben; ihre Aufgabe wäre es, durch Beleuchtung unsrer sozialen Verhältnisse die Gewissen zu schärfen, in den wirtschaftlichen Kämpfen der Zeit versöhnend zu wirken und durch kirchliche, gemeindliche Thätigkeit Hilfe zu leisten, soweit es ohne politische Thätigkeit möglich ist. Mit solcher Arbeit würde sich die Richtung ähnlich wie die Innere Mission der Kirche angliedern. Göhre fürchtet, wohl mit Recht, daß die Kirche dann leicht der Vorwurf treffen werde, „Schleppen¬ träger der heutigen Gesellschaft" zu sein. Jedenfalls wird sie diesen Vorwurf nur dann vermeiden können, wenn sie wirklich selbständig, von staatlichem Ein¬ fluß frei wird, wenn also die Einrichtung der Landeskirchen und des Summ¬ episkopats aufhört. Die preußische Kirchenpolitik der Behörden sowohl wie der kirchlichen Parteien ist, wie Göhre sagt, der schablonenhafte Abklatsch der preußischen Staats- und Parteipolitik. Andre Kirchenregierungen, wie das hessische Oberkonsistorium, haben ja geradezu ihren Geistlichen bestimmte sozial¬ politische Anschauungen verboten. Erst die Freiheit von solcher Bevormundung kann der Kirche das rechte Vertrauen im Volke gewinnen, dessen sie zur Lösung ihrer sozialethischen Aufgabe bedarf. Was aber an politischen Ideen und Bestrebungen in der evangelisch¬ sozialen Bewegung vorhanden ist, das muß sich zu einer eignen politischen Partei ausbilden. Göhre nennt sie die soziale Reformpartei aller kleinen Leute. In ihr soll die arbeiterfreundliche, proletarische Richtung des evangelisch- sozialen Gedankens Ausdruck finden. Naumann hat dieses Jahr in der Januar- uummer seiner „Hilfe" eine gleiche Spaltung vorausgesehen und damals zwischen der politischen und der religiösen Aufgabe der Christlich-sozialen geschieden. Mit glücklicheren Ausdruck als Göhre stellt er als politische Aufgabe hin, »einen regierungsfähigen Sozialismus" zu schaffen, eine große mächtige Partei, deren zwei Grundzüge sein würden: unbedingte Arbeiterfreundlichkeit und un¬ bedingtes Eintreten für die nationale Macht und Größe des Reichs, die allein die Durchführung großer Reformen zu Gunsten der Arbeiter verbürgen kann. Ob die Trennung der bisher ziemlich einheitlichen Bewegung schon jetzt ein¬ treten muß, wie Göhre meint, ist freilich nicht so sicher wie die Thatsache, daß sie kommen muß. Mit der Trennung würde sich die Bewegung zugleich von jener Ver¬ wischung von Christentum und Sozialpolitik losmachen, die in ihr doch immer Wieder bald hier bald da hervorbricht. Auch sie ist ein Erbteil der kon¬ servativen Vergangenheit, und je weiter sich die Evangelisch-sozialen von den Grenzboten III 1896 11

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/89>, abgerufen am 28.11.2024.