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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Zum siebzigsten Geburtstag Friedrich iLhryscmders

inftrumente nach Händelschen Muster. Da braucht es ganz ungewohnte Zahlen
von Blasinstrumenten, bei dreihundert Chorstimmen (Dilettantenvereine voraus¬
gesetzt) z. B. zehn Trompeten, Das allerwichtigste aber an diesem Restaurirungs-
verfahren Chrhsanders ist, daß er das alte Verzierungs- und Kadenzirungs-
wesen wieder in seine Rechte einsetzte, auch in den Chor- und Orchester¬
stimmen. Seine Hauptstelle hat es natürlich in den Sologesängen.

Die Komponisten des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts schrieben
ihre Melodie gewissermaßen nur in den Hauptlinien auf. Die Ausführung im
einzelnen überließen sie dem Solisten nach seiner Begabung, nach seiner Stimmung,
und sie konnten sie ihm überlassen, denn die regelrechte Erlernung des Jmprovi-
sirens, des Variirens und Diminuirens bildete einen wichtigen Teil der Aus¬
bildung aller Virtuosen, der Sänger wie der Spieler. Gluck, über ihren Mißbrauch
empört, grub dieser Kunst das Grab. Durch ihn und nach ihm wurde es mehr
und mehr Grundsatz, daß der Virtuos streng an die Noten gebunden sei. In
die Gegenwart herein klingt es fast wie ein Märchen, daß oftmals auch der
ausführende Künstler produktiv fein mußte. Unter den neuern Musikern, die
noch eine Ahnung von der alten Praxis öffentlich verraten haben, wollen wir
F. A. Gevaert, als Herausgeber der (Amres as 1'Itg.Jip und Carl Reinecke
wegen der kleinen Schrift über die Mvznrtschen Klavierkonzerte nennen. Dem
Einsichtigen braucht nicht auseinandergesetzt zu werden, welches schwere Unrecht
wir den Kompositionen anthun, die auf die Ergänzung durch die ausführenden
Solisten berechnet sind, wenn wir sie notengetren ausführen. Manchem,
dem die eine oder andre Arie Händels etwas steif erschienen ist, der über den
og, vaxo-Mechanismus dieser Arien den Kopf geschüttelt hat, wird ein Licht
aufgehen.

Chryscmder kann das Recht seiner melodischen Ergänzungen und Einlage"
doppelt belegen. Einmal durch eine Reihe von Arien, in denen Händel mit
eigner Hand -- sür schwächere Sänger -- die geeigneten Verzierungen dorne-
n.ent.8, aM'Äuöuts, grÄves nannte man sie) eingetragen hat. Dann aber, noch
nachdrücklicher, durch die italienischen und französischen Gesangschulen und
Jnstrumentenlehren vom sechzehnten Jahrhundert an. Sie, die ebenfalls ver¬
gessen und verschüttet waren, wieder ans Licht zu ziehen wird eine der nächsten
Aufgaben der Musikgeschichte sein. Chrysander selbst hat mit seinen in der
"Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft" stehenden Aufsätzen über Zaceoni be¬
reits den Anfang gemacht. Schon sind auch weitere Händelsche Oratorien von
ihm dem gleichen Nestaurirungsprozeß wie die beiden angeführten unterzogen
worden. Auf einiges Sperren und Sträuben Vonseiten der deutschen Musiker
muß man sich gefaßt machen, für die Scholastiker wird es einige heiße Tage
geben. Aber Chrysander wird auch hier durchdringen, und damit ist der Kunst
des Sologesangs und der alten Vokalmusik eine neue Ära geöffnet, der ins
Stocken geratenen Entwicklung des Oratoriums die Bahn frei gemacht.


Zum siebzigsten Geburtstag Friedrich iLhryscmders

inftrumente nach Händelschen Muster. Da braucht es ganz ungewohnte Zahlen
von Blasinstrumenten, bei dreihundert Chorstimmen (Dilettantenvereine voraus¬
gesetzt) z. B. zehn Trompeten, Das allerwichtigste aber an diesem Restaurirungs-
verfahren Chrhsanders ist, daß er das alte Verzierungs- und Kadenzirungs-
wesen wieder in seine Rechte einsetzte, auch in den Chor- und Orchester¬
stimmen. Seine Hauptstelle hat es natürlich in den Sologesängen.

Die Komponisten des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts schrieben
ihre Melodie gewissermaßen nur in den Hauptlinien auf. Die Ausführung im
einzelnen überließen sie dem Solisten nach seiner Begabung, nach seiner Stimmung,
und sie konnten sie ihm überlassen, denn die regelrechte Erlernung des Jmprovi-
sirens, des Variirens und Diminuirens bildete einen wichtigen Teil der Aus¬
bildung aller Virtuosen, der Sänger wie der Spieler. Gluck, über ihren Mißbrauch
empört, grub dieser Kunst das Grab. Durch ihn und nach ihm wurde es mehr
und mehr Grundsatz, daß der Virtuos streng an die Noten gebunden sei. In
die Gegenwart herein klingt es fast wie ein Märchen, daß oftmals auch der
ausführende Künstler produktiv fein mußte. Unter den neuern Musikern, die
noch eine Ahnung von der alten Praxis öffentlich verraten haben, wollen wir
F. A. Gevaert, als Herausgeber der (Amres as 1'Itg.Jip und Carl Reinecke
wegen der kleinen Schrift über die Mvznrtschen Klavierkonzerte nennen. Dem
Einsichtigen braucht nicht auseinandergesetzt zu werden, welches schwere Unrecht
wir den Kompositionen anthun, die auf die Ergänzung durch die ausführenden
Solisten berechnet sind, wenn wir sie notengetren ausführen. Manchem,
dem die eine oder andre Arie Händels etwas steif erschienen ist, der über den
og, vaxo-Mechanismus dieser Arien den Kopf geschüttelt hat, wird ein Licht
aufgehen.

Chryscmder kann das Recht seiner melodischen Ergänzungen und Einlage»
doppelt belegen. Einmal durch eine Reihe von Arien, in denen Händel mit
eigner Hand — sür schwächere Sänger — die geeigneten Verzierungen dorne-
n.ent.8, aM'Äuöuts, grÄves nannte man sie) eingetragen hat. Dann aber, noch
nachdrücklicher, durch die italienischen und französischen Gesangschulen und
Jnstrumentenlehren vom sechzehnten Jahrhundert an. Sie, die ebenfalls ver¬
gessen und verschüttet waren, wieder ans Licht zu ziehen wird eine der nächsten
Aufgaben der Musikgeschichte sein. Chrysander selbst hat mit seinen in der
„Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft" stehenden Aufsätzen über Zaceoni be¬
reits den Anfang gemacht. Schon sind auch weitere Händelsche Oratorien von
ihm dem gleichen Nestaurirungsprozeß wie die beiden angeführten unterzogen
worden. Auf einiges Sperren und Sträuben Vonseiten der deutschen Musiker
muß man sich gefaßt machen, für die Scholastiker wird es einige heiße Tage
geben. Aber Chrysander wird auch hier durchdringen, und damit ist der Kunst
des Sologesangs und der alten Vokalmusik eine neue Ära geöffnet, der ins
Stocken geratenen Entwicklung des Oratoriums die Bahn frei gemacht.


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[0084] Zum siebzigsten Geburtstag Friedrich iLhryscmders inftrumente nach Händelschen Muster. Da braucht es ganz ungewohnte Zahlen von Blasinstrumenten, bei dreihundert Chorstimmen (Dilettantenvereine voraus¬ gesetzt) z. B. zehn Trompeten, Das allerwichtigste aber an diesem Restaurirungs- verfahren Chrhsanders ist, daß er das alte Verzierungs- und Kadenzirungs- wesen wieder in seine Rechte einsetzte, auch in den Chor- und Orchester¬ stimmen. Seine Hauptstelle hat es natürlich in den Sologesängen. Die Komponisten des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts schrieben ihre Melodie gewissermaßen nur in den Hauptlinien auf. Die Ausführung im einzelnen überließen sie dem Solisten nach seiner Begabung, nach seiner Stimmung, und sie konnten sie ihm überlassen, denn die regelrechte Erlernung des Jmprovi- sirens, des Variirens und Diminuirens bildete einen wichtigen Teil der Aus¬ bildung aller Virtuosen, der Sänger wie der Spieler. Gluck, über ihren Mißbrauch empört, grub dieser Kunst das Grab. Durch ihn und nach ihm wurde es mehr und mehr Grundsatz, daß der Virtuos streng an die Noten gebunden sei. In die Gegenwart herein klingt es fast wie ein Märchen, daß oftmals auch der ausführende Künstler produktiv fein mußte. Unter den neuern Musikern, die noch eine Ahnung von der alten Praxis öffentlich verraten haben, wollen wir F. A. Gevaert, als Herausgeber der (Amres as 1'Itg.Jip und Carl Reinecke wegen der kleinen Schrift über die Mvznrtschen Klavierkonzerte nennen. Dem Einsichtigen braucht nicht auseinandergesetzt zu werden, welches schwere Unrecht wir den Kompositionen anthun, die auf die Ergänzung durch die ausführenden Solisten berechnet sind, wenn wir sie notengetren ausführen. Manchem, dem die eine oder andre Arie Händels etwas steif erschienen ist, der über den og, vaxo-Mechanismus dieser Arien den Kopf geschüttelt hat, wird ein Licht aufgehen. Chryscmder kann das Recht seiner melodischen Ergänzungen und Einlage» doppelt belegen. Einmal durch eine Reihe von Arien, in denen Händel mit eigner Hand — sür schwächere Sänger — die geeigneten Verzierungen dorne- n.ent.8, aM'Äuöuts, grÄves nannte man sie) eingetragen hat. Dann aber, noch nachdrücklicher, durch die italienischen und französischen Gesangschulen und Jnstrumentenlehren vom sechzehnten Jahrhundert an. Sie, die ebenfalls ver¬ gessen und verschüttet waren, wieder ans Licht zu ziehen wird eine der nächsten Aufgaben der Musikgeschichte sein. Chrysander selbst hat mit seinen in der „Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft" stehenden Aufsätzen über Zaceoni be¬ reits den Anfang gemacht. Schon sind auch weitere Händelsche Oratorien von ihm dem gleichen Nestaurirungsprozeß wie die beiden angeführten unterzogen worden. Auf einiges Sperren und Sträuben Vonseiten der deutschen Musiker muß man sich gefaßt machen, für die Scholastiker wird es einige heiße Tage geben. Aber Chrysander wird auch hier durchdringen, und damit ist der Kunst des Sologesangs und der alten Vokalmusik eine neue Ära geöffnet, der ins Stocken geratenen Entwicklung des Oratoriums die Bahn frei gemacht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/84>, abgerufen am 01.09.2024.