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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Zum siebzigsten Geburtstag Friedrich Lhrysanders

Mit Gervinus gehörte ihrem Direktorium selbstverständlich Chrysander an, er
ward bald dessen Seele. Das Direktorium löste sich später auf, die Gesellschaft
ward zur Fiktion. Da nahm Chrysander, eine Zeit lang noch voll Gervinus
unterstützt, die Aufgabe ganz allein auf seine Schultern. Und das war für eine
einzelne Kraft eine Riesenaufgabe, nicht bloß geistig, sondern auch ein materielles
Wagnis.

Es wäre Stoff für ein selbständiges Buch, zu schildern, wie Chrysander
diese Händelausgabe durchgeführt hat. Dabei kam nicht bloß der Gelehrte in
Frage° sondern in noch höherm Grade die Persönlichkeit. Was er hier gethan
hat -- man kann zweifeln, ob es ein zweiter imstande gewesen wäre. Nur ein
Mann von dieser Unbefangenheit und Selbstlosigkeit, von dieser mecklenburgischen
Zähigkeit, von dieser unversieglichen Erfindungskraft in bedenklichen Lagen
war imstande, durch alle diese Hindernisse und Schwierigkeiten hindurchzukommen.
Da galt es nicht bloß, an die Quellen zu kommen und gut zu redigiren;
nein, bis auf die kleinsten Kleinigkeiten lag alles auf ihm. Er kaufte das
Papier, lernte Setzer, Stecher und Drucker um, nahm die Herstellung, den Verlag
und den Versand in die eigne Hand. Um von dein Ertrage seiner geistigen Arbeit
unabhängig zu sein, um ein Fundament sür die Hündelgeschäfte zu haben,
ward er Kunstgärtner, erwarb ein Grundstück. Dort in Bergedorf bei Ham¬
burg, neben den in Fachkeisen wohlbekannten Treibhäusern Chrysanders steht
die Druckerei und das Lagerhans, aus dem seit mehr als dreißig Jahren die
Bünde der deutschen Händelausgabe Hinausgehen in die Welt. Noch jedes
Jahr reist der beneidenswert rüstige Mann wenigstens einmal nach England,
um Hundelöcher Handschriften nachzugehen. Seine Doppelarbeit hat ihn nicht
aufgerieben, sondern frisch erhalten. Wunderbar ist es ihm gelungen, seine
Kühnheit wurde belohnt. Im Enderfolge sowohl wie auch in bedeutenden
Einzelheiten. So kam ihm einmal der Zufall in freundlichster Weise dadurch
entgegen, daß er ihm die Handexemplare der Hundelöcher Oratorien und Opern
fast sämtlich in die Hand spielte. Diese Handexemplare sind von Chr. Schmidt,
Handels Amanuensis, geschriebne Partituren, aus denen Händel bei den Auf¬
führungen dirigirte. Da sie in eigenhändigen Korrekturen und Zusätzen die letzten
Willcnsmeinungen Händels über die Erdgestalt seiner Werke enthalten, sind sie
noch viel wichtiger als die Autographen. Ans seiner eignen Musikbibliothek,
mit deren Reichtum an seltenen und wertvollen Handschriften und Drucken
sich die keines Privatmannes messen kann, hat Chrysander diese Handexemplare
weggegeben in die Hamburger Stadtbibliothek.

Man fragt um unwillkürlich: Wie kam es, wie konnte es kommen, daß
eine solche Aufgabe wie die Herausgabe von Händels Werken der Kraft eines
einzelnen Mannes überlassen blieb? Wo waren da die Mäcene, wo die deutschen
Musiker? Der Beistand von fürstlicher Seite blieb nicht ganz aus. Man
subskribirte ein bis zwanzig Exemplare. Am freigebigsten unterstützte Georg V.
Gre


nzboten III 1896 'n
Zum siebzigsten Geburtstag Friedrich Lhrysanders

Mit Gervinus gehörte ihrem Direktorium selbstverständlich Chrysander an, er
ward bald dessen Seele. Das Direktorium löste sich später auf, die Gesellschaft
ward zur Fiktion. Da nahm Chrysander, eine Zeit lang noch voll Gervinus
unterstützt, die Aufgabe ganz allein auf seine Schultern. Und das war für eine
einzelne Kraft eine Riesenaufgabe, nicht bloß geistig, sondern auch ein materielles
Wagnis.

Es wäre Stoff für ein selbständiges Buch, zu schildern, wie Chrysander
diese Händelausgabe durchgeführt hat. Dabei kam nicht bloß der Gelehrte in
Frage° sondern in noch höherm Grade die Persönlichkeit. Was er hier gethan
hat — man kann zweifeln, ob es ein zweiter imstande gewesen wäre. Nur ein
Mann von dieser Unbefangenheit und Selbstlosigkeit, von dieser mecklenburgischen
Zähigkeit, von dieser unversieglichen Erfindungskraft in bedenklichen Lagen
war imstande, durch alle diese Hindernisse und Schwierigkeiten hindurchzukommen.
Da galt es nicht bloß, an die Quellen zu kommen und gut zu redigiren;
nein, bis auf die kleinsten Kleinigkeiten lag alles auf ihm. Er kaufte das
Papier, lernte Setzer, Stecher und Drucker um, nahm die Herstellung, den Verlag
und den Versand in die eigne Hand. Um von dein Ertrage seiner geistigen Arbeit
unabhängig zu sein, um ein Fundament sür die Hündelgeschäfte zu haben,
ward er Kunstgärtner, erwarb ein Grundstück. Dort in Bergedorf bei Ham¬
burg, neben den in Fachkeisen wohlbekannten Treibhäusern Chrysanders steht
die Druckerei und das Lagerhans, aus dem seit mehr als dreißig Jahren die
Bünde der deutschen Händelausgabe Hinausgehen in die Welt. Noch jedes
Jahr reist der beneidenswert rüstige Mann wenigstens einmal nach England,
um Hundelöcher Handschriften nachzugehen. Seine Doppelarbeit hat ihn nicht
aufgerieben, sondern frisch erhalten. Wunderbar ist es ihm gelungen, seine
Kühnheit wurde belohnt. Im Enderfolge sowohl wie auch in bedeutenden
Einzelheiten. So kam ihm einmal der Zufall in freundlichster Weise dadurch
entgegen, daß er ihm die Handexemplare der Hundelöcher Oratorien und Opern
fast sämtlich in die Hand spielte. Diese Handexemplare sind von Chr. Schmidt,
Handels Amanuensis, geschriebne Partituren, aus denen Händel bei den Auf¬
führungen dirigirte. Da sie in eigenhändigen Korrekturen und Zusätzen die letzten
Willcnsmeinungen Händels über die Erdgestalt seiner Werke enthalten, sind sie
noch viel wichtiger als die Autographen. Ans seiner eignen Musikbibliothek,
mit deren Reichtum an seltenen und wertvollen Handschriften und Drucken
sich die keines Privatmannes messen kann, hat Chrysander diese Handexemplare
weggegeben in die Hamburger Stadtbibliothek.

Man fragt um unwillkürlich: Wie kam es, wie konnte es kommen, daß
eine solche Aufgabe wie die Herausgabe von Händels Werken der Kraft eines
einzelnen Mannes überlassen blieb? Wo waren da die Mäcene, wo die deutschen
Musiker? Der Beistand von fürstlicher Seite blieb nicht ganz aus. Man
subskribirte ein bis zwanzig Exemplare. Am freigebigsten unterstützte Georg V.
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[0081] Zum siebzigsten Geburtstag Friedrich Lhrysanders Mit Gervinus gehörte ihrem Direktorium selbstverständlich Chrysander an, er ward bald dessen Seele. Das Direktorium löste sich später auf, die Gesellschaft ward zur Fiktion. Da nahm Chrysander, eine Zeit lang noch voll Gervinus unterstützt, die Aufgabe ganz allein auf seine Schultern. Und das war für eine einzelne Kraft eine Riesenaufgabe, nicht bloß geistig, sondern auch ein materielles Wagnis. Es wäre Stoff für ein selbständiges Buch, zu schildern, wie Chrysander diese Händelausgabe durchgeführt hat. Dabei kam nicht bloß der Gelehrte in Frage° sondern in noch höherm Grade die Persönlichkeit. Was er hier gethan hat — man kann zweifeln, ob es ein zweiter imstande gewesen wäre. Nur ein Mann von dieser Unbefangenheit und Selbstlosigkeit, von dieser mecklenburgischen Zähigkeit, von dieser unversieglichen Erfindungskraft in bedenklichen Lagen war imstande, durch alle diese Hindernisse und Schwierigkeiten hindurchzukommen. Da galt es nicht bloß, an die Quellen zu kommen und gut zu redigiren; nein, bis auf die kleinsten Kleinigkeiten lag alles auf ihm. Er kaufte das Papier, lernte Setzer, Stecher und Drucker um, nahm die Herstellung, den Verlag und den Versand in die eigne Hand. Um von dein Ertrage seiner geistigen Arbeit unabhängig zu sein, um ein Fundament sür die Hündelgeschäfte zu haben, ward er Kunstgärtner, erwarb ein Grundstück. Dort in Bergedorf bei Ham¬ burg, neben den in Fachkeisen wohlbekannten Treibhäusern Chrysanders steht die Druckerei und das Lagerhans, aus dem seit mehr als dreißig Jahren die Bünde der deutschen Händelausgabe Hinausgehen in die Welt. Noch jedes Jahr reist der beneidenswert rüstige Mann wenigstens einmal nach England, um Hundelöcher Handschriften nachzugehen. Seine Doppelarbeit hat ihn nicht aufgerieben, sondern frisch erhalten. Wunderbar ist es ihm gelungen, seine Kühnheit wurde belohnt. Im Enderfolge sowohl wie auch in bedeutenden Einzelheiten. So kam ihm einmal der Zufall in freundlichster Weise dadurch entgegen, daß er ihm die Handexemplare der Hundelöcher Oratorien und Opern fast sämtlich in die Hand spielte. Diese Handexemplare sind von Chr. Schmidt, Handels Amanuensis, geschriebne Partituren, aus denen Händel bei den Auf¬ führungen dirigirte. Da sie in eigenhändigen Korrekturen und Zusätzen die letzten Willcnsmeinungen Händels über die Erdgestalt seiner Werke enthalten, sind sie noch viel wichtiger als die Autographen. Ans seiner eignen Musikbibliothek, mit deren Reichtum an seltenen und wertvollen Handschriften und Drucken sich die keines Privatmannes messen kann, hat Chrysander diese Handexemplare weggegeben in die Hamburger Stadtbibliothek. Man fragt um unwillkürlich: Wie kam es, wie konnte es kommen, daß eine solche Aufgabe wie die Herausgabe von Händels Werken der Kraft eines einzelnen Mannes überlassen blieb? Wo waren da die Mäcene, wo die deutschen Musiker? Der Beistand von fürstlicher Seite blieb nicht ganz aus. Man subskribirte ein bis zwanzig Exemplare. Am freigebigsten unterstützte Georg V. Gre nzboten III 1896 'n

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/81>, abgerufen am 01.09.2024.