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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Handels zu schreiben begann, und heute steht er noch bei Händel. Kaum
mag er am Anfange geahnt haben, daß er sein ganzes Mannesleben für den
einen Meister einsetzen würde. Auf das Gebiet der musikalischen Biographie
lockte den durch eine im ästhetischen Teil sehr wertvolle Abhandlung über das
Oratorium und durch eine Reihe kleinerer Mitteilungen vortrefflich eingeführten
jungen Gelehrten der Vorgang von Otto Jahr; zur Wahl Händels bestimmte
ihn außer der eignen Geistesverwandtschaft der Einfluß von G. G. Gervinus,
bei dem Chrysander in Heidelberg längere Zeit hörte und verkehrte. Wie sein
Kollege Thibaut war auch Gervinus ein Musikfreund von nicht gewöhn¬
lichem Schlage. Wer den großen Literarhistoriker von dieser Seite noch nicht
kennt, sei auf sein Buch über "Händel und Shakespeare" aufmerksam gemacht.
Es ist seinerzeit von den Fachmusikern mit Entrüstung und Spott abgelehnt
worden. Es bekämpft landläufige Ansichten oft mit völlig unhaltbaren; aber
fein Grundgedanke ist von bleibender Bedeutung, nämlich: die Gegenwart
überschätzt die reine Instrumentalmusik, die Tonkunst bedarf für größere Formen
der Verbindung mit der Poesie. Wie sie dann das Höchste leisten kann, zeigt
Händel. Die ersten beiden Teile dieses Glaubensbekenntnisses finden sich in
andern Worten mehr als einmal auch in den Schriften Richard Wagners.
Und dennoch gilt Gervinus bei den Parteigängern der neuern Schulen als
blöder Reaktionär! Gervinus hat seiner Begeisterung für Händel außer durch
das genannte Buch auch in andrer, nicht immer glücklicher Weise, Ausdruck
gegeben. Das Verdienst, daß er der deutschen Musik einen Chrysander zuge¬
führt hat, darf ihm nicht vergessen werden.

Jahr, der Bonner Philologe, hatte mit seiner Beschreibung von Mozarts
Leben und Werken eine neue Periode der musikalischen Biographie eröffnet, sie
mit einem Ruck über die Stufe der Anekdoten und der äußerlichen Aufzählung
hinausgehoben. Wie sehr es bis dahin die Biographen der großen Ton¬
künstler ein einem Eingehen auf die Werke hatten fehlen lassen, mag ein Beispiel
veranschaulichen. Der Göttinger Forkel, der die erste Biographie von Se¬
bastian Bach geschrieben hat, führt zwei Konzerte für drei Klaviere an, eins
in V-moll und eins in 6-cIur. Das 6 ist ein Irrtum Forkels, vielleicht nur
ein Druckfehler: es muß statt 6 heißen: Dieses O hat sich aber bei allen
spätern Biographen fortgeerbt, selbst auf den sonst sorgfältigen Hilgenfeldt und
natürlich auch auf den geschäftigen und altklugen K. H. Bitter -- den spätern
preußischen Finanzminister --, fortgeerbt bis in eine Zeit, wo die Bachausgabe
die betreffenden Werke bereits vorgelegt hatte. Erst Spitta bringt die richtige
Angabe. Mit solchem Schlendrian brach Jahr. Fast thut er zuviel des Guten
w seinen Analysen Mozartscher Werke; aber Vertiefung in die Kompositionen
der Meister wurde durch ihn eine allgemeine Pflicht. Hierin bleibt Zahns
Biographie ein grundlegendes, klassisches Werk. Nach einer andern Rich¬
tung hin bleibt sie erstaunlich viel schuldig. Jahu behandelt Mozart als


Handels zu schreiben begann, und heute steht er noch bei Händel. Kaum
mag er am Anfange geahnt haben, daß er sein ganzes Mannesleben für den
einen Meister einsetzen würde. Auf das Gebiet der musikalischen Biographie
lockte den durch eine im ästhetischen Teil sehr wertvolle Abhandlung über das
Oratorium und durch eine Reihe kleinerer Mitteilungen vortrefflich eingeführten
jungen Gelehrten der Vorgang von Otto Jahr; zur Wahl Händels bestimmte
ihn außer der eignen Geistesverwandtschaft der Einfluß von G. G. Gervinus,
bei dem Chrysander in Heidelberg längere Zeit hörte und verkehrte. Wie sein
Kollege Thibaut war auch Gervinus ein Musikfreund von nicht gewöhn¬
lichem Schlage. Wer den großen Literarhistoriker von dieser Seite noch nicht
kennt, sei auf sein Buch über „Händel und Shakespeare" aufmerksam gemacht.
Es ist seinerzeit von den Fachmusikern mit Entrüstung und Spott abgelehnt
worden. Es bekämpft landläufige Ansichten oft mit völlig unhaltbaren; aber
fein Grundgedanke ist von bleibender Bedeutung, nämlich: die Gegenwart
überschätzt die reine Instrumentalmusik, die Tonkunst bedarf für größere Formen
der Verbindung mit der Poesie. Wie sie dann das Höchste leisten kann, zeigt
Händel. Die ersten beiden Teile dieses Glaubensbekenntnisses finden sich in
andern Worten mehr als einmal auch in den Schriften Richard Wagners.
Und dennoch gilt Gervinus bei den Parteigängern der neuern Schulen als
blöder Reaktionär! Gervinus hat seiner Begeisterung für Händel außer durch
das genannte Buch auch in andrer, nicht immer glücklicher Weise, Ausdruck
gegeben. Das Verdienst, daß er der deutschen Musik einen Chrysander zuge¬
führt hat, darf ihm nicht vergessen werden.

Jahr, der Bonner Philologe, hatte mit seiner Beschreibung von Mozarts
Leben und Werken eine neue Periode der musikalischen Biographie eröffnet, sie
mit einem Ruck über die Stufe der Anekdoten und der äußerlichen Aufzählung
hinausgehoben. Wie sehr es bis dahin die Biographen der großen Ton¬
künstler ein einem Eingehen auf die Werke hatten fehlen lassen, mag ein Beispiel
veranschaulichen. Der Göttinger Forkel, der die erste Biographie von Se¬
bastian Bach geschrieben hat, führt zwei Konzerte für drei Klaviere an, eins
in V-moll und eins in 6-cIur. Das 6 ist ein Irrtum Forkels, vielleicht nur
ein Druckfehler: es muß statt 6 heißen: Dieses O hat sich aber bei allen
spätern Biographen fortgeerbt, selbst auf den sonst sorgfältigen Hilgenfeldt und
natürlich auch auf den geschäftigen und altklugen K. H. Bitter — den spätern
preußischen Finanzminister —, fortgeerbt bis in eine Zeit, wo die Bachausgabe
die betreffenden Werke bereits vorgelegt hatte. Erst Spitta bringt die richtige
Angabe. Mit solchem Schlendrian brach Jahr. Fast thut er zuviel des Guten
w seinen Analysen Mozartscher Werke; aber Vertiefung in die Kompositionen
der Meister wurde durch ihn eine allgemeine Pflicht. Hierin bleibt Zahns
Biographie ein grundlegendes, klassisches Werk. Nach einer andern Rich¬
tung hin bleibt sie erstaunlich viel schuldig. Jahu behandelt Mozart als


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/79>, abgerufen am 27.11.2024.