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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Albert Dult

Lebens, wie von echter künstlerischer Belebung jeder Handlung und Gestalt
gleich weit entfernt ist. Und weiter ist es ein alter, hundertmal erörterter und
widerlegter Irrtum, der über Grabbe und Grabbes Schule auch in Ziels
geistvoller Studie wieder auftaucht: "Shakespeare war der Gott, zu dein diese
Kraftdramatiker Grabbescher Couleur beteten, der unglückliche Heinrich von
Kleist ihr irdischer Schutzpatron, dem sie nacheiferten." Auf Shakespeare
und Heinrich von Kleist durften sich in späterer Zeit Hebbel und Otto Ludwig,
aber nicht Grabbe, nicht Dult, kaum Georg Büchner beziehen. Es mag sein,
daß auch die Männer der Grabbischen Schule wähnten, die dramatische Kunst
mit realem Leben zu erfüllen, es war gewiß, daß sie, um die Form aller
Weichlichkeit zu entkleiden, "lieber dem Hyperoriginellen die ganze Hand als
der konventionellen Phrase auch nnr den kleinen Finger darreichten" (obschon
gerade Dult sichtlich sehr stark unter der Herrschaft nicht einer konventionellen,
aber einer modischen Phrase stand) -- das alles hebt den geradezu unge¬
heuern Unterschied nicht auf, der zwischen der echten Nachfolge Kleists und
der Geniedrnmatik auf den Wegen Grabbes waltet. Mit Shakespeare hat
die letztere eigentlich gar nichts zu thun, es sind reine Äußerlichkeiten, die die
flachen und tendenziösen Kritiker der dreißiger Jahre verleiteten, in jeder zu¬
gleich natnrlosen und formlosen Scheingenialität Shakespeares Geist oder Vor¬
bild zu spüren. Für Kleist mag Dult ein tieferes Verständnis und eine
reinere Teilnahme gehabt haben als Grabbe, aber man braucht nur Kleists
Erstlingsdrama "Die Familie Schrvffenstein," das in aller Phantastik und
Gewaltsamkeit noch zahlreiche und tiefe Wurzeln in dem echten Boden der
Natur hat, mit dem renommistischen, durch und durch crgrübelten "Orla"
Dulks zu vergleichen, um den Abstand zu sehen. Nicht als ob es der dekla¬
matorisch anfgebauschteu sentimentalen Sinnlichkeit des Orla an einzelnen
Prachtvollen Bildern und glücklich ausgedrückten Einfällen fehlte, nicht als ob
die wunderliche Verbindung des dithyrambischen Don Juan mit dem radikalen
Burschenschafter zu Anfang der dreißiger Jahre eine bare Unmöglichkeit ge¬
wesen wäre; aber der Grnndtrieb, in der Gestalt des Helden wie in dem ganzen
Drama, ist die theatralische Großmannssucht, das natnrlose Pathos, die re-
flektirte Überspanntheit, die, um mit Dulkschen Worten zu reden, Erfindungen
wie Gestalten vor der Blütezeit verdirbt. Der Pose dieser Art von Genialität
hat aber Dult selbst in seinen reifern Schöpfungen kaum je zu entsagen ver¬
mocht. Auch wo er nicht Tendenzdichter im engsten Sinne des Wortes ist,
entfaltet sich die poetische Frucht aus einem von außen her gegebnen Frucht¬
knoten, ein Vorgang, der in der Natur unmöglich, in der Kunst leider nur
zu häufig ist. Nicht aus einem Eindruck, einer Mitempfindung, einer An¬
schauung des Lebens, sondern ans einem Niederschlag der Lektüre, der Mode¬
doktrin, der Tagesstimmnng, der Augenblicksdebatte hervorgehend, entbehrt
beinahe die ganze Richtung der Poesie, von der Dult angezogen wurde, zwar


Albert Dult

Lebens, wie von echter künstlerischer Belebung jeder Handlung und Gestalt
gleich weit entfernt ist. Und weiter ist es ein alter, hundertmal erörterter und
widerlegter Irrtum, der über Grabbe und Grabbes Schule auch in Ziels
geistvoller Studie wieder auftaucht: „Shakespeare war der Gott, zu dein diese
Kraftdramatiker Grabbescher Couleur beteten, der unglückliche Heinrich von
Kleist ihr irdischer Schutzpatron, dem sie nacheiferten." Auf Shakespeare
und Heinrich von Kleist durften sich in späterer Zeit Hebbel und Otto Ludwig,
aber nicht Grabbe, nicht Dult, kaum Georg Büchner beziehen. Es mag sein,
daß auch die Männer der Grabbischen Schule wähnten, die dramatische Kunst
mit realem Leben zu erfüllen, es war gewiß, daß sie, um die Form aller
Weichlichkeit zu entkleiden, „lieber dem Hyperoriginellen die ganze Hand als
der konventionellen Phrase auch nnr den kleinen Finger darreichten" (obschon
gerade Dult sichtlich sehr stark unter der Herrschaft nicht einer konventionellen,
aber einer modischen Phrase stand) — das alles hebt den geradezu unge¬
heuern Unterschied nicht auf, der zwischen der echten Nachfolge Kleists und
der Geniedrnmatik auf den Wegen Grabbes waltet. Mit Shakespeare hat
die letztere eigentlich gar nichts zu thun, es sind reine Äußerlichkeiten, die die
flachen und tendenziösen Kritiker der dreißiger Jahre verleiteten, in jeder zu¬
gleich natnrlosen und formlosen Scheingenialität Shakespeares Geist oder Vor¬
bild zu spüren. Für Kleist mag Dult ein tieferes Verständnis und eine
reinere Teilnahme gehabt haben als Grabbe, aber man braucht nur Kleists
Erstlingsdrama „Die Familie Schrvffenstein," das in aller Phantastik und
Gewaltsamkeit noch zahlreiche und tiefe Wurzeln in dem echten Boden der
Natur hat, mit dem renommistischen, durch und durch crgrübelten „Orla"
Dulks zu vergleichen, um den Abstand zu sehen. Nicht als ob es der dekla¬
matorisch anfgebauschteu sentimentalen Sinnlichkeit des Orla an einzelnen
Prachtvollen Bildern und glücklich ausgedrückten Einfällen fehlte, nicht als ob
die wunderliche Verbindung des dithyrambischen Don Juan mit dem radikalen
Burschenschafter zu Anfang der dreißiger Jahre eine bare Unmöglichkeit ge¬
wesen wäre; aber der Grnndtrieb, in der Gestalt des Helden wie in dem ganzen
Drama, ist die theatralische Großmannssucht, das natnrlose Pathos, die re-
flektirte Überspanntheit, die, um mit Dulkschen Worten zu reden, Erfindungen
wie Gestalten vor der Blütezeit verdirbt. Der Pose dieser Art von Genialität
hat aber Dult selbst in seinen reifern Schöpfungen kaum je zu entsagen ver¬
mocht. Auch wo er nicht Tendenzdichter im engsten Sinne des Wortes ist,
entfaltet sich die poetische Frucht aus einem von außen her gegebnen Frucht¬
knoten, ein Vorgang, der in der Natur unmöglich, in der Kunst leider nur
zu häufig ist. Nicht aus einem Eindruck, einer Mitempfindung, einer An¬
schauung des Lebens, sondern ans einem Niederschlag der Lektüre, der Mode¬
doktrin, der Tagesstimmnng, der Augenblicksdebatte hervorgehend, entbehrt
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[0627] Albert Dult Lebens, wie von echter künstlerischer Belebung jeder Handlung und Gestalt gleich weit entfernt ist. Und weiter ist es ein alter, hundertmal erörterter und widerlegter Irrtum, der über Grabbe und Grabbes Schule auch in Ziels geistvoller Studie wieder auftaucht: „Shakespeare war der Gott, zu dein diese Kraftdramatiker Grabbescher Couleur beteten, der unglückliche Heinrich von Kleist ihr irdischer Schutzpatron, dem sie nacheiferten." Auf Shakespeare und Heinrich von Kleist durften sich in späterer Zeit Hebbel und Otto Ludwig, aber nicht Grabbe, nicht Dult, kaum Georg Büchner beziehen. Es mag sein, daß auch die Männer der Grabbischen Schule wähnten, die dramatische Kunst mit realem Leben zu erfüllen, es war gewiß, daß sie, um die Form aller Weichlichkeit zu entkleiden, „lieber dem Hyperoriginellen die ganze Hand als der konventionellen Phrase auch nnr den kleinen Finger darreichten" (obschon gerade Dult sichtlich sehr stark unter der Herrschaft nicht einer konventionellen, aber einer modischen Phrase stand) — das alles hebt den geradezu unge¬ heuern Unterschied nicht auf, der zwischen der echten Nachfolge Kleists und der Geniedrnmatik auf den Wegen Grabbes waltet. Mit Shakespeare hat die letztere eigentlich gar nichts zu thun, es sind reine Äußerlichkeiten, die die flachen und tendenziösen Kritiker der dreißiger Jahre verleiteten, in jeder zu¬ gleich natnrlosen und formlosen Scheingenialität Shakespeares Geist oder Vor¬ bild zu spüren. Für Kleist mag Dult ein tieferes Verständnis und eine reinere Teilnahme gehabt haben als Grabbe, aber man braucht nur Kleists Erstlingsdrama „Die Familie Schrvffenstein," das in aller Phantastik und Gewaltsamkeit noch zahlreiche und tiefe Wurzeln in dem echten Boden der Natur hat, mit dem renommistischen, durch und durch crgrübelten „Orla" Dulks zu vergleichen, um den Abstand zu sehen. Nicht als ob es der dekla¬ matorisch anfgebauschteu sentimentalen Sinnlichkeit des Orla an einzelnen Prachtvollen Bildern und glücklich ausgedrückten Einfällen fehlte, nicht als ob die wunderliche Verbindung des dithyrambischen Don Juan mit dem radikalen Burschenschafter zu Anfang der dreißiger Jahre eine bare Unmöglichkeit ge¬ wesen wäre; aber der Grnndtrieb, in der Gestalt des Helden wie in dem ganzen Drama, ist die theatralische Großmannssucht, das natnrlose Pathos, die re- flektirte Überspanntheit, die, um mit Dulkschen Worten zu reden, Erfindungen wie Gestalten vor der Blütezeit verdirbt. Der Pose dieser Art von Genialität hat aber Dult selbst in seinen reifern Schöpfungen kaum je zu entsagen ver¬ mocht. Auch wo er nicht Tendenzdichter im engsten Sinne des Wortes ist, entfaltet sich die poetische Frucht aus einem von außen her gegebnen Frucht¬ knoten, ein Vorgang, der in der Natur unmöglich, in der Kunst leider nur zu häufig ist. Nicht aus einem Eindruck, einer Mitempfindung, einer An¬ schauung des Lebens, sondern ans einem Niederschlag der Lektüre, der Mode¬ doktrin, der Tagesstimmnng, der Augenblicksdebatte hervorgehend, entbehrt beinahe die ganze Richtung der Poesie, von der Dult angezogen wurde, zwar

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/627>, abgerufen am 30.07.2024.