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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Line französische Hochschule für Staatswissenschaften

durch die Ereignisse im In- und Auslande aufgeworfen werden, diese nach
ausführlicher, schriftlicher Bearbeitung durch ein Mitglied. Die litterarischen
Hilfsmittel und Anregungen sind in der reichhaltigen Bibliothek und in den
mit einer guten Auswahl französischer, deutscher und englischer Tagesblätter
und Zeitschriften ausgestatteten Leseräumen vorhanden. So behandelt man
vielleicht heute die verfassungsmäßige Stellung des Senats, ein andermal die
Auslieferungsverträge zwischen Frankreich und andern Ländern, oder es werden
vergleichende Betrachtungen angestellt über die Entwicklung der neueren
Gesetzgebung, z. B. auf dem Gebiete des Arbeiterschutzes. Bei dem sonst so
stark in sich gekehrten Blick der Franzosen verdient hervorgehoben zu werden,
daß gerade auf den Vergleich mit dem Auslande Wert gelegt wird. Das
setzt auch die in Frankreich so seltene Kenntnis fremder Sprachen, in
erster Reihe natürlich des Deutschen und des Englischen, voraus. Für beide
Sprachen sind besondre Lehrgänge eingerichtet, und in den Leseräumen werden
die aufliegenden ausländischen Blätter eifrig benutzt. Bezeichnend ist eine
Äußerung, die ein alter Student der Hochschule, der sonst aufs entschiedenste
seine Nation für die erste der Welt zu erklären pflegte, sich im Eifer des Ge¬
sprächs entschlüpfen ließ. Er sagte etwa: Das Jahr 1870 ist für uns eine
bittre Lehre gewesen, daß bei uns nicht alles zum besten und draußen nicht
alles schlecht bestellt ist. Das ist sicherlich eine bemerkenswerte Art von
"neuem Geist" in dem Frankreich der Jahrhundertwende. Das Gefühl ihres
eigenartigen Geistes lebt denn auch in der ganzen Hochschule. Ihm lieh vor
einigen Monaten Albert Sorel Worte, als er am Tage des fünfundzwanzig¬
jährigen Stiftungsfestes dem Begründer und Leiter der Anstalt, Emile Boutiny,
zurief: Es ist keiner unter uns, der sagen könnte, er wäre ohne Sie geworden,
was er ist.

Gerade an einer Lehrstätte wie dieser ist es ganz besonders zu schätzen,
wenn sie sich von allem Chauvinismus frei hält. Die Hochschule entzieht sich
aber auch dem Einfluß des Parteigeistes; jeder politische Standpunkt darf sich
frei äußern. Diese unabhängige Stellung verdankt sie ihrer privaten Stellung
und ihrer finanziellen Selbständigkeit, die jede staatliche Unterstützung über¬
flüssig macht und damit auch den Einfluß der wechselnden Regierungen aus¬
schließt. In der Praxis hat das ja am Ende jetzt noch wenig zu bedeuten,
es kann aber wichtig werden, so bald einmal eine extreme Richtung dauernd
ans Ruder kommt, die sich mit allen Mitteln fest zu setzen und im Sattel zu
halten sucht. Jedenfalls verleiht diese Unabhängigkeit der Hochschule in den
Augen der Franzosen ein wirksames Relief. Ihre Einkünfte stammen, wie hier
beiläufig bemerkt sei, teils aus den zahlreichen und zum Teil bedeutenden
Stiftungen, teils aus der Einschreibegebühr der Studenten, die jährlich drei¬
hundert Francs beträgt.

Irgend welche Zeugnisse über wissenschaftliche Vorbildung werden beim


Line französische Hochschule für Staatswissenschaften

durch die Ereignisse im In- und Auslande aufgeworfen werden, diese nach
ausführlicher, schriftlicher Bearbeitung durch ein Mitglied. Die litterarischen
Hilfsmittel und Anregungen sind in der reichhaltigen Bibliothek und in den
mit einer guten Auswahl französischer, deutscher und englischer Tagesblätter
und Zeitschriften ausgestatteten Leseräumen vorhanden. So behandelt man
vielleicht heute die verfassungsmäßige Stellung des Senats, ein andermal die
Auslieferungsverträge zwischen Frankreich und andern Ländern, oder es werden
vergleichende Betrachtungen angestellt über die Entwicklung der neueren
Gesetzgebung, z. B. auf dem Gebiete des Arbeiterschutzes. Bei dem sonst so
stark in sich gekehrten Blick der Franzosen verdient hervorgehoben zu werden,
daß gerade auf den Vergleich mit dem Auslande Wert gelegt wird. Das
setzt auch die in Frankreich so seltene Kenntnis fremder Sprachen, in
erster Reihe natürlich des Deutschen und des Englischen, voraus. Für beide
Sprachen sind besondre Lehrgänge eingerichtet, und in den Leseräumen werden
die aufliegenden ausländischen Blätter eifrig benutzt. Bezeichnend ist eine
Äußerung, die ein alter Student der Hochschule, der sonst aufs entschiedenste
seine Nation für die erste der Welt zu erklären pflegte, sich im Eifer des Ge¬
sprächs entschlüpfen ließ. Er sagte etwa: Das Jahr 1870 ist für uns eine
bittre Lehre gewesen, daß bei uns nicht alles zum besten und draußen nicht
alles schlecht bestellt ist. Das ist sicherlich eine bemerkenswerte Art von
„neuem Geist" in dem Frankreich der Jahrhundertwende. Das Gefühl ihres
eigenartigen Geistes lebt denn auch in der ganzen Hochschule. Ihm lieh vor
einigen Monaten Albert Sorel Worte, als er am Tage des fünfundzwanzig¬
jährigen Stiftungsfestes dem Begründer und Leiter der Anstalt, Emile Boutiny,
zurief: Es ist keiner unter uns, der sagen könnte, er wäre ohne Sie geworden,
was er ist.

Gerade an einer Lehrstätte wie dieser ist es ganz besonders zu schätzen,
wenn sie sich von allem Chauvinismus frei hält. Die Hochschule entzieht sich
aber auch dem Einfluß des Parteigeistes; jeder politische Standpunkt darf sich
frei äußern. Diese unabhängige Stellung verdankt sie ihrer privaten Stellung
und ihrer finanziellen Selbständigkeit, die jede staatliche Unterstützung über¬
flüssig macht und damit auch den Einfluß der wechselnden Regierungen aus¬
schließt. In der Praxis hat das ja am Ende jetzt noch wenig zu bedeuten,
es kann aber wichtig werden, so bald einmal eine extreme Richtung dauernd
ans Ruder kommt, die sich mit allen Mitteln fest zu setzen und im Sattel zu
halten sucht. Jedenfalls verleiht diese Unabhängigkeit der Hochschule in den
Augen der Franzosen ein wirksames Relief. Ihre Einkünfte stammen, wie hier
beiläufig bemerkt sei, teils aus den zahlreichen und zum Teil bedeutenden
Stiftungen, teils aus der Einschreibegebühr der Studenten, die jährlich drei¬
hundert Francs beträgt.

Irgend welche Zeugnisse über wissenschaftliche Vorbildung werden beim


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[0610] Line französische Hochschule für Staatswissenschaften durch die Ereignisse im In- und Auslande aufgeworfen werden, diese nach ausführlicher, schriftlicher Bearbeitung durch ein Mitglied. Die litterarischen Hilfsmittel und Anregungen sind in der reichhaltigen Bibliothek und in den mit einer guten Auswahl französischer, deutscher und englischer Tagesblätter und Zeitschriften ausgestatteten Leseräumen vorhanden. So behandelt man vielleicht heute die verfassungsmäßige Stellung des Senats, ein andermal die Auslieferungsverträge zwischen Frankreich und andern Ländern, oder es werden vergleichende Betrachtungen angestellt über die Entwicklung der neueren Gesetzgebung, z. B. auf dem Gebiete des Arbeiterschutzes. Bei dem sonst so stark in sich gekehrten Blick der Franzosen verdient hervorgehoben zu werden, daß gerade auf den Vergleich mit dem Auslande Wert gelegt wird. Das setzt auch die in Frankreich so seltene Kenntnis fremder Sprachen, in erster Reihe natürlich des Deutschen und des Englischen, voraus. Für beide Sprachen sind besondre Lehrgänge eingerichtet, und in den Leseräumen werden die aufliegenden ausländischen Blätter eifrig benutzt. Bezeichnend ist eine Äußerung, die ein alter Student der Hochschule, der sonst aufs entschiedenste seine Nation für die erste der Welt zu erklären pflegte, sich im Eifer des Ge¬ sprächs entschlüpfen ließ. Er sagte etwa: Das Jahr 1870 ist für uns eine bittre Lehre gewesen, daß bei uns nicht alles zum besten und draußen nicht alles schlecht bestellt ist. Das ist sicherlich eine bemerkenswerte Art von „neuem Geist" in dem Frankreich der Jahrhundertwende. Das Gefühl ihres eigenartigen Geistes lebt denn auch in der ganzen Hochschule. Ihm lieh vor einigen Monaten Albert Sorel Worte, als er am Tage des fünfundzwanzig¬ jährigen Stiftungsfestes dem Begründer und Leiter der Anstalt, Emile Boutiny, zurief: Es ist keiner unter uns, der sagen könnte, er wäre ohne Sie geworden, was er ist. Gerade an einer Lehrstätte wie dieser ist es ganz besonders zu schätzen, wenn sie sich von allem Chauvinismus frei hält. Die Hochschule entzieht sich aber auch dem Einfluß des Parteigeistes; jeder politische Standpunkt darf sich frei äußern. Diese unabhängige Stellung verdankt sie ihrer privaten Stellung und ihrer finanziellen Selbständigkeit, die jede staatliche Unterstützung über¬ flüssig macht und damit auch den Einfluß der wechselnden Regierungen aus¬ schließt. In der Praxis hat das ja am Ende jetzt noch wenig zu bedeuten, es kann aber wichtig werden, so bald einmal eine extreme Richtung dauernd ans Ruder kommt, die sich mit allen Mitteln fest zu setzen und im Sattel zu halten sucht. Jedenfalls verleiht diese Unabhängigkeit der Hochschule in den Augen der Franzosen ein wirksames Relief. Ihre Einkünfte stammen, wie hier beiläufig bemerkt sei, teils aus den zahlreichen und zum Teil bedeutenden Stiftungen, teils aus der Einschreibegebühr der Studenten, die jährlich drei¬ hundert Francs beträgt. Irgend welche Zeugnisse über wissenschaftliche Vorbildung werden beim

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/610>, abgerufen am 29.07.2024.