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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

sätzlich als große Sünde und schweres Verbrechen aufgefaßt werden müssen,
und auch in unserm Prozeßverfahren ist selbstverständlich die Heiligkeit des
gerichtlichen Eides anerkannt. Verblüffend ist es deshalb, daß wir nicht
einmal diesen Grundsatz überall festgehalten zu haben scheinen und unser
Verfahren in nicht seltnen Fällen der Heiligkeit des Eides geradezu spottet.
Als solcher Spott ist es anzusehen, wenn das Gesetz den Richter nötigt, einen
Eid abzunehmen, der nach seiner festen Überzeugung ein Meineid sein muß.
Wenn kein besondres gesetzliches Hindernis entgegensteht, so müssen die Zeilgen
im Strafprozeß vereidigt werden, auch wenn der Richter dem Zeugnis wegen
seiner Unglaubwürdigkeit nicht den geringsten Wert beilegt. Der Richter wird
damit ganz zwecklos zu einer Mitwirkung bei Begehung eines sündhaften Ver¬
brechens gezwungen. Darin liegt für einen gewissenhaften Richter eine harte
Zumutung, es liegt aber auch darin eine Entheiligung des Eides, eine Ver¬
flachung seiner Auffassung, eine Schädigung des Volksbewußtseins. Man wird
sich nicht wundern können, daß es bei solchen Zuständen bei der Eides¬
abnahme häusig an der nötigen Feierlichkeit gebricht, und noch heutzu¬
tage im .Zivilprozeß jedermann genötigt sein kann, dem Gegner einen Eid
zuzuschieben, den dieser ohne Verletzung der Eidespflicht nicht leisten darf.
Glauben doch viele Leute ihr Gewissen am besten zu wahren, wenn sie sich
von der Eidesleistung möglichst fern halten; sie schieben daher den Eid zurück,
sie wollen nicht die Wahrheit beschwören und ziehen es vor, den Gegner der
Versuchung auszusetzen, einen Meineid zu leisten. Dabei kommt es niemandem
zum Bewußtsein, daß eine wahrhaft christliche Gesinnung die unbedingte Pflicht
auferlegt, auch vom Nächsten die Sünde möglichst fernzuhalten. Es sind rohe
Gesetze, die den Richter, der die Wahrheit durchschaut, oder die Partei, die
die Wahrheit aus eigner Erfahrung kennt, dazu nötigen, die Hand zu einer
Meineidsleistung zu bieten. Die Partei dürfte mit der Eideszuschiebuug über¬
haupt nichts zu thun haben. Wer weiß, daß er ein Darlehn zurückgezahlt
hat und von dem Gegner, der es ihm bestreite, einen Eid fordert, daß er
nicht zurückgezahlt habe, verlangt doch wissentlich einen Meineid. Nur der
Richter, dem der wahre Sachverhalt unbekannt ist, kann ohne Gewissensver¬
letzung den Eid fordern, aber auch der Richter müßte in der Lage sein, das
Gebot zu achten und den Namen Gottes nicht unnütz anrufen zu lassen. Nur
wenn der Eid nötig und geeignet erscheint, Zweifel zu heben und die Wahr¬
heit ans Licht zu bringen, dürfte er abgenommen werden. Die Gleichheit vor
dem Gesetze fordert, daß jedermanns Aussage völlige Glaubwürdigkeit durch
eidliche Erhärtung erhält; wenn aber diese nichts nützt, wenn trotzdem der
Aussage kein Glaube beizumessen ist, sollte auch der Schwur unterbleiben.
Die unnützen Eidesleistungen stumpfen schließlich auch das Gefühl der Richter
so ab, daß sie aufhören, für die möglichste Verhütung von Meineiden eine
Verantwortung zu übernehmen. Ein Beispiel wird genügen. Ein Ange-


Grmzlwtcn III 1896 74
Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

sätzlich als große Sünde und schweres Verbrechen aufgefaßt werden müssen,
und auch in unserm Prozeßverfahren ist selbstverständlich die Heiligkeit des
gerichtlichen Eides anerkannt. Verblüffend ist es deshalb, daß wir nicht
einmal diesen Grundsatz überall festgehalten zu haben scheinen und unser
Verfahren in nicht seltnen Fällen der Heiligkeit des Eides geradezu spottet.
Als solcher Spott ist es anzusehen, wenn das Gesetz den Richter nötigt, einen
Eid abzunehmen, der nach seiner festen Überzeugung ein Meineid sein muß.
Wenn kein besondres gesetzliches Hindernis entgegensteht, so müssen die Zeilgen
im Strafprozeß vereidigt werden, auch wenn der Richter dem Zeugnis wegen
seiner Unglaubwürdigkeit nicht den geringsten Wert beilegt. Der Richter wird
damit ganz zwecklos zu einer Mitwirkung bei Begehung eines sündhaften Ver¬
brechens gezwungen. Darin liegt für einen gewissenhaften Richter eine harte
Zumutung, es liegt aber auch darin eine Entheiligung des Eides, eine Ver¬
flachung seiner Auffassung, eine Schädigung des Volksbewußtseins. Man wird
sich nicht wundern können, daß es bei solchen Zuständen bei der Eides¬
abnahme häusig an der nötigen Feierlichkeit gebricht, und noch heutzu¬
tage im .Zivilprozeß jedermann genötigt sein kann, dem Gegner einen Eid
zuzuschieben, den dieser ohne Verletzung der Eidespflicht nicht leisten darf.
Glauben doch viele Leute ihr Gewissen am besten zu wahren, wenn sie sich
von der Eidesleistung möglichst fern halten; sie schieben daher den Eid zurück,
sie wollen nicht die Wahrheit beschwören und ziehen es vor, den Gegner der
Versuchung auszusetzen, einen Meineid zu leisten. Dabei kommt es niemandem
zum Bewußtsein, daß eine wahrhaft christliche Gesinnung die unbedingte Pflicht
auferlegt, auch vom Nächsten die Sünde möglichst fernzuhalten. Es sind rohe
Gesetze, die den Richter, der die Wahrheit durchschaut, oder die Partei, die
die Wahrheit aus eigner Erfahrung kennt, dazu nötigen, die Hand zu einer
Meineidsleistung zu bieten. Die Partei dürfte mit der Eideszuschiebuug über¬
haupt nichts zu thun haben. Wer weiß, daß er ein Darlehn zurückgezahlt
hat und von dem Gegner, der es ihm bestreite, einen Eid fordert, daß er
nicht zurückgezahlt habe, verlangt doch wissentlich einen Meineid. Nur der
Richter, dem der wahre Sachverhalt unbekannt ist, kann ohne Gewissensver¬
letzung den Eid fordern, aber auch der Richter müßte in der Lage sein, das
Gebot zu achten und den Namen Gottes nicht unnütz anrufen zu lassen. Nur
wenn der Eid nötig und geeignet erscheint, Zweifel zu heben und die Wahr¬
heit ans Licht zu bringen, dürfte er abgenommen werden. Die Gleichheit vor
dem Gesetze fordert, daß jedermanns Aussage völlige Glaubwürdigkeit durch
eidliche Erhärtung erhält; wenn aber diese nichts nützt, wenn trotzdem der
Aussage kein Glaube beizumessen ist, sollte auch der Schwur unterbleiben.
Die unnützen Eidesleistungen stumpfen schließlich auch das Gefühl der Richter
so ab, daß sie aufhören, für die möglichste Verhütung von Meineiden eine
Verantwortung zu übernehmen. Ein Beispiel wird genügen. Ein Ange-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/593>, abgerufen am 27.11.2024.