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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

Einer der obersten leitenden Grundsätze für jede Rechtspflege sollte es
sein, jeden Richter besonders für seinen Urteilsspruch mit der vollen Verant¬
wortung vor sich selbst und vor seinen Mitmenschen zu belasten. Dieser
Grundsatz hat in unsrer Strafrechtspflege nicht nur keine volle Beachtung
gefunden, es ist auch wiederholt geradezu dagegen verstoßen worden. So
haben die Geschwornen nur über die Schuldfrage zu entscheiden, während die
Strafzumessung von dem aus Berufsrichtern bestehenden Gerichtshof abhängt.
Diese Trennung entlastet aber sowohl die Geschwornen als auch den Gerichts¬
hof von der vollen Verantwortung. Der Gerichtshof ist meist gewillt, der
Ansicht der Geschwornen auch innerhalb des weiten Strafrahmens bei der
Strafzumessung Rechnung zu tragen; da ihm jedoch die Ansichten der
Geschwornen über die für die Strafzumessung wichtigen Nebenumstände völlig
unbekannt bleiben müssen, so besteht sein Entgegenkommen häufig darin, daß
er in dem einen Falle von dem niedrigsten, in dem andern Falle von dem
höchsten zulässigen Maß der Strafe Abstand nimmt, und deshalb oft genng die
Vergehen durch das Urteil nicht richtig charakterisirt erscheinen. Der für die
meisten Vergehen zulässige Strafrahmen beweist, daß zwischen den Verstößen
gegen dasselbe Gesetz, zwischen Schuld und Schuld, gleichviel ob mildernde
Umstände vorliegen oder ausgeschlossen sind, ein großer Unterschied ist. Die
Beurteilung dieses Unterschieds kommt in der Strafzumessung zum Ausdruck
und läßt sich auch logisch von der Schuldfrage nicht so trennen, daß man zu
ihrer Entscheidung einen andern Richter als den über die Schuldfrage für
berufen halten dürfte.

Mit besondrer Fürsorge hat der Gesetzgeber auf die Geheimhaltung nicht
nur der Beratung, sondern auch der Stimmabgabe der einzelnen Schöffen,
Geschwornen und Richter Bedacht genommen. Sie ist noch heute in den
meisten Kulturstaaten aufrecht erhalten. Dabei darf aber nicht übersehen
Werden, daß da, wo abweichend von unserm Verfahren Einstimmigkeit des
Spruchs gefordert wird, im Grunde genommen auch keine geheime Stimm¬
abgabe vorliegt. Die Geheimhaltung hat sicherlich manche gute Seiten, diese
fallen aber gegenüber den Nachteilen kaum ins Gewicht, denn sie ist das beste
Mittel, die Verantwortung des Richters zu verringern. Sie entlastet jeden
einzelnen Richter völlig von seiner Verantwortung vor der öffentlichen Meinung
und macht so manche Fehlsprüche erklärlich, denn nnr wenige Menschen können
eine solche UnVerantwortlichkeit ertragen. Ein gewissenhafter Mann darf sich
auch vor der öffentlichen Meinung gegen seine Überzeugung nicht beugen und
muß ihr zu trotzen verstehen, wenn er sich ihr aber völlig entzieht, so wird
er der schweren Gefahr ausgesetzt, seine Überzeugungstreue nicht auf die richtige
Probe zu stellen und in ein voreingenommnes Urteil zu verfallen. Es kann
auch kaum fraglich sein, daß das Hervortreten jedes einzelnen Richters vor
die Öffentlichkeit die Spannkraft seiner Aufmerksamkeit bedeutend stärken muß;


Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

Einer der obersten leitenden Grundsätze für jede Rechtspflege sollte es
sein, jeden Richter besonders für seinen Urteilsspruch mit der vollen Verant¬
wortung vor sich selbst und vor seinen Mitmenschen zu belasten. Dieser
Grundsatz hat in unsrer Strafrechtspflege nicht nur keine volle Beachtung
gefunden, es ist auch wiederholt geradezu dagegen verstoßen worden. So
haben die Geschwornen nur über die Schuldfrage zu entscheiden, während die
Strafzumessung von dem aus Berufsrichtern bestehenden Gerichtshof abhängt.
Diese Trennung entlastet aber sowohl die Geschwornen als auch den Gerichts¬
hof von der vollen Verantwortung. Der Gerichtshof ist meist gewillt, der
Ansicht der Geschwornen auch innerhalb des weiten Strafrahmens bei der
Strafzumessung Rechnung zu tragen; da ihm jedoch die Ansichten der
Geschwornen über die für die Strafzumessung wichtigen Nebenumstände völlig
unbekannt bleiben müssen, so besteht sein Entgegenkommen häufig darin, daß
er in dem einen Falle von dem niedrigsten, in dem andern Falle von dem
höchsten zulässigen Maß der Strafe Abstand nimmt, und deshalb oft genng die
Vergehen durch das Urteil nicht richtig charakterisirt erscheinen. Der für die
meisten Vergehen zulässige Strafrahmen beweist, daß zwischen den Verstößen
gegen dasselbe Gesetz, zwischen Schuld und Schuld, gleichviel ob mildernde
Umstände vorliegen oder ausgeschlossen sind, ein großer Unterschied ist. Die
Beurteilung dieses Unterschieds kommt in der Strafzumessung zum Ausdruck
und läßt sich auch logisch von der Schuldfrage nicht so trennen, daß man zu
ihrer Entscheidung einen andern Richter als den über die Schuldfrage für
berufen halten dürfte.

Mit besondrer Fürsorge hat der Gesetzgeber auf die Geheimhaltung nicht
nur der Beratung, sondern auch der Stimmabgabe der einzelnen Schöffen,
Geschwornen und Richter Bedacht genommen. Sie ist noch heute in den
meisten Kulturstaaten aufrecht erhalten. Dabei darf aber nicht übersehen
Werden, daß da, wo abweichend von unserm Verfahren Einstimmigkeit des
Spruchs gefordert wird, im Grunde genommen auch keine geheime Stimm¬
abgabe vorliegt. Die Geheimhaltung hat sicherlich manche gute Seiten, diese
fallen aber gegenüber den Nachteilen kaum ins Gewicht, denn sie ist das beste
Mittel, die Verantwortung des Richters zu verringern. Sie entlastet jeden
einzelnen Richter völlig von seiner Verantwortung vor der öffentlichen Meinung
und macht so manche Fehlsprüche erklärlich, denn nnr wenige Menschen können
eine solche UnVerantwortlichkeit ertragen. Ein gewissenhafter Mann darf sich
auch vor der öffentlichen Meinung gegen seine Überzeugung nicht beugen und
muß ihr zu trotzen verstehen, wenn er sich ihr aber völlig entzieht, so wird
er der schweren Gefahr ausgesetzt, seine Überzeugungstreue nicht auf die richtige
Probe zu stellen und in ein voreingenommnes Urteil zu verfallen. Es kann
auch kaum fraglich sein, daß das Hervortreten jedes einzelnen Richters vor
die Öffentlichkeit die Spannkraft seiner Aufmerksamkeit bedeutend stärken muß;


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/589>, abgerufen am 28.11.2024.