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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg
Richard Goldschmidt von 1

edermann ist sich der nächste Freund und doch nur ein entfernter
Bekannter. Den Völkern ergeht es aber nicht anders als den
einzelnen Menschen. Jedes Volk liebt sich selbst am meisten,
schätzt und ehrt sich hoch, überhäuft sich mit Schmeicheleien und
versteht es auch beim besten Willen nur sehr selten, sich die
Wahrheit zu sagen. Jhering, der sich um Wesen und Zweck des Rechts so
viel bemüht und sich dabei nicht nur den Rechtsgelehrten, sondern allen Ge¬
bildeten zu nähern vermocht hat, will uns in seiner Einleitung zur Ent¬
wicklungsgeschichte des römischen Rechts einen Spiegel vorhalten und die
Wahrheit erkennen lassen. Er sagt: "Eine rohe Zeit hat vor einer hoch¬
entwickelten einen unschätzbaren Vorzug voraus: sie kennt keine Prinzipien.
Wer aus der Geschichte den Unfug kennt, den die Prinzipien angerichtet haben
und uuter unsern Augen noch täglich anrichten, wird es begreifen, daß eine
Zeit, die ihrer entbehrte und sich bloß auf die gesunde, das heißt lediglich den
Praktischen Zwecken sich zukehrende Vernunft angewiesen sah, das, was ihr
not that, besser zu beschaffen imstande war, als es eine hochentwickelte vermag,
deren geistiges Auge durch Prinzipien umflort ist."

Diese Sätze Iherings haben den verführerisch schmeichelhaften Sinn, daß
sie unsern geistigen Fortschritt für die Mängel unsrer Rechtsgestaltung verant¬
wortlich machen; bei der Rechtsbildung soll die Prinzipientreue der natur¬
wüchsigen Schaffenskraft hinderlich, dagegen unsre hohe Entwicklung der schäd¬
lichen Prinzipientreue förderlich sein. Die Erkenntnis eines Übels ist gewiß
die schwierigste Strecke auf dem Wege zu seiner Heilung. Jhering hat aber
nicht das Übel richtig erkannt, sondern nur das allgemein verbreitete Vor-


Grenzbotci, III 1896 73


Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg
Richard Goldschmidt von 1

edermann ist sich der nächste Freund und doch nur ein entfernter
Bekannter. Den Völkern ergeht es aber nicht anders als den
einzelnen Menschen. Jedes Volk liebt sich selbst am meisten,
schätzt und ehrt sich hoch, überhäuft sich mit Schmeicheleien und
versteht es auch beim besten Willen nur sehr selten, sich die
Wahrheit zu sagen. Jhering, der sich um Wesen und Zweck des Rechts so
viel bemüht und sich dabei nicht nur den Rechtsgelehrten, sondern allen Ge¬
bildeten zu nähern vermocht hat, will uns in seiner Einleitung zur Ent¬
wicklungsgeschichte des römischen Rechts einen Spiegel vorhalten und die
Wahrheit erkennen lassen. Er sagt: „Eine rohe Zeit hat vor einer hoch¬
entwickelten einen unschätzbaren Vorzug voraus: sie kennt keine Prinzipien.
Wer aus der Geschichte den Unfug kennt, den die Prinzipien angerichtet haben
und uuter unsern Augen noch täglich anrichten, wird es begreifen, daß eine
Zeit, die ihrer entbehrte und sich bloß auf die gesunde, das heißt lediglich den
Praktischen Zwecken sich zukehrende Vernunft angewiesen sah, das, was ihr
not that, besser zu beschaffen imstande war, als es eine hochentwickelte vermag,
deren geistiges Auge durch Prinzipien umflort ist."

Diese Sätze Iherings haben den verführerisch schmeichelhaften Sinn, daß
sie unsern geistigen Fortschritt für die Mängel unsrer Rechtsgestaltung verant¬
wortlich machen; bei der Rechtsbildung soll die Prinzipientreue der natur¬
wüchsigen Schaffenskraft hinderlich, dagegen unsre hohe Entwicklung der schäd¬
lichen Prinzipientreue förderlich sein. Die Erkenntnis eines Übels ist gewiß
die schwierigste Strecke auf dem Wege zu seiner Heilung. Jhering hat aber
nicht das Übel richtig erkannt, sondern nur das allgemein verbreitete Vor-


Grenzbotci, III 1896 73
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[0585] [Abbildung] Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg Richard Goldschmidt von 1 edermann ist sich der nächste Freund und doch nur ein entfernter Bekannter. Den Völkern ergeht es aber nicht anders als den einzelnen Menschen. Jedes Volk liebt sich selbst am meisten, schätzt und ehrt sich hoch, überhäuft sich mit Schmeicheleien und versteht es auch beim besten Willen nur sehr selten, sich die Wahrheit zu sagen. Jhering, der sich um Wesen und Zweck des Rechts so viel bemüht und sich dabei nicht nur den Rechtsgelehrten, sondern allen Ge¬ bildeten zu nähern vermocht hat, will uns in seiner Einleitung zur Ent¬ wicklungsgeschichte des römischen Rechts einen Spiegel vorhalten und die Wahrheit erkennen lassen. Er sagt: „Eine rohe Zeit hat vor einer hoch¬ entwickelten einen unschätzbaren Vorzug voraus: sie kennt keine Prinzipien. Wer aus der Geschichte den Unfug kennt, den die Prinzipien angerichtet haben und uuter unsern Augen noch täglich anrichten, wird es begreifen, daß eine Zeit, die ihrer entbehrte und sich bloß auf die gesunde, das heißt lediglich den Praktischen Zwecken sich zukehrende Vernunft angewiesen sah, das, was ihr not that, besser zu beschaffen imstande war, als es eine hochentwickelte vermag, deren geistiges Auge durch Prinzipien umflort ist." Diese Sätze Iherings haben den verführerisch schmeichelhaften Sinn, daß sie unsern geistigen Fortschritt für die Mängel unsrer Rechtsgestaltung verant¬ wortlich machen; bei der Rechtsbildung soll die Prinzipientreue der natur¬ wüchsigen Schaffenskraft hinderlich, dagegen unsre hohe Entwicklung der schäd¬ lichen Prinzipientreue förderlich sein. Die Erkenntnis eines Übels ist gewiß die schwierigste Strecke auf dem Wege zu seiner Heilung. Jhering hat aber nicht das Übel richtig erkannt, sondern nur das allgemein verbreitete Vor- Grenzbotci, III 1896 73

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/585>, abgerufen am 28.11.2024.