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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Leipziger pasauillanten des achtzehnten Jahrhunderts

wie Calvin, und wie es die Vertreter der modernen Wissenschaft seit Hegel
wieder sind. Nehmen wir den Unglauben der französischen Gesellschaft hinzu,
in der sie lebte, so müssen wir bekennen, daß der Sache nach weder Rousseau,
Voltaire und die Encyklopädisten noch die deutschen Philosophen etwas neues
verkündigt haben; sie haben nur die bereits feststehende Ansicht der Gebildeten
teils in wissenschaftliche Formen gebracht, teils im Volke verbreitet. In Frank¬
reich bestand der Unterschied zwischen der Zeit Ludwigs XIV. und der Zeit
Ludwigs XV. darin, daß mau unter diesem auch drucken lassen durfte, was
unter jenem bloß gesprächsweise zu äußern erlaubt war.




Leipziger pasquillanten des achtzehnten Jahrhunderts
(Fortsetzung)

ins der interessantesten Pasquille auf Leipzig, namentlich auf
seiue damaligen Universitätszustände, verbirgt sich unter einem
Titel, unter dem niemand dergleichen sucht, weshalb es auch
selbst genauern Kennern der stadtgeschichtlichen Litteratur Leipzigs
meist unbekannt ist; es sind das die im Jahre 1795 erschienenen
"Wanderungen und Kreuzzüge durch einen Teil Deutschlands von Anselmus
Rabiosus dem Jüngern." Die Schrift besteht aus zwei Teilen, einem größern
und einem kleinern. Der Titel paßt eigentlich nur auf den ersten, größern
Teil (270 S. 8"). Dieser enthält Schilderungen aus einer ganzen Reihe
deutscher Städte, namentlich Universitätsstädte, in denen sich der Verfasser
längere oder kürzere Zeit aufgehalten hat, wie Nürnberg, Erlangen, Bam-
berg, Coburg, Erfurt, Jena, Halle, Dessau, Leipzig, Meißen und Dresden;
der größte Abschnitt, fast die Hälfte (S. 141 bis 270) ist Dresden gewidmet.
Der ganze zweite Teil aber behandelt ausschließlich die Leipziger Universität,
namentlich die Studentenschaft, und giebt besonders von den Kreisen, die
wir heute als "gelehrtes Proletariat" bezeichnen, und die wir gewöhnlich
geneigt siud sür eine Erscheinung der jüngsten Zeit zu halten, ein Bild, das
grauenvoll ist, und das, wenn auch manches darin übertrieben sein mag und
vereinzelte Vorkommnisse verallgemeinert sein mögen, doch zeigt, daß das "ge¬
lehrte Proletariat" damals viel größer war und in viel jämmerlichem und
unwürdigem Zustünden lebte als heute. Freilich mag es in Sachsen und in
Leipzig besonders schlimm gewesen sein. "Wer sich einen Begriff davon machen


Leipziger pasauillanten des achtzehnten Jahrhunderts

wie Calvin, und wie es die Vertreter der modernen Wissenschaft seit Hegel
wieder sind. Nehmen wir den Unglauben der französischen Gesellschaft hinzu,
in der sie lebte, so müssen wir bekennen, daß der Sache nach weder Rousseau,
Voltaire und die Encyklopädisten noch die deutschen Philosophen etwas neues
verkündigt haben; sie haben nur die bereits feststehende Ansicht der Gebildeten
teils in wissenschaftliche Formen gebracht, teils im Volke verbreitet. In Frank¬
reich bestand der Unterschied zwischen der Zeit Ludwigs XIV. und der Zeit
Ludwigs XV. darin, daß mau unter diesem auch drucken lassen durfte, was
unter jenem bloß gesprächsweise zu äußern erlaubt war.




Leipziger pasquillanten des achtzehnten Jahrhunderts
(Fortsetzung)

ins der interessantesten Pasquille auf Leipzig, namentlich auf
seiue damaligen Universitätszustände, verbirgt sich unter einem
Titel, unter dem niemand dergleichen sucht, weshalb es auch
selbst genauern Kennern der stadtgeschichtlichen Litteratur Leipzigs
meist unbekannt ist; es sind das die im Jahre 1795 erschienenen
„Wanderungen und Kreuzzüge durch einen Teil Deutschlands von Anselmus
Rabiosus dem Jüngern." Die Schrift besteht aus zwei Teilen, einem größern
und einem kleinern. Der Titel paßt eigentlich nur auf den ersten, größern
Teil (270 S. 8"). Dieser enthält Schilderungen aus einer ganzen Reihe
deutscher Städte, namentlich Universitätsstädte, in denen sich der Verfasser
längere oder kürzere Zeit aufgehalten hat, wie Nürnberg, Erlangen, Bam-
berg, Coburg, Erfurt, Jena, Halle, Dessau, Leipzig, Meißen und Dresden;
der größte Abschnitt, fast die Hälfte (S. 141 bis 270) ist Dresden gewidmet.
Der ganze zweite Teil aber behandelt ausschließlich die Leipziger Universität,
namentlich die Studentenschaft, und giebt besonders von den Kreisen, die
wir heute als „gelehrtes Proletariat" bezeichnen, und die wir gewöhnlich
geneigt siud sür eine Erscheinung der jüngsten Zeit zu halten, ein Bild, das
grauenvoll ist, und das, wenn auch manches darin übertrieben sein mag und
vereinzelte Vorkommnisse verallgemeinert sein mögen, doch zeigt, daß das „ge¬
lehrte Proletariat" damals viel größer war und in viel jämmerlichem und
unwürdigem Zustünden lebte als heute. Freilich mag es in Sachsen und in
Leipzig besonders schlimm gewesen sein. „Wer sich einen Begriff davon machen


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[0566] Leipziger pasauillanten des achtzehnten Jahrhunderts wie Calvin, und wie es die Vertreter der modernen Wissenschaft seit Hegel wieder sind. Nehmen wir den Unglauben der französischen Gesellschaft hinzu, in der sie lebte, so müssen wir bekennen, daß der Sache nach weder Rousseau, Voltaire und die Encyklopädisten noch die deutschen Philosophen etwas neues verkündigt haben; sie haben nur die bereits feststehende Ansicht der Gebildeten teils in wissenschaftliche Formen gebracht, teils im Volke verbreitet. In Frank¬ reich bestand der Unterschied zwischen der Zeit Ludwigs XIV. und der Zeit Ludwigs XV. darin, daß mau unter diesem auch drucken lassen durfte, was unter jenem bloß gesprächsweise zu äußern erlaubt war. Leipziger pasquillanten des achtzehnten Jahrhunderts (Fortsetzung) ins der interessantesten Pasquille auf Leipzig, namentlich auf seiue damaligen Universitätszustände, verbirgt sich unter einem Titel, unter dem niemand dergleichen sucht, weshalb es auch selbst genauern Kennern der stadtgeschichtlichen Litteratur Leipzigs meist unbekannt ist; es sind das die im Jahre 1795 erschienenen „Wanderungen und Kreuzzüge durch einen Teil Deutschlands von Anselmus Rabiosus dem Jüngern." Die Schrift besteht aus zwei Teilen, einem größern und einem kleinern. Der Titel paßt eigentlich nur auf den ersten, größern Teil (270 S. 8"). Dieser enthält Schilderungen aus einer ganzen Reihe deutscher Städte, namentlich Universitätsstädte, in denen sich der Verfasser längere oder kürzere Zeit aufgehalten hat, wie Nürnberg, Erlangen, Bam- berg, Coburg, Erfurt, Jena, Halle, Dessau, Leipzig, Meißen und Dresden; der größte Abschnitt, fast die Hälfte (S. 141 bis 270) ist Dresden gewidmet. Der ganze zweite Teil aber behandelt ausschließlich die Leipziger Universität, namentlich die Studentenschaft, und giebt besonders von den Kreisen, die wir heute als „gelehrtes Proletariat" bezeichnen, und die wir gewöhnlich geneigt siud sür eine Erscheinung der jüngsten Zeit zu halten, ein Bild, das grauenvoll ist, und das, wenn auch manches darin übertrieben sein mag und vereinzelte Vorkommnisse verallgemeinert sein mögen, doch zeigt, daß das „ge¬ lehrte Proletariat" damals viel größer war und in viel jämmerlichem und unwürdigem Zustünden lebte als heute. Freilich mag es in Sachsen und in Leipzig besonders schlimm gewesen sein. „Wer sich einen Begriff davon machen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/566>, abgerufen am 25.11.2024.