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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Elisabeth Charlotte als philosophin

le immer das Verhältnis zwischen dem aus den Thatsachen und
Zuständen hervorgehenden Volksglauben und den führenden
Denkern theoretisch und grundsätzlich bestimmt werden mag, für
den Rationalismus des vorigen Jahrhunderts steht es fest, daß
er in den Köpfen der Gebildeten schon herrschte, ehe ihn die
Gelehrten in wissenschaftlicher Form verkündigt haben. Man sieht das deut¬
lich in den Briefen der Elisabeth Charlotte von Orleans. Sie ist dem größern
Publikum bekannt als die kerndeutsche Frau am Hofe des Sonnenkönigs und
des Regenten und als die Verfasserin zahlloser Briefe (sie schrieb viele Jahre
lang täglich vier, des Sonntags manchmal zwölf), die sich durch unbedingte
Aufrichtigkeit, Temperament, Humor und derbe Natürlichkeit auszeichnen; aber
für den Geschichtsliebhaber bilden diese Briefe außerdem eine unerschöpfliche
Fundgrube wertvoller Erkenntnisse, u. a. auch der, daß um das Jahr 1700 der
Umschwung aus der Orthodoxie in den Rationalismus in ziemlich weiten
Kreisen schon vollzogen war.

Charlottens Religion war auch nach ihrem erzwungnen Übertritt zum
Katholizismus die reformirte. Wir lassen uns auf eine Darstellung ihres reli¬
giösen Lebens nicht ein und beschränken uns auf die Bemerkung, daß sie täg¬
lich die Bibel las, in dem Glauben an die Prädestination, d. h. in ihrem
Sinne an die von Gott vorherbestimmte unabänderliche Verkettung der Ereig¬
nisse, und in dem unbedingten Vertrauen auf Gott Trost in allen Drangsalen
und einen festen Halt fand, und daß sie das Wesen der Religion in Nächsten¬
liebe und Rechtschaffenheit setzte. Grundehrlich und aufrichtig, wie sie war,
lebte sie ihre Religion. Sie war hilfreich, so weit sie konnte, aber nicht im
mindesten sentimental; sie bekannte offenherzig, daß sie sich selber der Nächste
sei, daß in der Rücksicht auf ihre standesgemäßen Bedürfnisse ihre Hilfbereit¬
schaft die Grenze finden müsse, und daß sie sich durch den Gedanken an die
Leiden ihrer Mitmenschen weder den Appetit noch ein Vergnügen verderben
lasse. Streng festhaltend an den Grundsätzen einer schlicht bürgerlichen Recht¬
schaffenheit, die schön dem deutschen, geschweige denn dem französischen Adel
fremd waren, war sie die einzige Person am französischen Hofe, die nicht mehr
ausgab, als sie einnahm, ihre Lieferanten pünktlich bezahlte, auch in der größten


Grenzboten III 1896 69


Elisabeth Charlotte als philosophin

le immer das Verhältnis zwischen dem aus den Thatsachen und
Zuständen hervorgehenden Volksglauben und den führenden
Denkern theoretisch und grundsätzlich bestimmt werden mag, für
den Rationalismus des vorigen Jahrhunderts steht es fest, daß
er in den Köpfen der Gebildeten schon herrschte, ehe ihn die
Gelehrten in wissenschaftlicher Form verkündigt haben. Man sieht das deut¬
lich in den Briefen der Elisabeth Charlotte von Orleans. Sie ist dem größern
Publikum bekannt als die kerndeutsche Frau am Hofe des Sonnenkönigs und
des Regenten und als die Verfasserin zahlloser Briefe (sie schrieb viele Jahre
lang täglich vier, des Sonntags manchmal zwölf), die sich durch unbedingte
Aufrichtigkeit, Temperament, Humor und derbe Natürlichkeit auszeichnen; aber
für den Geschichtsliebhaber bilden diese Briefe außerdem eine unerschöpfliche
Fundgrube wertvoller Erkenntnisse, u. a. auch der, daß um das Jahr 1700 der
Umschwung aus der Orthodoxie in den Rationalismus in ziemlich weiten
Kreisen schon vollzogen war.

Charlottens Religion war auch nach ihrem erzwungnen Übertritt zum
Katholizismus die reformirte. Wir lassen uns auf eine Darstellung ihres reli¬
giösen Lebens nicht ein und beschränken uns auf die Bemerkung, daß sie täg¬
lich die Bibel las, in dem Glauben an die Prädestination, d. h. in ihrem
Sinne an die von Gott vorherbestimmte unabänderliche Verkettung der Ereig¬
nisse, und in dem unbedingten Vertrauen auf Gott Trost in allen Drangsalen
und einen festen Halt fand, und daß sie das Wesen der Religion in Nächsten¬
liebe und Rechtschaffenheit setzte. Grundehrlich und aufrichtig, wie sie war,
lebte sie ihre Religion. Sie war hilfreich, so weit sie konnte, aber nicht im
mindesten sentimental; sie bekannte offenherzig, daß sie sich selber der Nächste
sei, daß in der Rücksicht auf ihre standesgemäßen Bedürfnisse ihre Hilfbereit¬
schaft die Grenze finden müsse, und daß sie sich durch den Gedanken an die
Leiden ihrer Mitmenschen weder den Appetit noch ein Vergnügen verderben
lasse. Streng festhaltend an den Grundsätzen einer schlicht bürgerlichen Recht¬
schaffenheit, die schön dem deutschen, geschweige denn dem französischen Adel
fremd waren, war sie die einzige Person am französischen Hofe, die nicht mehr
ausgab, als sie einnahm, ihre Lieferanten pünktlich bezahlte, auch in der größten


Grenzboten III 1896 69
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[0553] [Abbildung] Elisabeth Charlotte als philosophin le immer das Verhältnis zwischen dem aus den Thatsachen und Zuständen hervorgehenden Volksglauben und den führenden Denkern theoretisch und grundsätzlich bestimmt werden mag, für den Rationalismus des vorigen Jahrhunderts steht es fest, daß er in den Köpfen der Gebildeten schon herrschte, ehe ihn die Gelehrten in wissenschaftlicher Form verkündigt haben. Man sieht das deut¬ lich in den Briefen der Elisabeth Charlotte von Orleans. Sie ist dem größern Publikum bekannt als die kerndeutsche Frau am Hofe des Sonnenkönigs und des Regenten und als die Verfasserin zahlloser Briefe (sie schrieb viele Jahre lang täglich vier, des Sonntags manchmal zwölf), die sich durch unbedingte Aufrichtigkeit, Temperament, Humor und derbe Natürlichkeit auszeichnen; aber für den Geschichtsliebhaber bilden diese Briefe außerdem eine unerschöpfliche Fundgrube wertvoller Erkenntnisse, u. a. auch der, daß um das Jahr 1700 der Umschwung aus der Orthodoxie in den Rationalismus in ziemlich weiten Kreisen schon vollzogen war. Charlottens Religion war auch nach ihrem erzwungnen Übertritt zum Katholizismus die reformirte. Wir lassen uns auf eine Darstellung ihres reli¬ giösen Lebens nicht ein und beschränken uns auf die Bemerkung, daß sie täg¬ lich die Bibel las, in dem Glauben an die Prädestination, d. h. in ihrem Sinne an die von Gott vorherbestimmte unabänderliche Verkettung der Ereig¬ nisse, und in dem unbedingten Vertrauen auf Gott Trost in allen Drangsalen und einen festen Halt fand, und daß sie das Wesen der Religion in Nächsten¬ liebe und Rechtschaffenheit setzte. Grundehrlich und aufrichtig, wie sie war, lebte sie ihre Religion. Sie war hilfreich, so weit sie konnte, aber nicht im mindesten sentimental; sie bekannte offenherzig, daß sie sich selber der Nächste sei, daß in der Rücksicht auf ihre standesgemäßen Bedürfnisse ihre Hilfbereit¬ schaft die Grenze finden müsse, und daß sie sich durch den Gedanken an die Leiden ihrer Mitmenschen weder den Appetit noch ein Vergnügen verderben lasse. Streng festhaltend an den Grundsätzen einer schlicht bürgerlichen Recht¬ schaffenheit, die schön dem deutschen, geschweige denn dem französischen Adel fremd waren, war sie die einzige Person am französischen Hofe, die nicht mehr ausgab, als sie einnahm, ihre Lieferanten pünktlich bezahlte, auch in der größten Grenzboten III 1896 69

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/553>, abgerufen am 01.09.2024.