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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Religion und Verbrechen

Das andre, was zugestanden werden muß, ist, daß, eben weil die religiöse
Anlage des Menschen gepflegt und ausgebildet sein will, auch innerhalb einer
höhern Neligionsstufe, z. B. des Christentums, und unabhängig vom Be¬
kenntnis alles auf die Erziehung ankommen wird, die Eltern ihren Kindern
in religiöser Hinsicht angedeihen lassen. Es bedarf keiner Bemerkung, wie
unverständig oft diese Erziehung ist, wenn überhaupt bei dem Mangel an
religiösen Interesse" in vielen Familien von einer solchen die Rede sein kann.
Wie häufig wird nur das religiöse Gefühl des Kindes geweckt, während die
Hauptaufgabe wäre, den Willen in den Dienst der Religion zu stellen! Und
wie leicht entsteht dann jene Gefühlsreligiosität, die in frommen Gefühlen
schwelgt, ohne daß das Thun den frommen Gefühlen entspräche! Ja wie groß
ist die Gefahr, daß der Gefühlsselige im entscheidenden Augenblick der Ver¬
suchung, die an ihn herantritt, unterliegt und gegen Pflicht und Gewissen
handelt, vielleicht selbst vor dein Verbrechen nicht zurückschreckt! Bei schwachen
Naturen ist der Schritt zum Verbrechen nicht so weit, wie eine oberflächliche
Beurteilung glaubt. So kann es geschehen, daß auch ein Religiöser zum
Verbrecher wird. Nur kommt das Verbrechen wiederum auf Rechnung eiuer
unvollkommnen. einseitigen Religiosität, einer Gcfühlsreligivsität,.während die
Religion den ganzen Menschen durchdringen und ebenso den Willen wie das
Gefühl und die Phantasie beherrschen soll. Der Unterschied ist nnr der, daß
es in dem erstgenannten Fall der Religion an Erkenntnis, im zweiten Fall
an Willenskraft gebricht. Weil sie aber in beiden Fällen unvollkommen ist,
schließt sie das Verbrechen nicht aus.

Gleich wichtig ist die religiöse Erziehung der Jugend durch die Schule.
Aber much diese läßt vielfach zu wünschen übrig, nur daß die Schule meist in
entgegengesetzter Richtung fehlgreift, d. h. die Bedeutung des Gefühls im
Religionsunterricht unterschätzt. Der Lehrer vergißt, daß es zwar nicht genügt,
auf das Gefühl des Kindes einzuwirken, die Religion aber doch zunächst im
Gefühl ihren Sitz hat und daher die Gefühlsseite des Kindes im Religions¬
unterricht nicht vernachlässigt werden darf. Das geschieht aber, wenn die
Religion mehr oder weniger zu einer Sache des Gedächtnisses gemacht wird,
und das ist leider die gewöhnliche Art des Religionsunterrichts. Das Kind
muß so und so viel Bibelsprüche lernen, wie es die Regeln der Grammatik
lernt. Es muß die zehn Gebote, das Vaterunser, die Eigenschaften Gottes,
die Unterschiede in der Abendmahlslehre und hundert andre Dinge seinem Ge¬
dächtnis einprägen, wie es die Geschichtszahlen auswendig lernt. Gewiß hat
der Religionslehrer die Pflicht, sich auch die Förderung des religiösen Wissens
der ihm anvertrauten Jngend angelegen sein zu lassen, da auch der Religions¬
unterricht Unterricht ist und jede Religionsgemeinschaft von ihren Gliedern
ein gewisses Maß von Kenntnissen verlangen darf. Aber der Fehler ist, daß
viele Lehrer, selbst ohne religiöse Wärme, damit genug gethan zu haben glauben


Religion und Verbrechen

Das andre, was zugestanden werden muß, ist, daß, eben weil die religiöse
Anlage des Menschen gepflegt und ausgebildet sein will, auch innerhalb einer
höhern Neligionsstufe, z. B. des Christentums, und unabhängig vom Be¬
kenntnis alles auf die Erziehung ankommen wird, die Eltern ihren Kindern
in religiöser Hinsicht angedeihen lassen. Es bedarf keiner Bemerkung, wie
unverständig oft diese Erziehung ist, wenn überhaupt bei dem Mangel an
religiösen Interesse» in vielen Familien von einer solchen die Rede sein kann.
Wie häufig wird nur das religiöse Gefühl des Kindes geweckt, während die
Hauptaufgabe wäre, den Willen in den Dienst der Religion zu stellen! Und
wie leicht entsteht dann jene Gefühlsreligiosität, die in frommen Gefühlen
schwelgt, ohne daß das Thun den frommen Gefühlen entspräche! Ja wie groß
ist die Gefahr, daß der Gefühlsselige im entscheidenden Augenblick der Ver¬
suchung, die an ihn herantritt, unterliegt und gegen Pflicht und Gewissen
handelt, vielleicht selbst vor dein Verbrechen nicht zurückschreckt! Bei schwachen
Naturen ist der Schritt zum Verbrechen nicht so weit, wie eine oberflächliche
Beurteilung glaubt. So kann es geschehen, daß auch ein Religiöser zum
Verbrecher wird. Nur kommt das Verbrechen wiederum auf Rechnung eiuer
unvollkommnen. einseitigen Religiosität, einer Gcfühlsreligivsität,.während die
Religion den ganzen Menschen durchdringen und ebenso den Willen wie das
Gefühl und die Phantasie beherrschen soll. Der Unterschied ist nnr der, daß
es in dem erstgenannten Fall der Religion an Erkenntnis, im zweiten Fall
an Willenskraft gebricht. Weil sie aber in beiden Fällen unvollkommen ist,
schließt sie das Verbrechen nicht aus.

Gleich wichtig ist die religiöse Erziehung der Jugend durch die Schule.
Aber much diese läßt vielfach zu wünschen übrig, nur daß die Schule meist in
entgegengesetzter Richtung fehlgreift, d. h. die Bedeutung des Gefühls im
Religionsunterricht unterschätzt. Der Lehrer vergißt, daß es zwar nicht genügt,
auf das Gefühl des Kindes einzuwirken, die Religion aber doch zunächst im
Gefühl ihren Sitz hat und daher die Gefühlsseite des Kindes im Religions¬
unterricht nicht vernachlässigt werden darf. Das geschieht aber, wenn die
Religion mehr oder weniger zu einer Sache des Gedächtnisses gemacht wird,
und das ist leider die gewöhnliche Art des Religionsunterrichts. Das Kind
muß so und so viel Bibelsprüche lernen, wie es die Regeln der Grammatik
lernt. Es muß die zehn Gebote, das Vaterunser, die Eigenschaften Gottes,
die Unterschiede in der Abendmahlslehre und hundert andre Dinge seinem Ge¬
dächtnis einprägen, wie es die Geschichtszahlen auswendig lernt. Gewiß hat
der Religionslehrer die Pflicht, sich auch die Förderung des religiösen Wissens
der ihm anvertrauten Jngend angelegen sein zu lassen, da auch der Religions¬
unterricht Unterricht ist und jede Religionsgemeinschaft von ihren Gliedern
ein gewisses Maß von Kenntnissen verlangen darf. Aber der Fehler ist, daß
viele Lehrer, selbst ohne religiöse Wärme, damit genug gethan zu haben glauben


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[0551] Religion und Verbrechen Das andre, was zugestanden werden muß, ist, daß, eben weil die religiöse Anlage des Menschen gepflegt und ausgebildet sein will, auch innerhalb einer höhern Neligionsstufe, z. B. des Christentums, und unabhängig vom Be¬ kenntnis alles auf die Erziehung ankommen wird, die Eltern ihren Kindern in religiöser Hinsicht angedeihen lassen. Es bedarf keiner Bemerkung, wie unverständig oft diese Erziehung ist, wenn überhaupt bei dem Mangel an religiösen Interesse» in vielen Familien von einer solchen die Rede sein kann. Wie häufig wird nur das religiöse Gefühl des Kindes geweckt, während die Hauptaufgabe wäre, den Willen in den Dienst der Religion zu stellen! Und wie leicht entsteht dann jene Gefühlsreligiosität, die in frommen Gefühlen schwelgt, ohne daß das Thun den frommen Gefühlen entspräche! Ja wie groß ist die Gefahr, daß der Gefühlsselige im entscheidenden Augenblick der Ver¬ suchung, die an ihn herantritt, unterliegt und gegen Pflicht und Gewissen handelt, vielleicht selbst vor dein Verbrechen nicht zurückschreckt! Bei schwachen Naturen ist der Schritt zum Verbrechen nicht so weit, wie eine oberflächliche Beurteilung glaubt. So kann es geschehen, daß auch ein Religiöser zum Verbrecher wird. Nur kommt das Verbrechen wiederum auf Rechnung eiuer unvollkommnen. einseitigen Religiosität, einer Gcfühlsreligivsität,.während die Religion den ganzen Menschen durchdringen und ebenso den Willen wie das Gefühl und die Phantasie beherrschen soll. Der Unterschied ist nnr der, daß es in dem erstgenannten Fall der Religion an Erkenntnis, im zweiten Fall an Willenskraft gebricht. Weil sie aber in beiden Fällen unvollkommen ist, schließt sie das Verbrechen nicht aus. Gleich wichtig ist die religiöse Erziehung der Jugend durch die Schule. Aber much diese läßt vielfach zu wünschen übrig, nur daß die Schule meist in entgegengesetzter Richtung fehlgreift, d. h. die Bedeutung des Gefühls im Religionsunterricht unterschätzt. Der Lehrer vergißt, daß es zwar nicht genügt, auf das Gefühl des Kindes einzuwirken, die Religion aber doch zunächst im Gefühl ihren Sitz hat und daher die Gefühlsseite des Kindes im Religions¬ unterricht nicht vernachlässigt werden darf. Das geschieht aber, wenn die Religion mehr oder weniger zu einer Sache des Gedächtnisses gemacht wird, und das ist leider die gewöhnliche Art des Religionsunterrichts. Das Kind muß so und so viel Bibelsprüche lernen, wie es die Regeln der Grammatik lernt. Es muß die zehn Gebote, das Vaterunser, die Eigenschaften Gottes, die Unterschiede in der Abendmahlslehre und hundert andre Dinge seinem Ge¬ dächtnis einprägen, wie es die Geschichtszahlen auswendig lernt. Gewiß hat der Religionslehrer die Pflicht, sich auch die Förderung des religiösen Wissens der ihm anvertrauten Jngend angelegen sein zu lassen, da auch der Religions¬ unterricht Unterricht ist und jede Religionsgemeinschaft von ihren Gliedern ein gewisses Maß von Kenntnissen verlangen darf. Aber der Fehler ist, daß viele Lehrer, selbst ohne religiöse Wärme, damit genug gethan zu haben glauben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/551>, abgerufen am 01.09.2024.